Eine erste, vorläufige Bilanz der Interventionistischen Linken
Demo: Grenzenlose Solidarität
 

Sagen wir zuerst das Allerwichtigste: Hamburg befand sich nicht nur eine Woche im polizeilichen Ausnahmezustand, der uns eine Warnung sein sollte. Nein, ebenso wichtig: Zehntausende haben ihm getrotzt. Zehntausende haben keine Angst gehabt oder sind trotz ihrer Angst auf der Straße gewesen. Jede Demonstration, jedes Cornern und jedes aufgebaute Zelt stand unter der permanenten und allgegenwärtigen Drohung polizeilicher Gewalt. Niemand war vor ihr sicher. Das ist der Rahmen, in dem jede einzelne Aktion und jede Teilnehmer_innenzahl zu sehen ist. Dieser Mut und dieser Ungehorsam – von alt bis jung, von friedlich bis militant, von politisch bis kulturell – bleiben. Dieses Zeichen wird auch von unseren Freund_innen in Brasilien, Griechenland oder Südafrika verstanden werden. Egal was die Presse schreibt, egal was die Umfragen sagen. Das Kalkül, mit Repression und Diffamierung die Linke isolieren zu können, ist auf der Straße phänomenal gescheitert und hat sich ins Gegenteil verkehrt. Mit ein paar Linken wären Olaf Scholz und seine Einheiten vielleicht fertig geworden – nicht aber damit, dass sich große Teile der Bevölkerung solidarisierten. Unter Einsatz ihrer Körper. Auf der Straße. Massenhaft und ungehorsam in allen erdenklichen Formen und Farben.

Gipfel der 20, Gipfel der Vielen
Reden wir kurz über ihren Gipfel: Angela Merkel ist ihre G20-Show gründlich misslungen. Konkrete Ergebnisse des mindestens 400 Millionen teuren Gipfels, für den eine Millionenstadt über eine ganze Woche hinweg in den Ausnahmezustand versetzt wurde? Fehlanzeige! Das Versprechen vom „Festival der Demokratie“ oder dem Gipfel fast ohne Beeinträchtigungen? Gebrochen! Der Versuch, mit einem riesigen Polizeiaufmarsch und rigoroser Verbotspolitik die Proteste fern und klein zu halten? Gescheitert. Desaster ist ein oft gebrauchter Begriff der bürgerlichen Presse hierfür. Olaf Scholz und sein Innensenator sind blamiert bis auf die Knochen. Gipfeltreffen dieser Größenordnung in einer Großstadt in Westeuropa? Auf Jahre hinaus undenkbar. Die ganze Perspektivlosigkeit und Traurigkeit des globalen Kapitalismus, der keinerlei Zukunft mehr verspricht, wurde in ihrem hohlen Gipfeltheater deutlich. Es ist daher nicht nur der Riot der Freitagnacht, der Politik und Medien jetzt so aufheulen lässt, sondern auch ihre Niederlage auf der Straße. Eine Niederlage, von der sie nicht zulassen können, dass sie als unser Sieg erscheint.

Nun zu unserem Gipfel: Wir wollten das Spektakel der Macht nicht nur stören, sondern noch viel mehr. Wir wollten einen Aufstand der Hoffnung, die Alternativlosigkeit durchbrechen und zeigen, dass Widerstand und grundsätzlicher Widerspruch von links kommen. Dass sich der reale Konflikt um und in Hamburg tatsächlich als ein Widerstand gegen den Ausnahmezustand, als ein Konflikt um die Demokratie, als ein Kampf um das Recht auf die Stadt abspielen würde – das war natürlich so nicht geplant, aber es hat der Sache selbst entsprochen. Das alte Motto der Globalisierungsbewegung „Global denken, lokal handeln“ hat in Hamburg eine interessante und neue Wendung bekommen.

Eine Woche Ungehorsam
Die Woche des Aufbegehrens begann mit der Einschüchterung und der Drohung: Wir sollten nirgendwo sein. Nirgendwo schlafen, nirgendwo essen und auf 38 Quadratkilometer keine politischen Subjekte sein. Unsere Orte zum Schlafen und Versammeln wurden brutal schikaniert und geräumt. Die Polizei putschte gegen die Justiz. Ihre Besatzungsarmee militarisierte die Stadt. Doch am Ende waren die Vielen überall und sie hatten die Angst verloren.

Das ist vor allem der überwältigenden Solidarität in Hamburg zu verdanken. Menschen teilten ihre Wohnungen. In Hinterhöfen wurden Zelte aufgeschlagen. Mehrere Kirchen in St. Pauli und Altona öffneten ihre Türen und es entstanden Camps um sie herum. Das Schauspielhaus ließ G20-Gegner_innen zum Schlafen und Essen hinein, ebenso der FC St. Pauli. Sie wollten uns auseinandertreiben, uns trennen und spalten, aber das Gegenteil ist geschehen: Das Band der Freundschaft und der Solidarität zwischen ganz unterschiedlichen Menschen und Spektren wurde immer stärker – und es wird die Tage des Protests und des Widerstandes überdauern.

3 Tage wach
Die Wende von der Einschüchterung und Ohnmacht begann mit dem massenhaften Cornern am Dienstag und dem Wasserwerfer-Angriff der Polizei am Arrivati-Park. Die Leute wichen zwar kurz zurück, aber sie ließen sich nicht mehr zerstreuen. Die Angst wich langsam dem Trotz und dem Selbstbewusstsein. Die Polizei wollte die Stadt und ihre Plätze besetzen. Die starke Antwort war der Demo-Rave von Alles Allen, mehr als 20.000 strömten zusammen und tanzten gegen G20. Damit war der Damm der Ohnmacht gebrochen.

Am Donnerstag dann der maßlos brutale, unprovozierte Angriff der Polizei auf Welcome to Hell. Allen war klar, dass Senat und Polizei sich schon vorher entschlossen hatten, die genehmigte Demonstration nicht laufen zu lassen. Und trotzdem, trotz der Prügel, trotz des massiven Einsatzes von Reizgas, trotz einer Polizeibrutalität, die an dieser Stelle hätte tödlich enden können: Die Demo sammelte sich erneut, Menschen kamen hinzu, solidarisierten sich und lief dann doch. „Das ist unsere Stadt“ war eine Parole, die von nun an der Polizei immer wieder entgegenschallte.

Block G20
Die Rebellion der Hoffnung fand statt, ein solidarisches und mutiges Aufbegehren der Vielen. Dieser G20-Gipfel konnte nicht tagen, ohne dass wir einen spürbaren und wahrnehmbaren Unterschied machten. Die „Blaue Zone“ bestand nur in der Fantasie der Gipfelstrategen, praktisch hatte sie am Tag der Blockaden, dem Freitag, keine Bedeutung.

Die Aktionen von BlockG20 begannen mit der kollektiven Weigerung, die Demonstrationsverbotszone anzuerkennen. Von allen Seiten drangen wir bis auf die Protokollstrecken vor. Wir wurden angegriffen, gestoppt und geschlagen. Doch wir standen wieder auf, sammelten uns neu und machten weiter. Und es gelang tatsächlich, den Ablauf des Gipfels durcheinanderzubringen: Donald Trump kam verspätet, Melania Trump konnte das Senatsgästehaus nicht verlassen, mehrere Delegationen drehten an Blockaden um, eine Veranstaltung mit Finanzminister Schäuble wurde abgesagt, das Konzert in der Elbphilharmonie begann mit großer Verzögerung.
Entscheidend dafür war gute Planung und Vorbereitung in den Aktionstrainings ebenso wie die ungehorsame, mutige Spontanität von Vielen. Die Farben der Finger füllten die Straßen, sie flossen, fluteten und verstopften. Und sie verselbständigten sich, wurden im Laufe des Tages von einer organisierten Blockade der Route zu einer spontanen Besetzung der Stadt durch die Menge. Wir haben das Staunen wiederentdeckt, darüber wie unwiderstehlich und unaufhaltsam der Geist des Widerstandes durch die Stadt zog. Hamburger_innen, angereiste Aktivist_innen, Neu-Politisierte und allen voran die Jugend boten der Arroganz der Macht die Stirn. Jetzt erst Recht.

Grenzenlose Solidarität
Am Ende traten gezählte 76.000 Menschen gegen eine Welt der Angst ein. Sie waren dem gemeinsamen Aufruf zur Demonstration gefolgt. Die parallele Regierungsdemonstration von SPD und Grünen wurde zur peinlichen Marginalie. Die vielen Demonstrant_innen kamen, obwohl ihnen Angst gemacht werden sollte, obwohl ihnen von Medien und Inlandsgeheimdienst erzählt wurde, wie viele gefährliche Linksextremisten mitdemonstrieren würden. Sie kamen trotzdem, und sie kamen deswegen. Gemeinsam traten wir ein für Grenzenlose Solidarität, gegen die Welt der G20 und ihren Kapitalismus, für ein besseres Leben.

„Ganz Hamburg …“
Ja, zu den Bildern des Widerstands gehören auch jene, bei denen Menschen der Kragen geplatzt ist, bei denen sie sich gewehrt haben – und bei denen diese Gegenwehr umschlug in Aktionen, die sich nicht mehr gegen den Gipfel oder die Staatsmacht, sondern auch gegen Anwohner_innen und Geschäfte richtete. Es waren nicht unsere Aktionen. Die IL stand und steht für den Alternativgipfel, für Block G20 und für die Großdemonstration. Hier haben wir gesagt, was wir tun – und getan, was wir gesagt haben.

Aber wir können und wollen die Feuer der Freitagnacht nicht aus dem Ausnahmezustand lösen, in dem sie stattfanden. Wenn die Polizei über Tage hinweg Menschen drangsaliert, schlägt und verletzt, sich wie eine Besatzungsarmee aufführt, die von Deeskalation noch nie etwas gehört zu haben scheint, dann bleibt irgendwann die spontane Antwort nicht aus.
Wir haben schon vorher gesagt, dass wir uns nicht distanzieren werden und dass wir nicht vergessen werden, auf welcher Seite wir stehen. Wir stimmen nicht in den Chor derer ein, die jetzt von „Straftätern“ reden und die Mischung aus organisierten Militanten und zornigen Jugendlichen in die Nähe von Neonazis rücken. Die Unterbrechung und Zurückweisung ihrer Ordnung, die in den Aktionen lag, auch wenn wir sie in den Formen und den Zielen vielfach falsch finden, hat unser Verständnis.
Soweit die Aktionen von organisierten Gruppen ausgingen, finden wir es problematisch, dass sie dafür keine politische Verantwortung übernehmen, sondern es anderen politischen Spektren überlassen, mit, für und über sie zu reden. Über das politische Konzept des Insurrektionalismus wird kritisch zu reden sein, das zwar den Hunger nach Rebellion bedient, aber von dem eben keine Hoffnung und keine Solidarität ausgeht.

Schanze & Co
Auf unserer Seite, da stehen eben auch viele Anwohner_innen auf St. Pauli, im Schanzenviertel und in Altona. Nicht wenige von uns leben selbst dort. Ohne sie, ohne ihre praktische Solidarität, wären die Tage der Gipfelproteste nicht möglich gewesen. Wenn sie angegriffen und bedroht werden, wenn sich Aktionen plötzlich nicht mehr gegen den Gipfel, sondern auch gegen unsere Freund_innen im Stadtteil richten, stehen wir an ihrer Seite.

Wir sind weiter eine IL, die im Stadtteil lebt. Wir sind Teil dieser Stadt und dieser Viertel, Teil der Recht-Auf-Stadt-Bewegung. Wir werden den Dialog führen und zwar mit allen, die auf unserer Seite sind. Mit denjenigen, die das gut fanden und denjenigen, die darin kein politisches Handeln erkennen können. Wir wollen zuhören und lernen, da wir als Linke die sozialen Realitäten ja nicht einfach wegreden können, sondern uns in ihnen bewegen.

Die Tage danach
Und noch ein klares Wort zur Solidarität: Wir stehen gegen alle medialen Angriffe und Räumungsdrohungen fest an der Seite der Roten Flora, die das aus ihrer Sicht Notwendige zum Freitags-Riot gesagt hat. Wir sind ebenso solidarisch mit den G20-Entern-Gruppen und allen anderen, die jetzt in den Fokus der staatlichen Repression geraten. Und wir werden für alle einstehen, die noch im Knast sitzen oder von Repression betroffen sind. Ihr seid nicht alleine!

Zugleich verabscheuen wir die verlogene Doppelmoral von Teilen der bürgerlichen und politischen Klasse. Sie brauchen die Bilder brennender Autos und eingeschlagener Scheiben, um die Bilder der Ertrinkenden im Mittelmeer, der Opfer ihrer Kriege oder der Obdachlosen, die unter den Schaufensterscheiben ihrer Lieblingsgeschäfte schlafen, aus ihrem Kopf bekommen zu können. Wie dünn der zivilisatorische Lack ist, unter dem bei angeblich liberalen Menschen der Hass auf jede Infragestellung der Ordnung und polizeistaatliche Bestrafungsfantasien verborgen sind, erschreckt uns. Zu reden sein wird stattdessen über die maßlose Polizeigewalt dieser Tage, über die Legitimierung des Ausnahmezustands und darüber, wie wir hiergegen breite, solidarische Gegenwehr organisieren können.
Wir können nicht verstehen, wie in einem Land, wo 10 Jahre vergehen konnten, bis ein mordendes rechtes Terrornetzwerk überhaupt erkannt wurde und wo täglich Geflüchtete angegriffen werden, gerade einmal ein Tag vergehen muss, bis viele von linkem „Terror“ sprechen.

Wir sehen uns …
Für die Zukunft werden wir sorgfältig auswerten, welche Aktionsformen und politischen Strategien unter den Bedingungen einer polizeilichen Bürgerkriegsübung im urbanen Raum angemessen sind. Dazu und zu anderen angesprochenen grundsätzlicheren Fragen werden wir uns zu gegebener Zeit nach gründlicher Diskussion äußern.

Es bleibt der Rückblick auf eine ermutigende Gipfelwoche mit einer Vielfalt von Aktionen und Widerstandsformen, die zehntausende mobilisiert und ermutigt hat, von autonomer Szene bis zu den Gewerkschaften, die sich in der Ablehnung des G20, des Gipfeltreffens und seiner Effekte in Hamburg einig waren. Hamburg war die rebellische Stadt, die diesen Protest lebendig gemacht hat. Wir haben Mut und Vertrauen gefasst, in uns selbst und in die Bündnispartner_innen, die mit uns standen. Die Tage von Hamburg gingen tiefer als die Meinungsumfragen und medialen Stimmungshochs. Sie werden noch lebendig sein, wenn niemand mehr weiß, wer eigentlich Olaf Scholz war. Sie tragen uns in die Kämpfe, die noch vor uns liegen, bis endlich alles ganz anders wird.

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Die G20 Beschlüsse zu Afrika sind neo-kolonial und paternalistisch. Sie verschärfen eher die Probleme noch.

Von Robert Kappel, Helmut Reisen |

 

Die aufgewühlten Tage in Hamburg sind vorbei und es ist die Zeit zu fragen, was im Sieb bleibt. In den brisanten Diskussionen der G20 um eine geeinte Klimapolitik, einen Kompromiss in der Handelspolitik und verbesserte Maßnahmen im Kampf gegen den Terror verschwand schließlich die Agenda der G20 für einen Compact with Africa (CWA) fast vollständig. Bezeichnend für das selbst-referentielle System der G20 und deren Agenden, die sich eher um Finanzen und Handel als um die großen Herausforderungen des afrikanischen Kontinents drehen. Mal wieder eine weitgehend verpasste Chance, die so schnell nicht wieder kommen wird. Nicht zuletzt ist dies auf das vollkommen unempathische Verhalten der USA, der EU, Japans, Indiens und letztendlich auch Chinas zurückzuführen. So bleibt am Ende der Eindruck: Der Club der Reichen kümmert sich nur randständig um Unterentwicklung und Integration der afrikanischen Länder in die Weltwirtschaft.

 

Der CWA, der im Vorwege von den G20 Finanzministern abgestimmt und nach Fertigstellung auch mit einigen afrikanischen Ländern beraten wurde, fand die Zustimmung der G20. Der CWA verdient aber seinen Titel nicht wirklich. Er ist aus zwei Gründen kein Vertrag mit Afrika. Zunächst hat das einzige afrikanische G20-Mitgliedsland Südafrika die anderen afrikanischen Länder nicht vertreten, die Afrikanische Union war ein nur spät geladener Gast und an der Formulierung des CWA waren afrikanische Länder nicht beteiligt. Sie waren auf der Bühne als Statisten kaum erkennbar. Und dann: der CWA ist ein Dokument, das die Finanzierung von großen Infrastrukturprojekten mit Auslandsdirektinvestitionen verbindet, in dem die afrikanische Interessen nicht wirklich zum Ausdruck kommen.

 

Die Finanzminister der G20 dominierten. Sie fragen sich vor allem, wie sie das Kapital lockermachen können, das gebraucht wird, um Großprojekte zu finanzieren. Es geht um enorme Summen: Man schätzt, dass jährlich 100 Milliarden Dollar investiert werden müssten, und zwar zehn bis 15 Jahre lang, damit die Infrastruktur auf dem afrikanischen Kontinent ungefähr auf den Stand von Südostasien kommt. Nur um die wesentlichen Dinge auszubauen, also Elektrizität, Straßen, Wasserverbindungen, das urbane Transportsystem und den Transport auf dem Land, Häfen und Flughäfen.

 

Weil öffentliche Entwicklungszusammenarbeit das nicht stemmen kann, sucht man nun private Investoren, die ihr Geld langfristig anlegen möchten: Pensionsfonds zum Beispiel und Lebensversicherer. Diese aber werden nur in Afrika investieren, wenn sie eine bestimmte Rendite vergleichsweise sicher in Aussicht haben. In den armen Ländern können sie diese nicht erwarten, also müssen Subventionen und Absicherungen her. Die Dokumente des CWA zeigen, dass den Investoren eine Verzinsung von 4 bis 4,5 Prozent garantiert werden soll. In einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zum CWA vom Mai 2017 haben die Autoren die wesentlichen Bausteine analysiert und kritisiert. Das Ergebnis fällt nicht gerade positiv aus. Zwar ist das CWA Konzept durchaus konsistent, es argumentiert gradlinig, enthält einige wichtige Kernaussagen zur Effizienz, zu Management von Großprojekten und zu einer möglichen Verschuldung, aber letztendlich ist CWA überraschenderweise eine Neuauflage von Big Push (der „große Sprung“) – das heißt über Großinvestitionen in die Infrastruktur kann Afrika endlich den Aufstieg schaffen. Von diesem Sprung war schön öfter in Afrika die Rede. Und der CWA ist letztendlich eine Neufassung von Stabilisierungs- und Strukturanpassungsmaßnahmen. Die weitgehend belastenden Strukturanpassungsprogramme der 1990er Jahre lassen grüßen.

 

Der makroökonomische Rahmen ist vom neoliberalen Washington-Konsensus geprägt, den man bereits lange überwunden glaubte.

 

Im Mittelpunkt des CWA stehen eine Reihe von Finanzierungsinstrumenten, die privates Kapital hebeln oder zur Risikoabsicherung beitragen. Die Idee klingt gut, ist aber nicht neu. Und sie verharmlost die potenziellen Nebenwirkungen und Barrieren, die einer privaten Kofinanzierung gerade dort entgegenstehen, wo in Zukunft die Armut bleibt und der größte Migrationsdruck zu befürchten ist: in Afrikas Sahelzone und in den armen und Krisen- und Konfliktländern.

 

Die Blaupause für den Compact kam vom Währungsfonds, der Weltbank und der Afrikanischen Entwicklungsbank. Das Bundesfinanzministerium hat sein ganzes Gewicht, auch das des Ministers, hinter diese Blaupause geworfen. Da erstaunt es nicht, dass der Compact unter ideologischer Schlagseite leidet:

 

Der makroökonomische Rahmen ist vom neoliberalen Washington-Konsensus geprägt, den man bereits lange überwunden glaubte: Fiskaldisziplin, Kapitalverkehrsöffnung, Privatisierung und Deregulierung. Da ist kein Platz für differenzierte Empfehlungen, welche die spezifischen Besonderheiten Afrikas berücksichtigen. Ob Schwellenland oder konfliktgeprägtes Armutshaus, Rohstoffausfuhr-  oder  Einfuhrland; Küsten- oder Binnenstaat; West- oder Ostafrika; überschuldet oder nicht: Es werden keine Unterschiede gemacht.

 

Der CWA ist geprägt vom angelsächsischen Finanzmodell, dessen Achse Anleihen und Aktien sind. Im Gegensatz dazu finanzierten Ostasien und Kontinentaleuropa ihr erfolgreiches Entwicklungsmodell durch zurückbehaltene Unternehmensgewinne, durch Unternehmenskredite der Geschäftsbanken und für öffentliche Investitionen verwandte Steuern und Zwangsabgaben. Davon keine Spur im Compact.

 

Die Entwicklungsrolle des öffentlichen Sektors wird weitgehend ignoriert; das Heil soll von den privaten Financiers kommen. Die Bedeutung nationaler Entwicklungsbanken für den Mittelstand, staatlicher Pensionskassen und ruraler Kreditgenossenschaften zur Bekämpfung ländlicher Armut finden keine Erwähnung.

 

Das Ganze nur ist ein Stück(werk). Eine Art Schrotflinten-Ansatz. Man pumpt Geld rein, fordert Managementreformen ein und dann soll ein sich selbst entwickelnder Prozess in Gang kommen.

 

Ignoriert werden im CWA auch die Verbindungen zwischen der Entwicklung der Infrastruktur und der Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft. Hier mangelt es einem ausgearbeiteten Konzept für die industrielle Entwicklung, für die Modernisierung der Landwirtschaft und der dafür erforderlichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Es mangelt vor allem an einer Kenntnis der unterschiedlichen Entwicklungen nach Mittel- und Niedrigeinkommensländern, die von sehr unterschiedlichen Ausgangslagen der Klein- und Mittelbetriebe aus agieren müssen. Und noch etwas wird ignoriert: welche Dynamik kann Industrieentwicklung in urbanen Zentren nehmen und wie können die Verbindungen zum agrarischen Sektor organisiert werden? Das Ganze nur ist ein Stück(werk). Eine Art Schrotflinten-Ansatz. Man pumpt Geld rein, fordert Managementreformen ein und dann soll der Aufschwung durch die Infrastrukturinvestitionen wie ein sich selbst entwickelnder Prozess in Gang kommen. Welch‘ eine Illusion.

 

Ausgeklammert werden in dem CWA auch die Fragen von Standards (Arbeitsnormen, beschäftigungswirksame Investitionen, Umwelt) und die Rolle der Ausbildung, um Wirtschaftsdynamiken hervorzurufen. Gerade hier hätte die deutsche Seite eine Menge einzubringen, seien es die EZ-Organisationen und das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, das besonders viel Wert auf berufliche Bildung legt.

 

So diktierten die G20-Finanzminister die Agenda und die Bundesregierung vergab sich die Chance, die Erfahrungen der afrikanischen Länder, ihre Strategiepapiere, ihre Expertise und ihre wirtschaftspolitischen Konzepte mit in den Diskurs einzubringen. Und eine zweite Chance wurde vertan. Deutschland hätte auf dem Gipfel ein neues Kooperationsmodell mit Afrika vorstellen und aktiv dafür werben können. Das wäre durchaus leicht und von afrikanischen Staaten wünschbar gewesen. Viele afrikanische Regierungen waren in den letzten Monaten in Berlin, haben mit verschiedenen Ministerien, mit der Zivilgesellschaft, Forschungseinrichtungen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden und den Parteien im Bundestag beraten, wie ein neues Modell der Zusammenarbeit geschmiedet werden kann. Zahlreiche auf einzelne Themen zugeschnittene Foren haben Vorschläge unterbreitet. Und die verschiedenen deutschen Ministerien legten ebenfalls – leider nicht gut koordinierte – Pläne vor. Dazu gehören beispielsweise der Marshallplan mit Afrika des Bundesministeriums für Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ), auch ein Dokument, das nicht mit den afrikanischen Regierungen beraten wurde. Dennoch hätte dieser Plan eine Rolle auf dem Treffen der führenden Wirtschaftsnationen spielen können, denn er enthält zahlreiche gut durchdachte konzeptionelle Überlegungen zur Armutsbekämpfung. Auch die Überlegungen von  „Pro!Afrika“ des Bundeswirtschaftsministeriums, und schließlich noch im Juni 2017 „Wirtschaftliche Entwicklung Afrikas – Herausforderungen und Optionen“ der Bundesregierung hätten in den Verhandlungsprozess eingebracht werden können. Es gab auch genügend Vorlauf, um gemeinsam mit den afrikanischen Institutionen neue Ansätze zur Industrieentwicklung oder zur Finanzierung von Investitionen zu präsentieren. Armuts- und Klimakatastrophen hätten thematisiert und berücksichtigt werden müssen, um einer nachhaltigen und inklusiven Entwicklung in Afrika neuen Schub zu geben und damit zwischen G20 und Afrika eine Periode der post-kolonialen Kooperation in Gang zu setzen. Leider blockierten die G20 diese Öffnung und deutsche Ideen, die näher an den Problemen des afrikanischen Kontinents dran waren, kamen nicht zur Geltung. Natürlich will niemand, dass die Welt am deutschen Wesen genese, aber sich den Diktaten der Finanzminister, des IWF und der Weltbank zu unterwerfen, ist kein Ausdruck von Souveränität sondern eher von Hasenfüßigkeit.

 

Man überlasse nie den Finanzministern die Konzeption für Fragen, von denen sie in der Regel nicht viel verstehen.

 

So steht das CWA Abschlussdokument losgelöst von den brennenden Problemen Afrikas, es enthält keine Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut, der hohen Arbeitslosigkeit, der Klimakatastrophe in weiten Teilen Afrikas und der Entwicklung. Den CWA durchwehen die alten „große Sprung“-Konzepte und Finanzierungsfragen. Ein Plan für die Finanzierer und Investoren der G20 aber kein Plan für die Bewältigung der größten Probleme Afrikas. Im Gegenteil, durch den CWA werden möglicherweise zwei Effekte auftreten: die Nichtberücksichtigung der armen Länder und die weitere Marginalisierung des ländlichen und armen Afrikas. Keine guten Aussichten und ganz im Gegensatz zur Haltung der Bundesregierung. So hat die G20 einen Plan verabschiedet, der den verschiedenen Entwicklungen in Afrika nicht Rechnung trägt, die armen Länder eher noch weiter abkoppelt und aufgrund ihrer Konzeption nicht in der Lage ist, Afrikas Entwicklung zu unterstützen. Die G20 Chefs blieben, was die Kooperation mit Afrika betrifft, erstaunlich beratungsresistent und einem veralteten Modell der Steuerung der Prozesse in Afrika verhaftet, neo-kolonial und paternalistisch. Das ist eher problemverschärfend als -lösend. Dass die afrikanischen Länder dies Modell nicht länger mitmachen werden – wen wundert es.

 

So gilt es jetzt in Deutschland die Wunden zu lecken und einen Neuanfang zu wagen. Die nächste Chance bietet sich im Herbst, wenn es um die Verhandlungen zur Neuauflage des Cotonou-Abkommens geht. Hoffentlich nicht paternalistisch und mit der Schrotflinte in der Hand. Und hoffentlich pro-aktiv mit überzeugenden Ideen, wie die komplexen Handelsfragen gelöst werden können. Konsequenz: man überlasse nie den Finanzministern die Konzeption für Fragen, von denen sie in der Regel nicht viel verstehen: Entwicklung, Armutsbekämpfung, Industrialisierung, Agrarmodernisierung und Beschäftigung.

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Dankenswerter Weise hat attac einen Schnellkurs in Form einer PowerPoint-Vorlage für Informationsveranstaltungen zu grundlegenden Fakten zu den G20 vorgelegt:

http://www.attac.de/fileadmin/user_upload/Kampagnen/g20-2017/Texte/Attac_G20.pdf

.... lohnt sich ...

 

 

Vorbemerkung:
Nach der Brüsseler Entscheidung pro-CETA und dem vorläufigen "Zurückstellen" von TTIP ist auch für uns ein Abschnitt zu Ende gegangen, auch wenn der Kampf gegen die diversen Freihandels-Abkommen munter weiter gehen wird.
Das erfordert nach diesen 1 - 1,5 Jahren enger Zusammenarbeit neue Positionierungen für unsere Initiative:

1. Wir wollen auf jeden Fall als Gruppe die fruchtbare Zusammenarbeit fortsetzen - und uns nicht bestehenden Formationen anschliessen. Wir suchen die Zusammenarbeit mit allen Gruppen, Initiativen, Parteien und Personen, die wie wir für eine gerechte, faire und solidarische Welt streiten wollen.

2. Wir wollen uns gemäss den gemeinsam gesammelten Erfahrungen der letzten Monate inhaltlich präziser definieren und uns auf neue Vorhaben verständigen.

Wir diskutieren derzeit über grundlegende Fragen des Welthandels und über Fragen von Machtpolitik / Demokratieprinzipien. Die beiden folgenden Texte - Felber zum "Ethischen Welthandel", mein Text zur inhaltlichen Positionierung nach u.a. den Vorgaben aus  Bündnisvereinbarungen zu "Heiligendamm - sind selbstverständlich nicht abgestimmt, auch wenn es viel Zustimmung gab - hier dienen sie den interessierten Leser*innen zur ersten Orientierung über die grobe Ausrichtung unserer aktuellen Diskussionen.

hn, 05.04. 2017

"Gegen die alles dominierende Weltmarkt-Konkurrenz – Mensch und Natur vor Profit!" 

Immer mehr Menschen nehmen wahr, dass die Veränderungen und Probleme in unserer zusammenwachsenden Welt zunehmen:

  • die Schere zwischen arm und reich geht immer weiter auf - hierzulande, innerhalb Europas und weltweit
  • Millionen Menschen leiden unter Hunger  und Krieg, viele leben und arbeiten unter menschenunwürdigen Bedingungen, Kinder wachsen in Armut und Elend auf
  • Unternehmen und Konzerne schreiben Rekordgewinne und entlassen dennoch tausende Mitarbeiterinnen, Politiker und Gewerkschaften scheinen dagegen machtlos zu sein
  • Bildung, Wissen, Gesundheit, Altersvorsorge, die "öffentliche Daseinsvorsorge" werden privatisiert und damit vom Allgemeingut zum teuren Luxusobjekt
  • das Klima verändert sich in rasendem Tempo, aber gegen den Ausstoß von Treibhausgasen scheint es kein Mittel zu geben
  • um Macht- und Einfluss-Zonen, um gefragte Rohstoffe werden Kriege geführt

Diese Entwicklungen sind kein Naturgesetz, sondern die Folge politischer Entscheidungen: Entscheidungen, die wir nicht tatenlos hinnehmen!

Eine andere Welt ist möglich!

Wir verstehen uns als Teil einer weltweiten Bewegung. Wir suchen die Zusammenarbeit mit anderen kritischen Menschen in Gewerkschaften, Umweltverbänden oder Friedensorganisationen, bis hin zu kapitalismuskritischen Gruppen, Parteien und Initiativen. Hervorgegangen aus der Bewegung gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA wollen wir uns als ...............(*)  weiterhin in die gesellschaftliche Auseinandersetzung einmischen.

Wir setzen uns für eine ökologische, solidarische, gerechte und friedliche Weltordnung ein.
Der gigantische Reichtum dieser Welt muss gerecht verteilt werden.

In der herrschenden Logik ist es nur konsequent, wenn die deutsche Kanzlerin für eine marktkonforme Demokratie eintritt.

Der Glaube, der Markt könne es besser und solle dem Staat möglichst viel aus den Händen nehmen, ist trotz vieler erlebter Gegenbeweise tief in den Köpfen verankert. Die Finanzkrise von 2007/2008, die darauf folgende schwere Wirtschaftskrise und die milliardenschweren Bankenrettungen stellten die neoliberale Ideologie zwar kurzfristig in Frage – trotzdem dominiert diese weiterhin Politik, Wissenschaft und Wirtschaft.
Es herrscht die Auffassung: Gewinne sind für die (Privat-)Unternehmen da, Kosten soll die Allgemeinheit tragen.

Als Konsequenz dieser Politik konzentriert sich der gesellschaftliche Reichtum in den Händen von immer weniger Menschen – und zirkuliert in Form von Kapital auf der Jagd nach Rendite in immer schnellerem Tempo um die Welt. Längst übersteigen die Vermögensansprüche an den Finanzmärkten um ein Vielfaches das, was weltweit an Waren und Dienstleistungen erwirtschaftet werden kann. Immer hektischer suchen die Besitzenden auf den Finanzmärkten nach immer neuen Anlagemöglichkeiten. Regierungen, die mit Umwelt- oder Sozialstandards tatsächlich ernst machen wollen, wird offen mit massenhafter Kapitalflucht gedroht. Platzt die nächste Finanzblase, werden die Rettungskosten auf die Allgemeinheit abgewälzt – und das Spiel beginnt von vorne.

Eine weitere Konsequenz der neoliberalen Globalisierung ist die beschleunigte Jagd nach Rohstoffen, zu deren Sicherung reiche Industriestaaten zunehmend militärische Planungen und kriegerische Interventionen beschließen. In immer mehr Ländern führt dies zu politischer Destabilisierung und Terrorismus, was in und durch die führenden Industriestaaten wiederum zur Rechtfertigung von weiterer Aufrüstung, Militarisierung, zur Aushöhlung demokratischer Rechte und kriegerischen Interventionen benutzt wird. Es droht eine weltweite Abwärtsspirale der Zerstörung und der Entdemokratisierung.

Die Welt ist keine Ware

Wir wollen durch Informationen und Aktionen dazu anregen,  sich mit den gesellschaftlichen Hintergründen auseinanderzusetzen und sich selbsttätig einzumischen. Dabei geht es um vielfältige Alternativen und Perspektiven über die nötigen Abwehrkämpfe hinaus.

- Die internationalen Finanzmärkte und der Welthandel mit all ihren Auswirkungen stellen zentrale Themen für uns dar.
- Dazu zählen auch die Privatisierung öffentlicher Infrastruktur, eine Steuerpolitik zu Gunsten von Unternehmen und großen Vermögen sowie die unsozialen Renten- und Arbeitsmarkt"reformen".
- Wir bearbeiten grundsätzliche Fragen wie die Kritik am Wachstumsparadigma und entwickelt Visionen zu globalen sozialen Rechten.
- In Folge der heftigen Konkurrenz um die Aufteilung der Weltmärkte sind wir innergesellschaftlich mit einem wachsenden Wohlstands-Chauvinismus und der Zunahme extrem konservativer und faschistoider Bewegungen konfrontiert, der unserer Sicht einer gerechten und solidarischen Welt diametral entgegensteht.


Namensvorschläge aus meiner Sicht:
Was meiner Ansicht nach im Gruppen-Namen vorkommen sollte wären die Begriffe Gerechtigkeit, Solidarität und eine "offene Weltsicht" oder "Internationalität" (im Gegensatz zur mAn bornierten "nationalen", patriotischen oder sonstwie gearteten "Heimat"-Bevorzugung).
Als Gruppenbezeichnung finde ich einen Begriff wichtig, der Aktivität  oder das TUN hervorhebt -  eher eine Aktionsgruppe oder ein Aktionskreis oder schlicht eine Initiative, aber keine Arbeitsgruppe .....

hn, 20./21. März 2017

 

 

Um das Eigentum endlich wieder dem Gemeinwohl zu verpflichten, brauchen wir neue, klare Regeln. Ideen dafür gibt es genug. 

FR, 27.07.2016 - Der Gastbeitrag.

Von Christian Felber

 

Bis zu 15 Milliarden US-Dollar für Manipulation und Betrug. Es wäre auch billiger gegangen, wenn Volkswagen Ehrlichkeit, Transparenz, Nachhaltigkeit und andere Werte konsequent zum Unternehmensziel gemacht hätte. Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein für börsennotierte Firmen,und prinzipiell für alle juristischen Personen: Sie verdanken ihre Existenz dem demokratischen Rechtsstaat und sollten deshalb ethische Ziele verfolgen müssen.

 

„Eigentum verpflichtet“, steht im Grundgesetz, und „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen“. Jedes Unternehmen ist gemeint, egal ob in privatem, öffentlichem oder kollektivem Eigentum. Doch wie wird dieser grundgesetzliche Wille überprüft und wie, je nach Erfüllungsgrad, positiv oder negativ sanktioniert?

 

Was liegt näher, als dass Unternehmen neben der Finanzbilanz, die den Mittel-Erfolg misst, eine Gemeinwohl-Bilanz erstellen, die den Ziel- und Werte-Erfolg misst? „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl“, steht zum Beispiel in der bayerischen Verfassung. Das Ziel ist klar, doch wie wird seine Erreichung gemessen, um zu wissen, wie erfolgreich ein Unternehmen tatsächlich ist?

 

Die Gemeinwohl-Bilanz wird seit fünf Jahren entwickelt und wurde bisher von 400 Unternehmen freiwillig angewandt. Sie misst, in welchem Grad ein Unternehmen die Verfassungswerte Menschenwürde, Gerechtigkeit, Solidarität, Nachhaltigkeit, Transparenz und Mitentscheidung lebt. Je höher das Punkteergebnis (maximal 1000 Gemeinwohl-Punkte), desto niedriger, so die Idee, sollen Gewinnsteuern, Zölle und Kreditzinsen sein, und die vorbildlichen Unternehmen sollen Vorrang beim öffentlichen Einkauf oder bei Forschungsprojekten erhalten.

 

In der Folge würden ethische Unternehmen ihre Produkte und Dienstleistungen preisgünstiger anbieten können als die unehrlichere, unkooperativere, unnachhaltigere und verantwortungslosere Konkurrenz. Täuschen, Manipulieren, Tricksen, Übervorteilen, Attackieren und Fressen würde unrentabel. Biolandbau würde sich gegen Agroindustrie durchsetzen, erneuerbare Energieträger gegen fossile und nukleare Technologien, ethische Banken gegen Finanzcasino und nachhaltige Mobilitätsanbieter gegen SUV-Hersteller. Aus der kapitalistischen Marktwirtschaft, in der Kostendrücker und Profitmaximierer einen Wettbewerbsvorteil haben, würde eine ethische Marktwirtschaft, in der Unternehmen nur noch dann erfolgreich sein können, wenn sie gleichzeitig die Gesellschaft reicher machen – materiell und immateriell.

 

Bisher überwog bei Regierungen und Parlamenten die Ansicht, dass „ethisches Verhalten“ eine Sache der Freiwilligkeit sei oder nicht definiert werden könne – als würde nicht jedes einzelne Gesetz einen Wert schützen und somit ethisch wirken. Doch die bisherigen Nachhaltigkeitsberichte haben den Kapitalismus nicht einhegen können, oft verkamen sie zu Instrumenten des Greenwashings und Windowdressings. Auch deshalb beschlossen das Europäische Parlament und der Europäische Rat im Dezember 2014 eine Richtlinie über „nichtfinanzielle Berichterstattung“, die bis Ende dieses Jahres in nationales Recht umgesetzt werden muss.

 

Die nationalen Parlamente haben nun drei große Chancen, das Gemeinwohl in der Wirtschaft zu fördern, denn das Bilanzrecht liegt in ihrer Kompetenz. Sie können entscheiden, ob a) die nichtfinanziellen Berichte in den Geschäftsbericht aufgenommen werden müssen, ob sie b) von den Wirtschaftsprüfern oder anderen Zertifizierern geprüft werden müssen und c) ob sie Rechtsfolgen haben.

 

Der juristische Elfmeter für das Gemeinwohl ist aufgelegt. Doch die Lobbies versuchen, die Richtlinie im maximalen Ausmaß zu verwässern. Sie wollen erreichen, dass nur sehr große Unternehmen ab 500 Beschäftigten – warum nicht alle finanzbilanzpflichtigen Unternehmen? – einen Nachhaltigkeitsbericht verfassen und über soziale und ökologische Praktiken, Diversitäts- und Antikorruptionsmaßnahmen informieren müssen. Das ist mehr als nichts. Doch wenn diese Berichte ohne Bezug zum gesetzlichen Geschäftsbericht stehen, nicht geprüft werden und folgenlos bleiben, dann bringt die EU-Richtlinie keinen bedeutenden Fortschritt.

 

Noch besteht die Möglichkeit, sie mit Leben und Wirkung zu füllen. Der Gesetzgeber könnte entscheiden, dass die Berichte messbar und vergleichbar sein müssen und das Ethik-Bilanzergebnis auf allen Produkten, Eingangstüren, Katalogen und Webseiten aufscheinen muss. So könnten zum einen die Konsumentinnen und Konsumenten die gesamte ethische Information abrufen, zum Beispiel via QR-Code. Zum anderen könnte der Bundestag hohe ethische Leistungen mit rechtlichen Anreizen belohnen. Wenn bei der Kreditvergabe, in der öffentlichen Beschaffung und bei der Auswahl der Zulieferbetriebe stets zuerst die Frage nach der Gemeinwohl-Bilanz und deren Ergebnis gestellt wird, nimmt die Marktwirtschaft als Ganze Kurs aufs Gemeinwohl.

 

Das sich abzeichnende Scheitern der TTIP-Verhandlungen bietet eine weitere Chance: Die Erstellung einer Gemeinwohl-Bilanz könnte zur Eintrittskarte für den Ethischen EU-Binnenmarkt erklärt werden, ganz gleich, aus welchem Land die Unternehmen stammen, die Marktzugang wünschen. Je besser das Ergebnis, desto leichter der Zugang. Das wäre das Ende des globalen Lohn-, Sozial-, Umwelt- und Steuerdumpings. Aus einer solchen EU würde vermutlich niemand mehr austreten.

 

Christian Felber unterrichtet an der Wirtschaftsuniversität Wien und ist Initiator des Projekts Gemeinwohl-Ökonomie, von ihm stammt das Buch "Ethischer Welthandel. Alternativen zu TTIP, WTO & Co"  Deuticke Verlag, 224 Seiten, 18 Euro.