Matthias Martin Becker über die Krise des Kapitalismus und des gesellschaftlichen Naturverhältnisses

Christian Stache jW Ausgabe vom 09.08.2021

 

Das Buch des Wissenschaftsjournalisten Matthias Martin Becker bietet mehr, als der sprachlich etwas sperrige Untertitel verspricht. Es enthält nicht nur theoretisches Basiswissen über die kapitalistische Gesellschaftsformation und wie diese ihren Stoffwechsel mit der Natur Schritt für Schritt so sehr schädigt, dass er in der bisherigen Form nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Vielmehr diskutiert der Autor unter Rückgriff auf zahlreiche wissenschaftliche Studien und konkrete Fälle kapitalistischer Naturzerstörung sachkundig und allgemeinverständlich die Genese der Zivilisationskrise unserer Zeit, wie man ihr beikommen könnte (»ökosozialistische Wirtschaftsplanung«) und wie man gewiss bei ihrer Bewältigung scheitert (»technischer Fortschritt«, Naturbepreisung, Ökomärkte und -steuern).

Becker erfindet das Rad nicht neu. Das ist bei einer Art Handbuch für Aktivisten und Einsteiger aber auch nicht nötig. Interessierte Leser werden auf bekannte Thesen und Begriffe der jüngeren sozial-ökologischen und ökosozialistischen Debatte stoßen, die der Autor wohl dosiert einfließen lässt und in einfachen Worten erklärt. Vereinzelt zeigt er auch deren Grenzen auf. So kritisiert er etwa das politische Strategiekonzept eines »Green New Deal« für dessen politische »Beliebigkeit«, seinen »Reformismus« und die »schiefe« Analogie zum historischen »New Deal«.

Ohne zu groß ins Theoretisieren abzudriften, führt Becker zudem fachkundig in einzelne Diskussionen zwischen Sozialökologen und Ökosozialisten ein, beispielsweise über die Rolle der Arbeiterklasse im Kampf für Klimagerechtigkeit. Sein Fazit: »Ohne oder gar gegen die Arbeiterklasse ist eine Dekarbonisierung nicht machbar.« Außerdem müssten Arbeiter und Umweltaktivisten »die Arbeit ins Zentrum« ihres Kampfes rücken.

Die gegenwärtige, doppelte Krise des Kapitalismus und des gesellschaftlichen Naturverhältnisses, vor allem in Form der Klimakrise, führt Becker darauf zurück, dass das »neoliberale Wachstumsmodell« in Anschluss an das fordistische ökonomisch erschöpft ist und ökologisch den Raubbau an der Natur auf die Spitze getrieben hat. Der Autor entwickelt diese Interpretation besonders anschaulich mit Blick auf das Modell der kapitalistisch-industrialisierten Landwirtschaft, wie sie im 20. Jahrhundert in den USA entstand und von dort mitsamt der korrespondierenden »westlichen Ernährungsweise« seit den 1960er Jahren als »grüne Revolution« in die Peripherie exportiert wurde.

Bei der Lektüre stechen einzelne, zumeist sehr konzise Erörterungen von Evergreens der ökologischen Debatte heraus, denen Becker mit gesundem Menschenverstand und auf Höhe der Zeit begegnet. Zum Beispiel verteufelt er die individuelle Konsumption nicht, noch sieht er darin den Hebel für die Implementierung einer nachhaltigen Produktionsweise. Vielmehr zeigt er auf Basis wissenschaftlicher Daten und klassentheoretisch angeleitet, dass der Konsum keineswegs ökologisch bedeutungslos ist, aber der Schaden proportional zum Vermögen und Einkommen wächst.

An mehreren Stellen thematisiert der Autor auch überzeugend, wie der »bürgerliche Umweltschutz« nicht nur Pseudoaktivität zwecks »Greenwashing« ist, sondern auch der Rechten und den Umweltsündern in die Hände spielt. Denn die vorherrschende Umweltpolitik trage durch ihren Fokus auf Steuern, Lebensstiländerungen und auf Schutz der verursachenden Unternehmen statt der Beschäftigten dazu bei, dass Teile der Gesellschaft eine generell ablehnende Haltung gegenüber Umweltpolitik einnähmen. Natürlich handelt es sich bei der Ad-hoc-Ablehnung auch um einen Kurzschluss. Neoliberale Umweltpolitik ist nicht identisch mit Umweltpolitik. Aber »kaum jemand vertraut der politischen Klasse, die den Umweltschutz im Mund führt«, insbesondere wenn er »sozial ungerecht« ist.

Selbstverständlich gibt das Buch auch Anlass zu weiterführenden Diskussionen. Becker behauptet etwa: »Wir steuern auf einen chaotischen Zusammenbruch zu.« Seine Wiederbelebung der Zusammenbruchstheorie begründet er unter anderem mit guten Argumenten gegen die verschiedenen Formen eines »grünen« Kapitalismus als potentiellem neuen Akkumulationsregime. Allerdings nimmt er dabei, politisch verständlich, das Adjektiv ernst. Nachhaltig wird der Kapitalismus tatsächlich nicht. Aber dem kollektiven Interesse der Kapitalistenklasse an der Überausbeutung der Natur steht die Notwendigkeit gegenüber, die Reproduktion der Produktionsbedingungen zu gewährleisten. »Grün« wird der Kapitalismus daher eher, wie er auch die Lohnarbeit erhält, soweit es der Reproduktion des Kapitals dient – aber mit anhaltenden Katastrophen. Dass ein solcher »Kompromiss« zwischen Kapital und Natur ein neues Wachstumsmodell begründen könnte, ist zumindest nicht auszuschließen. Schließlich kommt leider etwas zu kurz, warum Becker die (zumeist staatlich geschaffenen) »Infrastrukturen« als zentralen Ansatzpunkt für den ökosozialistischen Klassenkampf bestimmt. Es wäre sicher naiv, diese zu vernachlässigen. Aber der zentrale Ort der Ausbeutung von Lohnarbeitern und der Naturdestruktion ist die ökonomische Produktion.

 

Matthias Martin Becker: Klima, Chaos, Kapital. Was über den Kapitalismus wissen sollte, wer den Planeten retten will. Papyrossa-Verlag, Köln 2021, 184 Seiten, 14,90 Euro