- Paul Michel 15. Oktober 202
Wenn nicht ein Wunder passiert, stehen uns harte Zeiten bevor. Wir sind auf dem besten Weg in eine multiple Krise. Drei Krisen sind miteinander verwoben. Der Krieg in der Ukraine, die sich zuspitzende Klimakrise und eine tiefe soziale Krise, die bisher wegen rapide steigender Preise schon den weniger vermögenden Teilen der Bevölkerung stark zusetzt und sich allen Anschein nach zu einer Rezession auswächst. Leider ist selbst in weiten Teilen der Linken kein Thema, dass der Krieg in der Ukraine als Verstärker für die beiden anderen Krisen wirkt.
Frieden ist nicht Alles, aber ohne Frieden ist Alles nichts
In der aktuellen Lage ist konsequente Friedenspolitik ein elementarer Bestandteil des Kampfes gegen die drohende Klimakatastrophe. Schon der bloße Betrieb der Kriegsmaschinerie (Bewegungen von Panzern, Lkws und Flugzeugen ist schlimm für Klima und Umwelt. Wenn im Zuge der Kämpfe Gebäude, Kriegsgerät oder gar Tanklager in Brand gesetzt werden, sind das Katastrophen für das Klima.
Der Vorrang militärischer Erwägungen vor dem Klimaschutz führt dazu, dass mittlerweile in der BRD ein Rollback in der Klimaschutzpolitik (Verstärkter Einsatz von LNG und die Verlängerung der Laufzeiten für Kohlekraftwerke) stattfindet. In der Mainstreamgesellschaft ist das kein Thema, der Protest aus den Reihen der Klimabewegung ist erschreckend schwach.
Wenn die NATO-Staaten mit Russland sich auf eine Vereinbarung zur Einstellung der Kampfhandlungen und eine Deeskalation des Konfliktes verständigen würden, würde auch ein Kompromiss in der Frage der Sanktionen und somit die Wiederaufnahme der Gaslieferungen durch Russland in den Bereich des Möglichen rücken. In diesem Fall würde es wieder möglich, jene Teile der Infrastruktur, die sich nicht kurzfristig von Gas auf regernative Energien umstellen lassen, wieder mit dem weniger „schmutzigen“ russischen Gas zu betreiben.
Die Klimafrage ins Zentrum stellen
In den letzten Monaten haben wir einen kleinen Vorgeschmack auf das bekommen, was uns erwartet, wenn wir die Klimakatastrophe nicht so schnell wie möglich aufhalten. Die nächsten paar Jahre werden ausschlaggebend dafür sein, ob die Erderwärmung auf 1,5 Grad beschränkt und das Sterben von Millionen Menschen, Arten und die Verödung ganzer Erdregionen noch verhindert werden können. Im Zentrum unserer Bemühungen muss die Verhinderung oder zumindest die deutliche Abschwächung der Klimakatastrophe stehen. Alle ergriffenen und vorgeschlagenen Maßnahmen sind daran zu messen, ob sie einen Beitrag zur Reduzierung der Treibhausgase bringen.
Die Zeit drängt – Mehr Tempo bei der Klimawende
Wir brauchen zunächst eine Reihe von Sofortmaßnahmen, die schnell umsetzbar sind. Leicht umzusetzen und mit großer Wirkung wäre beispielsweise ein allgemeines Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen, 80 km/h auf Landstraßen und 30 km/h innerorts, die Abschaffung des Dienstwagenprivilegs und die Einführung einer Kerosinsteuer. Auch autofreie Sonntage sind in diesem Zusammenhang überlegenswert.
Ökologischer Umbau und Arbeitsplätze
Angesichts des beschleunigten Klimawandels ist es dringend geboten, dass eine ganze Reihe von Produktionsbereichen, die schädliche Auswirkungen auf das Klima haben, entweder radikal umgebaut oder sogar ganz rückgebaut werden. Das betrifft gerade einige Branchen, die in der Volkswirtschaft der BRD eine herausragende Stellung einnehmen wie die Autoindustrie und wichtige Teil der Chemieindustrie (Reduktion der Kunststoff-, Düngemittel- und Pflanzengiftproduktion). Die Konsumgüterindustrie sollte auf langlebige, recyclingfähige und reparaturfähige Produkte umgestellt werden. Andere Sektoren wie das Militär, die Banken, die Werbeindustrie oder auch die Luftfahrtindustrie sind radikal zurückzubauen oder ganz zu streichen. Letztlich steht nicht nur der Kapitalismus, sondern auch die Struktur der BRD als Industriegesellschaft in der heutigen Form zur Disposition.
Mit dem Rückbau von Industriesektoren geht natürlich ein Verlust von Arbeitsplätzen in diesen Branchen einher. Trifft es also zu, dass Ökonomie und Ökologie in schroffem Widerspruch zueinander stehen? Nein, das trifft nicht zu. Denn beim notwendigen ökologischen Umbau der Industriegesellschaft und bei Fitmachung unserer Städte für die Bewältigung der sich häufenden Extremwetterlagen fällt eine Unmenge von Arbeit an – viel mehr Arbeit als durch die Stillegung nicht-nachhaltiger Produktionssektoren verloren geht.
Für die zahlenmäßig kleine ökosozialistische Linke stellt sich die Aufgabe, konkrete, für breite Bevölkerungskreise nachvollziehbare Vorschläge dazu zu entwickeln, wie diese radikale Umstrukturierung unserer Industriegesellschaft aussehen kann. Das erfordert eine detaillierte Kenntnis der Produktionsprozesse und der Produkte, die in den Fabriken hergestellt werden. Angesichts der Tatsache, dass die Linke sich weitgehend aus dem betrieblichen Sektor als Tätigkeitsfeld verabschiedet hat und deshalb bezüglich dessen, was dort abgeht, ahnungslos ist, ist die Aufgabe, die vor uns liegt, wahrlich eine „Challenge“.
Beschleunigter Umbau des Energiesektors
Beim Ausbau von erneuerbaren Energien wie Windkraft, Solarenergie oder der Nutzung der Wasserkraft in Form von Wellenkraftwerken oder Gezeitenkraftwerken gibt es ein großes Potential für neue Arbeitsplätze. Dazu kommt der notwendige Umbau beziehungsweise Ausbau des Stromnetzes. Für die Menschen, die bisher im Bereich der Erzeugung fossiler Energie tätig sind, gibt es die Möglichkeit, auf Tätigkeiten im Bereich der erneuerbaren Energie umzuschulen. Die Autoren der britischen Studie „One Million Climate Jobs“ gehen davon aus, dass durch den Umstieg auf erneuerbare Energien in Großbritannien 560.000 mehr Arbeitsplätze neu geschaffen werden als durch den Ausstieg aus den fossilen Energien verloren gehen. Wenn es im Konkreten natürlich Unterschiede zwischen der Situation in der BRD und Großbritannien gibt, so dürfte in der bevölkerungsreicheren BRD von einem ähnlichen Zusatzbedarf an Arbeitskräften auszugehen sein.
Gute Arbeit und soziales Wohlergehen durch sozialökologischen Umbau
Beispiel Autoindustrie
In dem 2022 erschienen Buch „Spurwechsel – Studien zu Mobilitätsindustrien, Beschäftigungspotenzialen und alternativer Produktion“ haben die Autoren herausgearbeitet, dass es für eine echte Mobilitätswende eine andere industrielle Produktion und vor allem unglaublich viele Arbeitskräfte braucht. Nötig wären viel mehr Busse, Straßenbahnen, Züge im Regional- und Fernverkehr, neue Leitsysteme, E-Bussysteme mit Oberleitungen, Nutzfahrzeuge von der Feuerwehr bis zur Polizei. Das muss alles hergestellt werden. Es geht nicht nur um wachsende Neubedarfe, sondern auch eine Erneuerung des Bestandes. Schließlich müssen beispielsweise alle Fahrzeuge auf klimafreundliche Antriebe umgestellt werden. Dazu gehört die Umstellung auf Digitalisierung von Netz und Betrieb. Hier besteht ein hoher Investitionsbedarf (mindestens 30 Milliarden Euro). Hinzu kommen die Reaktivierung und der Neuausbau von Strecken, der Bau von Weichen und die Erweiterung von einspurigen Strecken zu mehrspurigen Strecken, wodurch die Netzkapazität bedeutend erhöht wird und wofür viele Arbeitskräfte gebraucht werden.
Für das Szenario, das vorsieht, dass die Fahrgäste bei ÖPNV und Bahn um den Faktor 2,5 anwachsen, veranschlagt Mario Candeias, einer der Autoren der Studie, einen Mehrbedarf von 235.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen in dem Bereich Busse und Straßenbahnen. Hinzu kommt ein zusätzlicher Personalbedarf von zwischen 15.000 und 50.000 Arbeitsplätzen beim fahrenden Personal und beim Service bei Bahn und ÖPNV.
Beispiel Wohnungssektor
Die Autoren der Studie „One Million Climate Jobs“ untersuchen, wie hoch der Arbeitskräftebedarf für die ökologische Umrüstung von Wohnhäusern, Büro- und Verwaltungs- sowie gewerblich genutzten Gebäuden ist. Sie sehen für einen Zeitraum von zehn Jahren ein Potential von zusätzlichen 2.300.000 Arbeitsplätzen. Allein für das Umrüsten von Wohnhäusern und gewerblichen Gebäuden werden 2.200.000 Arbeiter*innen gebraucht. Dazu kämen 20.000 Energiegutachter*innen, 20.000 Retrofit-Designer*innen (Designen von Nachrüstungsarbeiten), Projektmanager*innen und 20.000 Support-Mitarbeitenden, die bei der Planung und Verwaltung helfen. Bei der Herstellung/Bereitstellung von Materialien für die Umrüstung der Gebäude würde Arbeit für weitere 200.000 Menschen anfallen. Da wir es im Bereich der Umrüstung von Gebäuden mit sehr komplexen Aufgaben zu tun haben, sind die Tätigkeiten entsprechend anspruchsvoll und erfordern ein hohes Maß an Qualifizierung.
Beispiel Pflege, Gesundheit, Bildung
Eine Studie der Rosa Luxemburg Stiftung sieht im Bereich Pflege, Gesundheit, Bildung ein Potenzial von bis zu vier Millionen zusätzlichen Beschäftigten. Schon allein im Kita-Bereich – von Krippen bis Horten – sind gegenüber heute gut 400.000 rechnerische Vollzeitkräfte an pädagogischem Personal mehr erforderlich, wenn zur Bedarfsabdeckung auch noch die Durchsetzung der fachlich empfohlenen Personalschlüssel hinzutritt. Einschließlich Verwaltung, Verpflegung, Reinigung, Supervision usw. liegt das Potenzial an zusätzlicher Beschäftigung noch deutlich höher. Im Bildungsbereich besteht Personalmangel von den Schulen über die Hochschulen bis zur Weiterbildung. Mit Blick auf konkrete Bedarfe, wie den Ausbau pädagogischen Ansprüchen genügender Ganztagsschulen, besseren Betreuungsverhältnissen, mehr Schulsozialarbeit und Inklusion, stellen sie einen zusätzlichen Bedarf von mehreren Hunderttausend Vollzeitstellen fest. In der Krankenhauspflege beläuft sich der Mehrbedarf auf mindestens 100.000 Vollzeitkräfte; in der Altenpflege ist er perspektivisch noch wesentlich höher. Würde bezogen auf die heute Pflegebedürftigen bei konstanter Versorgung durch pflegende Angehörige die Personalausstattung so gestärkt, dass fachliche Standards nicht nur auf dem Papier stehen, wären mehrere Hunderttausend Kräfte zusätzlich nötig. Tendenz zukünftig stark steigend. Auch im Bereich der kulturellen Dienste gibt es einen nicht unerheblichen Bedarf. Dieser bewegt sich, wenn vor allem auf die öffentliche Beschäftigung im Bereich Bibliotheken, Museen und Parks abgestellt wird, mit Blick auf Skandinavien im Bereich von 100.000 Stellen aufwärts. Eine große Rolle käme professionell geführten und zu kommunalen Begegnungsstätten ausgebauten öffentlichen Bibliotheken zu.
Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten: Tax the Rich
Die oben genannten Maßnahmen sind technisch machbar. Die Hürden für ihre Umsetzung liegen im politischen Bereich. Um das, was technisch machbar ist, Wirklichkeit werden zu lassen, bräuchte es grundlegende politische Veränderungen und tiefgreifende Umbrüche in den sozialen Strukturen in diesem Land. Klar ist, dass massive Investitionen erforderlich sind. Leider hat die Linke es bisher nicht zustande gebracht, detaillierte Studien über den Bedarf zu erstellen.
Parolen, die auf der Demonstration gegen den G7-Gipfel in München gerufen wurden, deuten an, um welche finanziellen Dimensionen es hier geht: „100 Milliarden für die Bildung“, „100 Milliarden für die Pflege“, „100 Milliarden für die erneuerbaren Energien“ oder „100 Milliarden für die Verkehrswende“. Die Kosten der notwendigen Investitionen für den ökologischen Umbau zentraler Sektoren der Gesellschaft aufzubringen, ist nur möglich, wenn ein Zugriff auf den unermesslichen Reichtum erfolgt, über den die kleine superreiche Minderheit verfügt.
Bekanntlich ist die BRD für die Superreichen ein Steuerparadies. Es gibt hier keine Vermögenssteuer und keine Erbschaftssteuer, die diesen Namen verdienen. Auf Gewinne aus Kapital und Aktien wird eine Billigsteuer erhoben. Die großen DAX-Konzerne haben ihr Vermögen in den vergangenen zwei Jahren massiv gesteigert. Oxfam spricht von „obszönen“ Krisengewinnen. Viele Milliarden Euros des Gelds der Reichen vagabundieren als Spekulationsgeld durch die internationalen Finanzmärkte auf der Suche nach der maximalen Rendite.
Zu Zeiten der Kohl-Regierung lagen der Spitzensteuersatz und die Steuern auf Unternehmensgewinne deutlich höher als heute. Wären die Steuern auf dem Niveau der Zeit der Kohl-Regierungen würde der Fiskus jährlich 45 bis 50 Milliarden Euro mehr in der Kasse haben.
Durch staatlich begünstigte Steuerhinterziehung wie die bewusste personelle Unterbesetzung der Finanzämter durch Steuerfahnder und eine Politik der gezielten Verhinderung von Betriebsprüfungen gehen nach Schätzung von monitor-Redakteuren jährlich potentiell 70 Milliarden Euro an Steuern verloren. Leider scheint Oxfam derzeit die einzige international wirklich relevante Organisation zu sein, die lautstark und konsequent eine stärkere Besteuerung von Unternehmen und hohen Vermögen verlangt. DIE LINKE hat zum Thema Steuern für Reiche viel Papier beschrieben. Aber in der täglichen politischen Arbeit spielt das Thema Umverteilung bei der Partei kaum mehr eine Rolle.
Die Eigentumsfrage stellen!
Wer ernsthaft den erforderlichen radikalen ökologischen Umbruch anstrebt, muss nicht nur massiv in die Besitzstände der Superreichen eingreifen, sondern kommt nicht darum herum, die Eigentumsfrage zu stellen, sprich maßgebliche Sektoren der Volkswirtschaft zu entprivatisieren und unter öffentliche Kontrolle zu stellen.
Erfreulicherweise ist in den letzten Wochen und Monaten eine Diskussion um Vergesellschaftung in Gang gekommen. Die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ hat ein Buch vorgelegt, in dem sie skizziert, wie das konkret vonstattengehen kann. Es hat sich eine Initiative „RWE und Co. Enteignen“ gegründet, die für die Enteignung der Stromkonzerne und die Vergesellschaftung der Energieproduktion eintritt. Anfang Oktober gibt es in Berlin eine Konferenz „Vergesellschaftung – Strategien für eine demokratische Wirtschaft“, in der die Vergesellschaftung weiterer Sektoren der Volkswirtschaft auf der Themenliste stehen.
Es ist zu hoffen, dass es in den nächsten Monaten gelingt, den Begriff Vergesellschaftung mit konkretem Inhalt zu füllen, indem eine Erdung in den Problemen unseres Alltags hergestellt wird. Das ist der Weg, wie wir für unsere Konzepte der Umgestaltung von Infrastruktur und Industrie in weiteren Bevölkerungskreisen Zuspruch gewinnen und damit wieder wirkmächtig werden können.
Paul Michel engagiert sich im Paul Netzwerk Ökosozialismus.