Ukrainer:innen auf einem zerstörten russischen Panzer am Stadtrand von Kiew im April 2022. Bild: manhhai / CC BY 2.0

Noam Chomsky sagt: Die Meinungsfilterung im Ukraine-Krieg ist extrem und schädlich. Es braucht Verhandlungen und diplomatischen Kompromiss. Das sei weiter möglich.

Das Interview führt der Politikwissenschaftler C.J. Polychroniou. Es erschien zuerst auf der US-Nachrichtenseite Truthout [1].

Sechs Monate sind seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine vergangen, doch ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Putins Strategie ging gewaltig nach hinten los, da es nicht nur nicht gelang, Kiew zu stürzen, sondern auch das westliche Bündnis wiederbelebte, während Finnland und Schweden ihre jahrzehntelange Neutralität beendeten und der Nato beitraten. Der Krieg hat außerdem eine massive humanitäre Krise ausgelöst, die Energiepreise in die Höhe getrieben und Russland zu einem Pariastaat gemacht. Vom ersten Tag an bezeichneten Sie die Invasion als verbrecherischen Akt der Aggression und verglichen sie mit dem Einmarsch der USA in den Irak und dem Einmarsch Hitlers und Stalins in Polen, auch wenn sich Russland durch die Nato-Osterweiterung bedroht fühlte. Ich vermute, dass Sie diese Ansicht immer noch vertreten. Glauben Sie, dass Putin eine Invasion nicht in Erwägung gezogen hätte, wenn er sich klar darüber gewesen wäre, dass sein militärisches Abenteuer in einem langwierigen Krieg enden würde?

Noam Chomsky ist Professor für Linguist, US-Kritiker und Aktivist. Er hat rund 150 Bücher geschrieben.

Noam Chomsky: Putins Gedanken zu lesen, ist zu einer Art Kaffeesatzleserei geworden, die sich durch die extreme Zuversicht derjenigen auszeichnet, die die spärlichen Kaffeespuren interpretieren. Ich habe einige Vermutungen, aber sie beruhen nicht auf besseren Belegen als die anderer, die wenig Substanz haben.

Ich vermute, dass der russische Geheimdienst mit der US-Regierung in der Annahme übereinstimmte, dass die Eroberung Kiews und die Einsetzung einer Marionettenregierung ein leichtes Unterfangen sein würde und nicht das Debakel, zu dem es wurde. Hätte Putin bessere Informationen über den ukrainischen Willen und die Fähigkeit zum Widerstand sowie über die Unfähigkeit des russischen Militärs gehabt, wären seine Pläne wohl anders ausgefallen.

Vielleicht hätte er dann das gemacht, was viele informierte Analysten erwartet haben und was Russland nun als Plan B zu verfolgen scheint: nämlich den Versuch zu unternehmen, die Kontrolle über die Krim und den Transitweg nach Russland zu abzusichern und den Donbas zu übernehmen.

Möglicherweise hätte Putin aufgrund besserer Geheimdienstinformationen die Klugheit besessen, auf die zaghaften Initiativen Macrons für eine Verhandlungslösung zu reagieren, die den Krieg vermieden hätten, und vielleicht sogar zu einer europäisch-russischen Annäherung nach dem Vorbild der Vorschläge von de Gaulle und Gorbatschow überzugehen. Alles, was wir wissen, ist, dass die Initiativen verächtlich abgetan wurden, was Russland teuer zu stehen gekommen ist. Stattdessen begann Putin einen mörderischen Angriffskrieg, der in der Tat mit der US-Invasion im Irak und dem Hitler-Stalin-Überfall auf Polen gleichzusetzen ist.

Dass Russland sich durch die Nato-Osterweiterung bedroht fühlte und damit gegen die eindeutigen Zusagen an Gorbatschow verstieß, hat praktisch jeder hochrangige US-Diplomat, der mit Russland vertraut war, schon dreißig Jahre lang, also lange vor Putin, betont. Um nur eines von vielen Beispielen zu nennen: 2008, als er Botschafter in Russland war und Bush II die Ukraine leichtsinnigerweise zum Nato-Beitritt einlud, warnte der heutige CIA-Direktor William Burns, dass "der Beitritt der Ukraine zur Nato für die russische Elite (nicht nur für Putin) die klarste aller roten Linien ist".

Er fügte hinzu:

Ich habe noch niemanden gefunden, der den Beitritt der Ukraine zur Nato als etwas anderes betrachtet hat als einen direkte Angriff auf russische Interessen.

Ganz allgemein bezeichnete Burns die Nato-Ausweitung nach Osteuropa bestenfalls als verfrüht und schlimmstenfalls als unnötige Provokation. Sollte die Erweiterung die Ukraine einbeziehen, so warnte Burns, könne es keinen Zweifel geben, dass Putin hart zurückschlagen würde.

Burns wiederholte damit lediglich die allgemeine Auffassung auf höchster Regierungsebene, die bis in die frühen 90er Jahre zurückreicht. Der Verteidigungsminister von Bush II, Robert Gates, erkannte, dass "der Versuch, Georgien und die Ukraine in die Nato einzubinden, wirklich zu weit ginge und ... rücksichtslos ignoriert, was die Russen als ihre eigenen lebenswichtigen nationalen Interessen betrachten."

Die Warnungen aus informierten Regierungskreisen waren eindringlich und unmissverständlich. Ab der Präsidentschaft von Bill Clinton wurden sie von Washington zurückgewiesen. Und zwar bis zum heutigen Tag.

Diese Schlussfolgerung wird durch die vor kurzem veröffentlichte, umfassende Untersuchung der Washington Post über die Hintergründe der Invasion bestätigt. In ihrer Rezension der Studie stellen George Beebe und Anatol Lieven fest, dass

die Bemühungen der Biden-Administration, den Krieg gänzlich abzuwenden, ziemlich unzureichend erscheinen. Wie Außenminister Sergej Lawrow in den Wochen vor der Invasion sagte, ist für Russland "der wesentliche Schlüssel die Garantie, dass die Nato nicht nach Osten expandiert". Im Bericht der Post wird jedoch nirgends erwähnt, dass das Weiße Haus konkrete Kompromisse hinsichtlich der künftigen Aufnahme der Ukraine in die Nato in Erwägung zog.

Vielmehr, wie das Außenministerium bereits einräumte,

unternahmen die Vereinigten Staaten keine Anstrengungen, um auf eines der von Wladimir Putin am häufigsten geäußerten wichtigsten Sicherheitsanliegen einzugehen – die mögliche Nato-Mitgliedschaft der Ukraine.

Kurzum, die Provokationen wurden bis zur letzten Minute fortgesetzt. Sie beschränkten sich nicht darauf, die Verhandlungen zu unterminieren, sondern umfassten auch die Ausweitung des Vorhabens, die Ukraine in das Militärkommando der Nato zu integrieren und sie so zu einem De-Facto-Mitglied der Nato zu machen, wie es in US-Militärzeitschriften heißt.

Russland soll härter bestraft werden als Deutschland im Versailler Vertrag

Diese Provokationsakte der USA sind vermutlich auch der Grund, dass der russische Angriff nun ständig auch als "unprovoziert" bezeichnet wird – ein Begriff, der sonst kaum oder gar keine Verwendung findet, in diesem Fall aber in intellektuellen Kreisen fast automatisch eingefügt wird. Für Psychologen dürfte es kein Problem sein, dieses merkwürdige Verhalten zu erklären.

Obwohl die Provokationen trotz der Warnungen über viele Jahre hinweg konsequent und bewusst ausgeübt wurden, rechtfertigen sie natürlich in keiner Weise Putins Rückgriff auf "das schlimmste internationale Verbrechen" der Aggression gegen ein anderes Land. Provokationen können zwar zur Erklärung eines Verbrechens beitragen, aber sie sind keine Rechtfertigung für ein solches.

Was die Bezeichnung Russlands als "Pariastaat" betrifft, so halte ich einige Einschränkungen für angebracht. In Europa und dem englischsprachigen Raum ist Russland sicherlich nun ein Pariastaat, und zwar in einem Ausmaß, das selbst erfahrene Kalte Krieger verblüfft hat. Graham Fuller, über viele Jahre hinweg eine der führenden Persönlichkeiten der US-Geheimdienste, sagte vor kurzem:

Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie eine so heftige US- Medienblitzkampagne gesehen wie die, die wir heute in Bezug auf die Ukraine erleben. Die USA setzen nicht nur ihre Interpretation der Ereignisse durch, sondern dämonisieren in großem Stil Russland als Staat, Gesellschaft und Kultur. Die Parteilichkeit ist außergewöhnlich – so etwas habe ich auch nicht erlebt, als ich während des Kalten Krieges mit russischen Angelegenheiten befasst war.

Nimmt man den Kaffeesatz wieder zur Hand, könnte man vielleicht vermuten, dass, wie bei der quasi-verordneten Bezugnahme auf die "unprovozierte" Invasion, wiederum Schuldgefühle hineinspielen.

Das ist die Haltung der USA wie auch, in unterschiedlicher Ausprägung, die ihrer engen Verbündeten. Der größte Teil der Welt steht jedoch weiterhin abseits und verurteilt die Aggression, unterhält aber normale Beziehungen zu Russland, so wie die Kritiker der amerikanisch-britischen Invasion im Irak normale Beziehungen zu den (völlig unprovozierten) Aggressoren unterhielten. Man macht sich zudem lustig über die jetzigen Proklamationen über Menschenrechte, Demokratie und "Unverletzlichkeit der Grenzen" vom Weltmeister in Sachen internationale Gewalt und Staatsstürze – Dinge, die der globale Süden aus reichlicher Erfahrung gut kennt.

Russland behauptet, dass die USA direkt in den Ukraine-Krieg verwickelt sind. Führen die USA einen Stellvertreterkrieg in der Ukraine?

Noam Chomsky: Dass die USA stark in den Krieg verwickelt sind, und das mit Stolz, steht nicht in Frage. Dass sie einen Stellvertreterkrieg führen, davon ist man außerhalb der europäisch-angloamerikanischen Welt überzeugt. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum. Die offizielle US-Politik ist erklärtermaßen, dass der Krieg so lange fortgesetzt werden muss, bis Russland so stark geschwächt ist, dass es keine weiteren Aggressionen mehr unternehmen kann.

Diese Politik wird mit sich überschlagenden Erklärungen über einen kosmischen Kampf von Demokratie, Freiheit und dem Guten gegen das ultimative Böse gerechtfertigt, das auf globale Eroberung aus ist. Die heiß laufende Rhetorik ist nicht neu. Das Märchen von Gut gegen Böse erreichte im wichtigsten Dokument des Kalten Krieges, dem NSC 68, seinen Comedy-Style-Höhepunkt und ist auch sonst häufig aufzufinden.

Wörtlich genommen bedeutet die offizielle US-Politik, dass Russland härter bestraft werden muss als Deutschland im Versailler Vertrag von 1919. Die es betrifft werden dieses Ziel wahrscheinlich wörtlich nehmen, was natürlich Konsequenzen für ihre Reaktion hat.

Die Einschätzung, dass sich die USA einem Stellvertreterkrieg verschrieben haben, wird durch die öffentliche Debatte im Westen gestützt. Während ausgiebig darüber diskutiert wird, wie man die russische Aggression effektiver bekämpfen kann, findet man kaum ein Wort darüber, wie man dem Schrecken ein Ende bereiten könnte – ein Schrecken, der weit über die Ukraine hinausgeht. Diejenigen, die es wagen, diese Frage aufzuwerfen, werden in der Regel verunglimpft, selbst sonst so verehrte Persönlichkeiten wie Henry Kissinger – obwohl interessanterweise Aufrufe zu einer diplomatischen Lösung ohne die übliche Dämonisierung auskommen, wenn sie in den tonangebenden Zeitschriften des Establishments erscheinen.

Welche Begrifflichkeit man auch immer bevorzugt, die grundlegenden Fakten über die Politik und die Pläne der USA sind klar. "Stellvertreterkrieg" scheint mir ein angemessener Begriff zu sein, aber was zählt, sind Politik und Pläne.

Wie zu erwarten war, hat die Invasion auch zu einem langwierigen Propagandakrieg auf allen beteiligten Seiten geführt. In diesem Zusammenhang sagten Sie kürzlich, dass die Amerikaner durch das Verbot des Fernsehsenders Russia Today (RT) und anderen russischen Medien weniger Zugang zum offiziellen Gegner haben als die Sowjets in den 1970er Jahren. Können Sie das etwas näher erläutern, zumal Ihre Aussage über Zensur in den USA im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg völlig verzerrt wurde, so dass der Eindruck vermittelt wurde, Sie meinten, die Zensur in den USA sei heute schlimmer als im kommunistischen Russland?

Noam Chomsky: Auf der russischen Seite ist der Propagandakrieg im Inland extrem. Auf amerikanischer Seite gibt es zwar keine offiziellen Verbote, aber die Beobachtungen von Graham Fuller lassen sich kaum leugnen.

Buchstäbliche Zensur ist in den USA und anderen westlichen Gesellschaften selten. Doch wie George Orwell 1945 in seiner (unveröffentlichten) Einleitung zu seinem Buch "Farm der Tiere" schrieb, bestehe das "Düstere" freier Gesellschaften darin, dass die Zensur

weitgehend freiwillig ist. Unpopuläre Ideen können zum Schweigen gebracht und unbequeme Tatsachen im Dunkeln gehalten werden, ohne dass ein offizielles Verbot erforderlich ist.

Was im Allgemeinen ein wirksameres Mittel der Gedankenkontrolle ist als offene Gewalt.

Orwell bezog sich auf England, aber das Problem geht darüber hinaus. Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Der hoch angesehene Nahostwissenschaftler Alain Gresh wurde vom französischen Fernsehen zensiert, weil er sich kritisch zu Israels jüngsten terroristischen Verbrechen im besetzten Gaza geäußert hatte.

Gresh stellte fest, dass "diese Form der Zensur außergewöhnlich ist. In der Palästina-Frage wird sie nur selten auf so offensichtliche Weise praktiziert". Eine wirksamere Form der Zensur werde durch die sorgfältige Auswahl der Kommentatoren ausgeübt. Sie gelten als akzeptabel, so Gresh, wenn sie "die Gewalt bedauern" und gleichzeitig hinzufügen, dass Israel "das Recht hat, sich zu verteidigen", und die Notwendigkeit betonen, "Extremisten auf beiden Seiten zu bekämpfen", aber "es scheint keinen Platz für diejenigen zu geben, die Israels Besatzung und Apartheid radikal kritisieren."

In den Vereinigten Staaten sind solche Mittel, mit denen unpopuläre Ideen zum Schweigen gebracht werden und unbequeme Fakten im Dunkeln gehalten werden können, zu einer ausgefeilten, impliziten Technik entwickelt worden, wie man es in freien Gesellschaft erwarten kann, die nicht offensichtlich Meinungen unterdrücken können. Mittlerweile gibt es buchstäblich Tausende von Seiten, die diese Praktiken in allen Einzelheiten dokumentieren. Bewundernswerte Organisationen, die professionell Medienkritik betreiben wie FAIR in den USA und Media Lens in England, veröffentlichen regelmäßig weitere Analysen.

Die Vorteile westlicher Indoktrinationsmodelle gegenüber den plumpen, leicht zu durchschauenden Maßnahmen totalitärer Staaten sind breit diskutiert worden. Die ausgefeilteren Instrumente der freien Gesellschaft verbreiten ideologische Sichtweisen über implizite Annahmen in der Darstellung, wie Gresh sie schildert, nicht durch explizite Verbote. Die Regeln werden nicht als solche öffentlich festgelegt, sondern im Stillen vorausgesetzt. Debatten sind erlaubt, ja sogar erwünscht, aber innerhalb von Grenzen, die unausgesprochen und starr sind. Sie werden im Prozess verinnerlicht. Wie Orwell es ausdrückt, haben diejenigen, die einer subtilen Indoktrination unterworfen sind, z. B. im Zuge einer guten Ausbildung, ein Vorverständnis dafür entwickelt, dass es bestimmte Dinge gibt, die "man nicht sagen darf" – oder sogar, die man denken muss.

Die Formen der Indoktrination müssen nicht bewusst sein. Diejenigen, die sie anwenden, haben bereits verinnerlicht, dass es bestimmte Dinge gibt, die man "nicht sagen" – oder gar denken - sollte.

Solche Mittel sind besonders wirksam in einer hochgradig auf sich bezogenen Kultur wie der US-amerikanischen – in der nur wenige auf die Idee kommen, andere Informationsquellen außerhalb des eigenen Landes zu nutzen, vor allem die eines verachteten Landes –, und in der der Anschein grenzenloser Freiheit keinen Anreiz bietet, über den etablierten Rahmen hinauszugehen.

Verbot von russischen Medien: "Außergewöhnlich"

In diesem Kontext habe ich über das Verbot russischer Quellen wie RT gesprochen – eines Verbots, das eigentlich "außergewöhnlich" ist, wie Gresh zu Recht betont. Ich konnte aus Zeitgründen in dem Interview darauf nicht näher eingehen. Das direkte Verbot erinnerte mich aber an ein interessantes Thema, über das ich vor dreißig Jahren geschrieben hatte. In dem Artikel von damals ging es um Fälle, bei denen ich eine Reihe von bekannten Methoden, wie sie in freien Gesellschaften angewendet werden, um unliebsame Ideen und unerwünschter Fakten zu unterdrücken, untersuchte.

Ich ging auch auf akademische Studien ein, die im Auftrag der Regierung herauszufinden versuchten, woher die Russen in den 70er Jahren, also der späten Sowjetzeit vor Gorbatschow, ihre Nachrichten bezogen. Die Ergebnisse zeigten, dass trotz der strengen Zensur ein bemerkenswert hoher Prozentsatz der Russen Quellen wie die BBC und sogar den illegalen Samisdat nutzte (bezeichnete in der UdSSR und später auch in weiten Teilen des Ostblocks die Verbreitung von alternativer, nicht systemkonformer, zumeist verbotener "grauer" Literatur über nichtoffizielle Kanäle, Telepolis) und möglicherweise besser informiert war als die Amerikaner.

Ich habe mich seinerzeit bei russischen Emigranten erkundigt, die von ihren Erfahrungen berichteten, wie sie die ins Privatleben eingreifenden, aber nicht sehr effizienten Zensurmaßnahmen umgingen. Sie bestätigten im Wesentlichen das Bild der Regierungsstudie, obwohl sie der Meinung waren, dass die Zahlen zu hoch seien, möglicherweise, weil die Stichproben wegen der Konzentration auf Leningrad und Moskau verzerrt waren.

Veröffentlichungen von Medien des gegnerischen Lands zu verbieten, ist nicht nur unrechtmäßig, sondern auch schädlich. So wäre es für die Amerikaner wichtig gewesen, zu wissen, dass der russische Außenminister unmittelbar vor der Invasion betonte, dass "der Schlüssel zu allem die Garantie ist, dass die Nato nicht nach Osten in die Ukraine expandiert" – die erklärte rote Linie Russlands seit Jahrzehnten. Wäre man bestrebt gewesen, die schrecklichen Verbrechen zu vermeiden und eine bessere Welt zu schaffen, hätte man diese Möglichkeit ausloten können.

Dasselbe gilt für die Äußerungen der russischen Regierung, als die Invasion bereits im Gange war, z. B. Lawrows Erklärung vom 29. Mai:

Unsere Ziele sind: die Entmilitarisierung der Ukraine (auf ihrem Territorium sollten sich keine Waffen befinden, die Russland bedrohen); die Wiederherstellung der Rechte von Russen im Einklang mit der ukrainischen Verfassung (das Kiewer Regime hat sie durch die Verabschiedung russlandfeindlicher Gesetze verletzt) und internationalen Übereinkommen (an die die Ukraine gebunden ist); und die Entnazifizierung der Ukraine. Theorie und Praxis der Nazis und Neonazis haben das tägliche Leben in der Ukraine tief durchdrungen und sind in den Gesetzen des Landes kodifiziert.

Es könnte für die Amerikaner nützlich sein, diese Worte im Fernsehen hören zu können, zumindest für diejenigen Amerikaner, die ein Interesse daran haben, den Schrecken zu beenden, anstatt sich in den apokalyptischen Kampf zu stürzen, der aus dem Kaffeesatz heraufbeschworen wurde, um den "wütenden Bären" zu bändigen, bevor er uns alle verschlingt.

Die Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine stagnieren seit dem Frühjahr. Offenbar will Russland den Frieden zu seinen eigenen Bedingungen erzwingen, während die Ukraine offenbar den Standpunkt vertritt, dass es keine Verhandlungen geben kann, solange sich Russlands Aussichten auf dem Schlachtfeld nicht verschlechtern. Sehen Sie in absehbarer Zeit ein Ende des Konflikts? Sind Verhandlungen zur Beendigung des Krieges eine Beschwichtigung, wie diejenigen behaupten, die gegen Friedensgespräche sind?

Noam Chomsky:  Ob die Verhandlungen ins Stocken geraten sind, ist nicht ganz klar. Es wird wenig darüber berichtet, aber es scheint möglich, dass
Gespräche zur Beendigung des Krieges wieder auf der Tagesordnung stehen: Ein Treffen zwischen der Ukraine, der Türkei und den Vereinten Nationen zeigt, dass sich Kiew für Gespräche mit Moskau erwärmen könnte, und dass "angesichts der russischen Gebietsgewinne" die Ukraine "ihren Widerstand gegen eine diplomatische Beendigung des Krieges aufgeweicht hat". Wenn dem so ist, liegt es an Putin zu zeigen, ob seine "erklärte Bereitschaft für Verhandlungen wirklich ein Bluff " oder ernsthaft ist.

Die Lage ist undurchsichtig. Es erinnert an die "afghanische Falle", als die USA einen Stellvertreterkrieg mit Russland "bis zum letzten Afghanen" führten, wie Cordovez und Harrison es in ihrer richtungweisenden Studie ausdrücken. Die Studie zeigt, wie es den Vereinten Nationen damals gelang – trotz der Bemühungen der USA, eine diplomatische Lösung zu verhindern –, einen russischen Abzug zu erreichen. Das war die Zeit, in der Jimmy Carters Nationaler Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski – der für sich in Anspruch nahm, die russische Invasion angestiftet zu haben –, das Endresultat begrüßte, auch wenn es um den Preis einiger "aufgeregter Muslime" erwirkt wurde. Erleben wir heute etwas Ähnliches? Vielleicht.

Noam Chomsky: Zweifellos will Russland den Frieden zu seinen eigenen Bedingungen durchsetzen. Eine diplomatische Verhandlungslösung ist eine, die jede Seite akzeptieren muss, während sie auf einige der eigenen Forderungen verzichtet. Es gibt nur einen Weg, um herauszufinden, ob es Russland mit den Verhandlungen ernst ist: Man muss es versuchen. Es ist nichts verloren.
Was die Aussichten auf dem Schlachtfeld betrifft, so gibt es zuversichtliche sowie sich stark widersprechende Aussagen von Militärexperten. Ich verfüge nicht über die notwendige Expertise. Ich denke, man kann aber festhalten, dass sich der Nebel des Krieges nicht gelichtet hat. Wir wissen, welches die Position der USA ist, oder zumindest im letzten April war. Auf der von den USA organisierten Konferenz der Nato-Staaten und anderer militärischer Führer am Militärstützpunkt Ramstein hieß es:
Die Ukraine glaubt fest, dass sie gewinnen kann, und alle hier glauben das auch.

Ob das damals tatsächlich geglaubt wurde oder heute noch geglaubt wird, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, wie man es herausfinden könnte. Auf jeden Fall schätze ich persönlich die Worte von Jeremy Corbyn. Seine Aussagen wurden am Tag nach der Eröffnung der Kriegskonferenz in Ramstein veröffentlicht und haben dazu beigetragen, dass er buchstäblich aus der Labour-Partei ausgeschlossen wurde:
Es muss einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine geben, gefolgt von einem russischen Truppenabzug und einer Einigung zwischen Russland und der Ukraine über zukünftige Sicherheitsvereinbarungen. Alle Kriege enden in irgendeiner Form mit einer Verhandlung – warum also nicht jetzt?

Noam Chomsky ist Professor emeritus für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Ehrenprofessor an der Universität von Arizona, politischer Dissident und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm zusammen mit Marv Waterstone im Westend Verlag: "Konsequenzen des Kapitalismus. Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand" [2].