"Die Trommelschläge des Kriegs müssen Worten des Friedens weichen"
Ein Zermürbungskrieg droht in der Ukraine. Politiker müssen Mut zum Verhandeln zeigen, positiver Friede ist möglich. Telepolis dokumentiert einen Aufruf rund um den US-Ökonomen Jeffrey Sachs.
Der Krieg in der Ukraine dauert schon über vier Monate an. Im Herzen Europas setzt sich damit eine militärische Auseinandersetzung fest, die nicht nur großes Leid in der Ukraine erzeugt, sondern auch eine weltweite Katastrophe auslöst. Sie bedroht nicht zuletzt einen Großteil dessen, was früher als "Dritte Welt" bekannt war, mit Hunger. Selbst in den reichen Industrieländern erzeugt die Inflation Kostensteigerungen und sozialen Druck.
In der Zwischenzeit, kaum bemerkt, aber noch katastrophaler, sind die neuesten Nachrichten über den Kohlenstoff, den die umkämpfte Menschheit in die Atmosphäre entlässt. Sie sind alles andere als erfreulich. Die CO2-Emissionen sind im schlimmsten Covid-Jahr tatsächlich leicht gesunken, aber 2021 wieder deutlich angestiegen. Wie die National Oceanic and Atmospheric Administration kürzlich bekannt gab, befindet sich heute mehr Kohlenstoff in der Atmosphäre als jemals zuvor in den letzten vier Millionen Jahren. Das hat auch mit einem Run auf fossile Energieträger im Zuge des Russland-Embargos und gestiegener Preise zu tun.
Der Kohlenstoffgehalt der Atmosphäre ist jetzt offiziell 50 Prozent höher als in der vorindustriellen Welt. Waldbrände in Brandenburg, Megadürren im Südwesten der USA, beispiellose Hitzewellen in Indien, Pakistan, Spanien und anderswo sind Warnzeichen dafür, den Kurs zu ändern. Der Krieg ist tatsächlich nicht nur ein gefährlicher Konfliktherd, letztlich ein Stellvertreterkrieg zwischen den USA und den Nato-Staaten auf der einen und Russland, mit China im Hintergrund, auf der anderen Seite. Er heizt zugleich die planetare Bedrohung weiter an.
Eine internationale Arbeitsgruppe um den US-amerikanischen Ökonomen und Direktors des UN Sustainable Development Solution Network Jeffrey Sachs traf sich am 6. und 7. Juni in der Casina Pio IV, Vatikanstadt, um Lösungen für einen "gerechten und dauerhaften Frieden in der Ukraine" zu erarbeiten.
Telepolis dokumentiert die dort entstandene "Erklärung der Teilnehmer der Studiengruppe Wissenschaft und Ethik des Glücks", die unter anderen der italienische Ministerpräsident Romano Prodi und der ehemalige spanische Außenminister Miguel Angel Moratinos unterzeichnet haben, in deutscher Übersetzung.
Wie ist ein gerechter und dauerhafter Frieden in der Ukraine zu erreichen?
Erklärung der Teilnehmer der Studiengruppe Wissenschaft und Ethik des Glücks; Treffen in der Casina Pio IV, Vatikanstadt, 6. bis 7. Juni 2022
"Jesus lehrte die Welt, dass Friedensstifter gesegnet sind, denn sie sind Kinder Gottes. Während der Krieg in der Ukraine tobt, braucht die Welt Friedensstifter, die den Kriegsparteien helfen, statt eines anhaltenden Konflikts den Frieden zu wählen. Die USA, die Europäische Union, die Türkei, China und andere Länder sollten den beiden Seiten helfen, sich mit einem ausgehandelten Friedensabkommen sicher zu fühlen.
Für die Ukraine bedeutet Sicherheit, dass auf ein Friedensabkommen keine erneuten russischen Drohungen oder Übergriffe folgen werden. Für Russland bedeutet Sicherheit, dass ihrem Rückzug aus der Ukraine nicht die Osterweiterung der Nato und schwere Bewaffnung der Ukraine folgen werden. Kurz gesagt bedeutet Frieden eine neutrale Ukraine, deren Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Integrität gesichert ist.
Papst Franziskus hat sein Plädoyer für Frieden klar und kraftvoll formuliert: "Ich erneuere meinen Appell an die Regierenden der Nationen: Führt die Menschheit nicht in den Ruin. Bitte! Führt die Menschheit nicht in den Ruin!"
Seine Allheiligkeit, der ökumenische Patriarch Bartholomäus, hat erklärt: "Wir rufen alle beteiligten Parteien auf, diesen Weg des Dialogs und der Achtung des Völkerrechts fortzusetzen, um den Konflikt zu beenden und allen Ukrainern ein harmonisches Leben zu ermöglichen. Waffen sind nicht die Lösung."
Ziel der Friedensstiftung in der Ukraine ist nicht nur ein negativer Frieden – ein Frieden ohne Gerechtigkeit –, sondern ein positiver Frieden, der entschieden auf den vier Säulen der moralischen Beziehungen zwischen den Staaten beruht, die der heilige Johannes XXIII. in seinem maßgeblichen "Pacem in Terris" anerkannt hat: Wahrheit, Gerechtigkeit, bereitwillige Zusammenarbeit und Freiheit (Paragraf 80). Derartige moralische Beziehungen sind nicht nur zwischen Russland und der Ukraine notwendig, sondern auch zwischen Russland, den USA und der Europäischen Union.
Russlands Invasion der Ukraine ist zweifellos eine abscheuliche Verletzung der UN-Charta und des Völkerrechts. Russlands Differenzen mit der Ukraine hätten sicherlich durch vom UN-Sicherheitsrat unterstützte Verhandlungen unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen aller Länder beigelegt werden müssen.
Nun sollten die düsteren Gegebenheiten der andauernden Schlacht, bei der wahrscheinlich keine Seite einen entscheidenden militärischen Sieg erringen wird, beide Seiten so schnell wie möglich an den Verhandlungstisch bringen, um die Verlängerung des Kriegs zu verhindern und einen Frieden mit Gerechtigkeit zu erreichen.
Der Krieg in der Ukraine wird sich wahrscheinlich zu einem Zermürbungskrieg entwickeln und statt als offener Sieg einer Seite über die andere als eingefrorener Konflikt oder als ausgehandelter Frieden enden. Ein ausgehandelter Frieden wäre ein besseres Ergebnis als die Opfer eines Zermürbungskriegs und eines eingefrorenen Konflikts sowohl für die Völker als auch für die Regierungen der Ukraine, Russlands, der USA und der EU und des Rests der Welt.
Wenn der Krieg als eingefrorener Konflikt endet, besetzte Russland weiterhin einen beträchtlichen Teil der Ost- und Südukraine, während die westlichen Sanktionen gegen Russland in Kraft blieben. Handel und Investitionen zwischen Russland und dem Westen blieben blockiert, was zu einem allgemeinen Rückgang des Welthandels und der Entwicklung führte. Waffen und Militärpersonal würden auch weiterhin aus externen Quellen in die Ukraine fließen.
Sollte der Krieg stattdessen in einem ausgehandelten Frieden enden, würden weitere schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung der Ukraine und den Militärs beider Seiten vermieden und die Existenz und Unabhängigkeit des ukrainischen Staats könnte gegen äußere Umsturzversuche gesichert werden.
Die meisten der von Russland besetzten Regionen kehrten unter ukrainische Staatshoheit zurück, bestimmte Regionen könnten besonderen Vorschriften unterliegen, das russische Militär würde abgezogen und die westlichen Sanktionen würden aufgehoben, was den Wiederaufbau und ein höheres Sicherheitsniveaus für alle Akteure in der ukrainischen Gesellschaft und den Nachbarländern ermöglichen würde.
Die Basis für ein mögliches Friedensabkommen wurden in der zweiten Märzhälfte skizziert, als bei Verhandlungen beide Seiten gute Fortschritte meldeten, sowie in jüngster Zeit in Italiens Vorschlag eines vierteiligen Friedensplans Ende Mai. In den Verhandlungen in der zweiten Märzhälfte schlug die Ukraine vier Punkte für eine Friedensregelung vor: Neutralität; internationale Sicherheitsgarantien für die Ukraine; einen ausgedehnten Zeitrahmen, um den Status der Krim abschließend festzulegen; und Verhandlungen über "die komplexen Fragen des Donbass".
Auch Italiens Friedensplan hat vier Punkte: Waffenstillstand; Neutralität der Ukraine; laufende Verhandlungen über die Krim und den Donbass; und multilaterale Verhandlungen innerhalb der OSZE sowie zwischen Russland und der Nato über regionale Sicherheitsvereinbarungen.
Während wir uns auf die praktische Weisheit (Phronese) der gesegneten Friedensstifter stützen, basierend auf den feststellbaren Wurzeln des Konflikts, den Verhandlungen im März und den bisherigen Friedensinitiativen, schlagen wir die folgenden Richtgrößen für einen Waffenstillstand und ein positives Friedensabkommen vor:
Neutralität der Ukraine, das heißt der Verzicht auf den staatlichen Ehrgeiz, der Nato beizutreten, bei gleichzeitiger Anerkennung der Freiheit der Ukraine, Abkommen mit der Europäischen Union und anderen abzuschließen;
- Sicherheitsgarantien für Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine durch die fünf ständigen Mitglieder der Vereinten Nationen (P-5: China, Frankreich, Russland, Großbritannien und Vereinigte Staaten) sowie der Europäischen Union und der Türkei, was militärische Transparenz und Beschränkungen der Stationierung von Militär und groß angelegter Übungen in Grenzgebieten unter internationaler Beobachtung im Zusammenhang mit der Aufhebung von Wirtschaftssanktionen beinhalten könnte;
- Russische De-facto-Kontrolle der Krim für einen Zeitraum von Jahren, danach würden die Parteien auf diplomatischem Weg eine dauerhafte De-jure-Lösung anstreben, die den erleichterten Zugang für lokale Gemeinschaften sowohl zur Ukraine als auch zu Russland, eine liberale Grenzübergangspolitik für Personen und Handel, die Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte und finanzielle Entschädigungen einschließen könnte; Autonomie der Regionen Lugansk und Donezk innerhalb der Ukraine, die wirtschaftliche, politische und kulturelle Aspekte einschließen könnte, die kurzfristig genauer festgelegt werden;
- Garantierter wirtschaftlicher Zugang sowohl der Ukraine als auch Russlands zu den Schwarzmeerhäfen beider Länder;
- Die schrittweise Aufhebung der westlichen Sanktionen gegen Russland verknüpft mit dem Rückzug des russischen Militärs gemäß dem Abkommen;
- Einen multilateralen Fonds für Wiederaufbau und Entwicklung der vom Krieg gezeichneten Regionen der Ukraine – an dem auch Russland beteiligt ist – und sofortigen Zugang für humanitäre Hilfe;
- Eine Resolution des UN-Sicherheitsrats zur Bereitstellung internationaler Überwachungsmechanismen zur Unterstützung des Friedensabkommens.
Warum die Einwände gegen Friedensverhandlungen nicht greifen
Präsident John F. Kennedy bemerkte weise: "Echter Frieden muss das Produkt vieler Nationen sein, die Summe vieler Taten. Er muss dynamisch und nicht statisch sein, sich mit den Herausforderungen verändern, um jeder neuen Generation gerecht zu werden. Denn Frieden ist ein Prozess – ein Weg, Probleme zu lösen." Um Probleme zu lösen, brauchen wir Zusammenarbeit, und für Zusammenarbeit brauchen wir Vertrauen.
Dauerhafter Frieden hängt daher nicht nur von formellen Verträgen ab, sondern auch von der Zusammenarbeit in Gemeinschaften, über Ethnien, Religionen und Nationalstaaten hinweg. Auch die Medien tragen Verantwortung dafür, dass die Trommelschläge des Kriegs Worten des Friedens weichen.
Die Religionsgemeinschaften stehen an der Spitze des positiven Friedens. Religionsgemeinschaften führen Menschen im Geiste der Menschenwürde und der Gerechtigkeit unter Gott zusammen und haben die Fähigkeit und Mission, Menschen auch über Glauben und Ethnien hinweg zusammenzubringen.
Die katholische Kirche, das Ökumenische Patriarchat, das Moskauer Patriarchat und die Orthodoxe Kirche der Ukraine sind die Säulen eines positiven Friedens sowohl zwischen Russland und der Ukraine als auch innerhalb der verschiedenen Gemeinschaften in der Ukraine und können eine entscheidende Rolle im nötigen Versöhnungsprozess als Weg zu einem positiven Frieden spielen.
Wir empfehlen den religiösen Führern aller Glaubensrichtungen, Russland und die Ukraine dabei zu unterstützen, einen positiven Frieden anzustreben und sich an die Worte Jesajas zu halten: "Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen." Jesaja 2,3-4 Nachtrag: Weitere Überlegungen
Selbst wenn die Kämpfe weitergehen, wird wahrscheinlich weder Russland noch die Ukraine ein Ergebnis erzielen, das besser ist als ein ausgehandelter Frieden. Nichtsdestotrotz werden die oben genannten Bedingungen sicherlich die folgenden vier Einwände hervorrufen, auf die wir unsere Antwort geben.
Einwand 1: Die Ukraine hat das Recht, sich für den Nato-Beitritt zu entscheiden
Während die OSZE-Charta (Absatz 8) das Recht der OSZE-Mitgliedstaaten anerkennt, ihre Sicherheitsvereinbarungen, einschließlich Bündnisverträge, zu wählen, sind die Staaten auch verpflichtet, "ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten zu stärken".
Stattdessen verpflichteten sie sich, einen gemeinsamen OSZE-Sicherheitsraum "ohne Trennlinien und Zonen mit unterschiedlichem Sicherheitsniveau" zu schaffen (Abs. 1), und es "kommt keinem Staat, keiner Staatengruppe oder Organisationen mehr Verantwortung für die Erhaltung von Frieden und Stabilität im OSZE-Gebiet zu als anderen, noch kann einer/eine von ihnen irgendeinen Teil des OSZE-Gebiets als seinen/ihren Einflussbereich betrachten". (Absatz 8)
Zu diesem Zweck haben sich die Nato-Mitgliedstaaten und die Russische Föderation in der Nato-Russland-Grundakte (1997) verpflichtet, strategische Zurückhaltung und Stabilität zu wahren – durch Rüstungskontrollverpflichtungen und durch die Verbesserung der gegenseitigen Sicherheitszusammenarbeit und die Stärkung der OSZE als gemeinsame Sicherheitsorganisation.
Darüber hinaus ist die Nato nicht verpflichtet, Anträge anderer Staaten auf Beitritt zum Bündnis anzunehmen, vielmehr muss sie die Auswirkungen auf die regionale und strategische Stabilität und die gegenseitige Sicherheit abwägen.
Nach Ansicht Russlands würde die Nato-Erweiterung um die Ukraine und Georgien auf Kosten der Sicherheit Russlands gehen. Mit der beabsichtigten Nato-Erweiterung hätten die USA und ihre Verbündeten die strategische Basis der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim in Besitz nehmen können, neue potenzielle Stationierungsgebiete für Truppen und Raketen in der Nähe der russischen Kernländer geschaffen und damit das strategische Gleichgewicht untergraben; die Nato-Streitkräfte wären in der Lage, den Zugang Russlands zum Schwarzen Meer und zum östlichen Mittelmeer für seine wirtschaftlichen und militärischen Zwecke einzuschränken.
Das sind uralte Überlegungen, die im Krimkrieg (1853 bis 1856) eine Rolle spielten und heute wieder spielen.
Außerdem, während die Nato selbst sich als rein defensives Bündnis bezeichnet, sieht Russland das anders. Russische Führungskräfte und Diplomaten haben wiederholt ihre ernste Besorgnis über die Bombardierung des russischen Partners Serbien durch die Nato 1999 geäußert; die von den USA angeführte "Koalition der Willigen" im Krieg gegen den Irak 2003 gegen die Einwände des UN-Sicherheitsrats; und die Verletzung der Mandate des UN-Sicherheitsrats bei der Bombardierung des russischen Partners Libyen durch die Nato-Verbündeten 2011, die zu einem Regimewechsel und einem anhaltenden Chaos führte.
Nach Ansicht Russlands dient die Nato den geopolitischen Interessen der USA und ihrer Verbündeten weit über ihre erklärte Begründung der kollektiven Verteidigung Westeuropas im Kontext des lang anhaltenden Kalten Kriegs hinaus. Wie auch immer: Obwohl sie solche russischen Bedenken ernst nehmen, rechtfertigen sie in keiner Weise eine militärische Aggression gegen einen souveränen Nachbarstaat.
Einwand 2: Die Ukraine wird bald Gebiete zurückerobern, die Russland seit der Invasion im Februar eingenommen hat
Die Ukraine und ihre Unterstützer behaupten, dass die Ukraine einen Zermürbungskrieg gewinnen wird, und weisen auf den Schaden für die russische Wirtschaft durch westliche Sanktionen und die schlechte Leistung des russischen Militärs hin. Dennoch besetzt Russland eine beträchtliche Menge Land und vergrößert weiterhin die besetzten Gebiete im Donbass.
Nach Angaben des IWF war Russlands BIP im Jahr 2021 mit 1,8 Billionen US-Dollar mit 200 Milliarden US-Dollar etwa 9-mal größer als das BIP der Ukraine. Seit der Invasion befindet sich die ukrainische Wirtschaft in einem verzweifelten Zustand, der mit einem Rückgang von vielleicht 50 Prozent des BIP einen völligen Zusammenbruch droht, während der wirtschaftliche Niedergang Russlands voraussichtlich bei etwa 10 Prozent liegen wird. Einigen Berichten zufolge sind die Dollar-Exporterlöse Russlands sogar gestiegen, nicht gesunken, weil die Sanktionen den Weltmarktpreis für russische Exportgüter erhöht haben, während die Exporteinnahmen der Ukraine eingebrochen sind.
Die Aussichten der Ukraine in einem Zermürbungskrieg hängen daher vollständig von weiterer umfangreicher finanzieller und militärischer Unterstützung des Westens ab. Jedoch schwindet die öffentliche Unterstützung in den USA und der EU für weitere umfangreiche Mittelzuweisungen bereits, insbesondere unter der schweren Last sinkender Lebensstandards infolge der wirtschaftlichen Verwerfungen durch Krieg und Sanktionen.
Einwand 3: Russland sollte für die Invasion bestraft und nicht belohnt werden
Russlands Differenzen mit der Ukraine und mit der Nato hätten sicherlich durch friedliche Verhandlungen gelöst werden müssen. Doch als Russland 2021 versuchte, mit der Biden-Administration und der Nato über die Frage der Nato-Erweiterung zu verhandeln, antworteten die USA und die Nato, das Vorrecht der Ukraine, der Nato beizutreten, sei nicht verhandelbar. Als Russland das Problem des Versagens der Ukraine bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen aufwarf, leisteten die europäischen Garantieländer keine Unterstützung.
Diese Tatsachen rechtfertigen in keiner Weise Russlands Invasion der Ukraine, aber sie helfen, sie zu erklären, und was noch wichtiger ist, sie helfen, Orientierungspunkte aufzuzeigen, die helfen werden, den Krieg zu beenden.
Russland muss auch davon absehen, Narrative zu schaffen, welche die nationale Identität der Ukraine leugnen, und absichtlich Gebiete zurückfordern, von denen es behauptet, dass sie historisch russisch sind, da dies zu einem längeren Krieg führen und alle Chancen auf Versöhnung und Frieden zerstören würde.
Einwand 4: Russland und die Ukraine sind weit von einer Verhandlungslösung entfernt, weshalb die Kämpfe weitergehen werden
Für das Vertrauen in Verhandlungen sprechen folgende Gründe: An der militärischen Front hat sich der Krieg zu einem intensiven Konflikt in einer begrenzten Region der Ukraine (Donbass und südliche Küstenlinie, 20 Prozent des Territoriums der Ukraine) entwickelt. Bodengewinne für beide Seiten sind sehr kostspielig. Die Befürchtungen des Westens, dass Russland die Ukraine überrennen und dann weitere Länder angreifen wird, sind längst vergessen.
Auf der anderen Seite ist auch der Glaube widerlegt, dass Nato-Waffen Russland schnell vom Schlachtfeld verdrängen werden. Außerdem haben sich die Sanktionen des Westens, die einst als Mittel zur Zerschlagung der russischen Wirtschaft galten, als nur begrenzt wirksam und mit hohen Kosten für den Rest der Welt erwiesen.
Beide Seiten haben den Zustand einer "schmerzhaften Pattsituation" erreicht, die lange Zeit als grundlegender Hinweis für die Reife von Konflikten für eine Lösung galt. Eine Verhandlung würde auch das Risiko einer Destabilisierung in Gesellschaften von Nicht-Nachbarländern, in Europa und anderen Kontinenten für die sozialen und wirtschaftlichen Folgen eines anhaltenden Konflikts drastisch reduzieren.
Weder Russland noch die Ukraine werden diese Ausgangslage durch fortgesetzte Kämpfe verbessern. Russland könnte in der Lage sein, mehr ukrainisches Territorium zu hohen Kosten für sein Militär und die russische Wirtschaft zu erobern, aber es wäre wahrscheinlich nicht in der Lage, die Besetzung dieses zusätzlichen Territoriums in ein vorteilhafteres Friedensabkommen umzuwandeln.
Vielmehr würde die Besetzung von noch mehr Territorium oder die einseitige Annexion des Donbass an Russland mit ziemlicher Sicherheit zu einem eingefrorenen Konflikt führen, in dem das Sanktionsregime des Westens in Kraft bliebe, Hunderte von Milliarden Dollar der russischen Devisenreserven blockiert blieben, Handel und Investitionen zwischen Russland und dem Westen auf unbestimmte Zeit ausgesetzt würden und die finanziellen Lasten des Wiederaufbaus in den besetzten Gebieten vollständig auf Russland fallen würden.
Unwahrscheinlich ist, dass auch die Ukraine diese Ausgangslage durch fortgesetzte Kämpfe verbessern wird. Die USA und andere Nato-Länder haben die Grenzen der Art der militärischen und finanziellen Unterstützung, die sie anbieten werden, klargemacht. Die ukrainische Wirtschaft ist bereits verwüstet, und bei anhaltenden Kämpfen würden noch gravierendere Verluste folgen.
Die Ukraine hat bereits die Realität der Nichterweiterung der Nato eingeräumt, aber der Abschluss einer Einigung mit Russland in diesem Punkt könnte der Ukraine erhebliche Vorteile bei den von Russland vereinbarten Gegenmaßnahmen sichern.
Das größte Hindernis für ein Verhandlungsergebnis ist vielleicht die Angst vor Verhandlungen selbst. Politiker befürchten, dass sie als Beschwichtiger und sogar als Defätisten angegriffen werden, wenn sie am Verhandlungstisch Kompromisse statt eines militärischen Siegs fordern.
Deshalb sind Friedensstifter in dieser Phase so wichtig. Die Rolle Seiner Heiligkeit Papst Franziskus und des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Herrn António Guterres, und anderer geschätzter Friedensstifter könnte zu diesem Zweck von entscheidender Bedeutung sein.
Die Befürworter des Friedens müssen die Politiker stärken, die das Risiko eingehen, Verhandlungen anzustreben. Diejenigen wie Ministerpräsident Mario Draghi, der kürzlich Italiens Vorschläge für den Frieden vorgelegt hat, verdienen unsere tiefste Belobigung. Wir müssen zivilgesellschaftliche Organisationen und die Weltöffentlichkeit für den Frieden mobilisieren und ein Bündnis für den Frieden fordern."
Erstunterzeichner
Jeffrey D. Sachs, Präsident des UN Sustainable Development Solutions Network und Universitätsprofessor an der Columbia University
Anthony Annett, Gabelli Fellow an der Fordham University
Maria Paola Chiesi, Studiengruppe Wissenschaft und Ethik des Glücks
Richard Falk, Milbank Professor für Internationales Recht und Praxis, Emeritus, Princeton University
Ana Marta Gonzalez, Professorin für Moralphilosophie an der Universität von Navarra
Nina Chruschtschowa, Professorin für Internationale Angelegenheiten an der New School
Anatol Lieven, Senior Research Fellow am Quincy Institute for Responsible Statecraft
Mario Marazziti, ehemaliger Abgeordneter und Präsident des Menschenrechtsausschusses, Italienisches Parlament
Miguel Ángel Moratinos, Hoher Vertreter der Vereinten Nationen für die Allianz der Zivilisationen und ehemaliger Außenminister Spaniens
Romano Prodi, ehemaliger Ministerpräsident Italiens und zehnter Präsident der Europäischen Kommission
Wolfgang Richter, Senior Associate für Internationale Sicherheit an der Stiftung Wissenschaft und Politik
Richard E. Rubenstein, Universitätsprofessor für Konfliktlösung und Public Affairs an der George Mason University
Michael von der Schulenburg, ehemaliger Beigeordneter Generalsekretär der Vereinten Nationen in UN-Peace Missions
Anna Sun, außerordentliche Professorin für Religionswissenschaft an der Duke University
William F. Vendley, Vizepräsident für Weltreligionen und Spiritualität am Fetzer Institute und emeritierter Generalsekretär bei Religions for Peace