Norbert Nicoll legt in neuer Auflage ein Nachschlagewerk der Wachstumskritik vor.
Den Postwachstumstheoretiker:innen und ihrer Wachstumskritik wird viel vorgeworfen. Sie unterschätzen das Materielle, seien auf Wohlstandsgesellschaften fokussiert, die schon im Überfluss leben, und ignorieren damit die notwendige Entwicklung von Volkswirtschaften mit großer Armut, welche auch durch Wirtschaftswachstum bekämpft werden muss. Zudem finde sich bei ihnen keine fundierte Analyse des Bestehenden und keine Konzepte, die aus einer Kritik an diesen Verhältnissen umsetzbare Gegenentwürfe schaffen. Praktisch läuft die Wachstumskritik häufig allein auf mysteriöses Umdenken hinaus, das dann zu einem anderen Konsum führen soll.
In der Denkschule verhaftet und trotzdem mit weniger Fehltritten, die so kritisiert werden können, aktualisiert Norbert Nicoll sein umfassendes Werk Adieu, Wachstum, das jüngst im Tectum Verlag mit einem Vorwort des renommierten Politikwissenschaftlers Ulrich Brand erschienen ist. Manch einer nannte die erste Auflage ein Standardwerk zum Thema. Auf rund 500 Seiten legt der Lehrbeauftragte der Universität Duisburg-Essen nun einen Überblick der Wachstumskritik aus verschiedenen Perspektiven vor. Neben den wirtschaftlichen Begebenheiten werden dabei interdisziplinäre Einsichten aus Politik, Philosophie und Geschichte dargelegt. Dass der Autor auch Gymnasiallehrer ist, fördert die Verständlichkeit und pädagogischen Fähigkeiten des Buches.
Nicoll tapst nicht in die Falle, den Kapitalismus aus einer primitivistischen Sicht zu verteufeln und einen vorkapitalistischen Zustand zu romantisieren. Im Gegensatz zu anderen Postwachstumskritiker:innen wie Tim Jackson oder Nico Paech stellt er erst einmal nüchtern fest, dass in den letzten 200 Jahren durch Wirtschaftswachstum die Armut deutlich verringert werden konnte. Das stimmt und eröffnet genau den grundlegenden Konflikt: Wie schafft es eine Gesellschaft ohne Wachstum zu wirtschaften und Gerechtigkeit herzustellen? Im (Post)-Fordismus wurden die sozialen Konflikte nicht gelöst, sondern durch eine zwar ungerechte, aber vielen begünstigende Verteilung des durch Wachstum hinzugewonnenen Wohlstands befriedigt.
Manche Untersuchungen wollen sogar zeigen, dass sich das Wirtschaftswachstum eins zu eins in den Einkommen der Armen widerspiegelt. Nicoll bezweifelt jedoch, dass Wachstum eine hinreichende Bedingung ist, um Armut zu bekämpfen. Ohnehin würde es unter gegebenen Bedingungen noch 100 Jahre dauern, bis die extremste Armut behoben ist. Das dauert viel zu lange. Wer kann das verantworten?
Hier setzt der Wirtschaftswissenschaftler an. Er analysiert das Wirtschaftswachstum als einen Ausdruck der historisch spezifischen Periode des Kapitalismus – und macht sie somit veränderbar, nicht naturgegeben. Dabei formuliert er auch Kritik an anderen Wachstumskritiker:innen, die beispielsweise ein kruden Begriff von Schulden haben und diese nur als Konsum auf Pump sehen. Einen Punkt, an dem sie sich in der Sache mit konservativen Ökonom:innen einig sind.
Eine Denkrichtung hat allerdings immer Blickwinkel, die logisch aus den Annahmen folgen und bei allen Vertreter:innen vorkommen. So fokussiert sich auch Nicoll auf die Konsumgesellschaft und ein notwendiges Umdenken in dieser. Das ist klar, entspringt genau aus dieser Problemstellung die Postwachstumstheorie. Wirtschaftspolitische Handlungsweisen daraus abzuleiten, stellt sich jedoch damit schwierig heraus. Und auch das »heiße Eisen« Malthus taucht im Buch erneut auf. Mit ihm wurde schon so einige fragwürdige bevölkerungspolitische Forderung begründet. Trotz aller Reflektion des negativen Gehalts seiner Theorie, bleibt das Buch ein griffiges Argument schuldig, warum man sich auf ihn beziehen muss, um Postwachstum auf globalem Niveau durchzusetzen.
Dass er dennoch in einem grundlegenden Buch über die Denkschule auftaucht, begründet schon die weite Verbreitung der Ideen, dass bei wachsender Bevölkerung die Nahrung knapp wird und somit das Wachstum begrenzt. Und dafür ist das Buch sehr gut geeignet: Wer wissen möchte, was die fundierte Wachstumskritik ausmacht, sollte zu diesem umfassenden Nachschlagewerk greifen. Danach kann man immer noch kritisieren.