Über Postwachstum und Corona:  Nico Paech (59) ist Volkswirt und der bekannteste Wachstumskritiker Deutschlands. Paech ist außerplanmäßiger Professor im Bereich Plurale Ökonomie an der Universität Siegen. Mitte März ist sein Buch „All you need is less“ über eine „Kultur des Genug aus ökonomischer und buddhistischer Sicht“ im Oekom Verlag erschienen.

In der Zwangspause vom Leistungsstress erkennen viele Menschen die Vorteile einer entschleunigten Gesellschaft, sagt Wachstumskritiker Niko Paech (27.04.20 - taz)

taz: Herr Paech, ist die Coronakrise eine Gelegenheit, das Wirtschaftswachstum und die damit einhergehende Umweltzerstörung dauerhaft zu bremsen?

Niko Paech: Ja, die Coronakrise ist eine Chance. Krisen decken Fehlentwicklungen auf: Die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern wie Atemschutzmasken oder Beatmungsgeräten erscheint plötzlich gefährdet. Unser Wohlstandsmodell entpuppt sich als verletzlich. Darauf können wir angemessen nur mit einer Postwachstumsstrategie reagieren.

Was bedeutet das?

Wir müssen auf Wirtschaftswachstum verzichten. Die deutsche Wirtschaft beispielsweise müsste weniger komplex und autonomer werden, damit im Krisenfall alle substanziellen Güter vor Ort hergestellt werden können. Eine Deglobalisierung mindert zwar die Kostenvorteile der entgrenzten Arbeitsteilung, stärkt aber die Stabilität. Das hat ökologische und soziale Wirkungen.

Welche?

Kürzere Wertschöpfungsketten lassen sich demokratischer und ökologischer gestalten, weil wir leichter auf sie einwirken können. Gleichwohl kann dies die Arbeitsproduktivität senken. Also steigen die Preise, während die Auswahl und die Produktionsmengen sinken, tendenziell auch die Löhne. Einfach weil Unternehmen dann die Produktion nicht mehr so leicht in spezialisierte Teilprozesse zerlegen und sie an die jeweils kostenoptimalen Standorte verschieben können. Dann werden die Menschen sich nicht mehr so viel leisten können. Die bessere Welt kriegen Sie nicht zum Nulltarif. Aber das bringt Krisenstabilität und neue Arbeitsplätze, wenngleich weniger im akademisierten als im handwerklichen Bereich.

Das werden Regierungen nur machen, wenn die Wähler zustimmen. Ist das zu erwarten?

Noch gibt es dafür keine Mehrheit. Aber die Coronakrise deckt für mehr Menschen auch Sinnkrisen auf. Viele Menschen leben nicht nur materiell, sondern auch psychisch über ihre Verhältnisse. Durch die Zwangspause vom Leistungsstress spüren sie, was ihnen zuvor verborgen blieb: Ein stressfreieres und verantwortbares Leben zum Preis von weniger Konsum- und Reisemöglichkeiten ist vielleicht gar kein schlechter Deal, zumal sich die Balance zwischen beidem austarieren lässt. Manche werden gar nicht mehr zurück ins Hamsterrad wollen, sondern möchten etwas von dem, was sie jetzt als Entlastung erleben, in die Post-Corona-Zeit hinüberretten.

Warum sind Sie eigentlich da so optimistisch?

Es mehren sich Erlebnisberichte darüber, wie Menschen die freigestellte Zeit genießen. Viele räumen auf, reparieren, arbeiten im Garten, lesen viel oder wenden sich Familienmitgliedern zu.

Ist es nicht wahrscheinlicher, dass viele Leute ihre jetzt unterdrückten Konsumwünsche nach der Krise erst recht ausleben?

Kann gut sein, dass sich manche in „Wohlstandstrotz“ üben werden. Aber von Krise zu Krise wächst der Anteil der Menschen, die sich dem Steigerungswahn verweigern und ökologischen Vandalismus missbilligen. Das kann neue gesellschaftliche Konflikte verursachen – aber ohne die wird es keinen Wandel geben.

Viele Eltern haben in der Corona­krise sogar mehr Stress, weil die Kinderbetreuung fehlt. Zahlreiche Menschen entwickeln Zukunftsängste. Kann daraus wirklich etwas Positives entstehen?

Früher oder später wird die Angst um die Überlebensfähigkeit unserer Zivilisation größer sein als die Angst vor dem Wohlstandsverlust, der sich zudem begrenzen und ertragen ließe. Aber je weniger Konsequenzen Richtung Postwachstumsökonomie gezogen werden, desto mehr gilt: Nach der Krise ist vor der Krise.

Heißt das: Je häufiger Krisen kommen, desto schneller gibt es eine Mehrheit für Degrowth?

Ja. Die Lehman-Brothers-Krise 2009 galt als schwerster Einbruch seit dem Schwarzen Freitag 1929. Jetzt sind gerade kaum mehr als zehn Jahre vergangen und eine noch schlimmere Krise breitet sich aus. Die Einschläge rücken näher. Lehman, Corona und die absehbar nächsten Krisen haben dieselbe Ursache: eine Lebensform, die auf blindwütiger Digitalisierung, Entgrenzung und Wohlstandsmehrung beruht. Weil diese Entwicklung weitergeht, sind die Ursachen der nächsten Krise bereits angelegt.

Inwiefern?

Im Wettbewerb um die Wählergunst überbieten sich Parteien darin, kurzfristig Symptome zu lindern, also alles, was nicht bei fünf auf den Bäumen ist, mit viel und billigem Geld zu übergießen, statt Strukturen so zu verändern, dass langfristig das Krisenrisiko sinkt. Insoweit dies auf Schulden basiert, steigt die Wahrscheinlichkeit einer Finanzkrise. Es fehlt der Mut, eine Vermögensabgabe oder einen Lastenausgleich in Gang zu bringen, um diese Kosten durch Umverteilung zu finanzieren. Die Angst davor, dass dies Wählerstimmen kostet, ist noch zu groß.

Microsoft-Gründer Bill Gates sagt: Es wird zum Beispiel weniger Geschäftsreisen geben und dafür mehr Videokonferenzen. Gibt das Hoffnung?

Wenn Bill Gates das sagt, verbirgt sich dahinter die Hoffnung auf den Durchmarsch der Digitalisierung. Aber die Coronakrise ist gerade eine Krise der Digitalisierung.

Das Virus ist doch nicht über das Internet übertragen worden.

Ohne hinreichende Globalisierung des Personen- und Güterverkehrs wäre aus einer Epidemie keine Pandemie geworden. Und die entgrenzte Verflechtung zwischen Ländern beliebiger Entfernung, so auch zwischen China und Europa, ist ein Produkt der Digitalisierung – ganz gleich ob durch erschwingliche Direktflüge von Wuhan nach Italien oder intensive Wertschöpfungsbeziehungen. Nur kraft digitaler Medien konnte der bayerische Autozulieferer, bei dem der erste deutsche Coronafall festgestellt wurde, in China produzieren: Eine chinesische Webasto-Mitarbeiterin trug das Virus nach Deutschland. Die Digitalisierung ist zugleich Basis und Brandbeschleuniger aller Modernisierungskrisen.

In welchen Bereichen sollte die Globalisierung zurückgefahren werden?

Wenn Produkte, für die globale Lieferketten oder Verflechtungen in Kauf genommen werden, eines dieser vier Kriterien erfüllen, sollten sie im Inland erzeugt oder komplett vermieden werden. Erstens: Sie sind purer Luxus. Zweitens: Sie verursachen große ökologische Schäden. Drittens: Ihre Bereitstellung ist von sozialen Verwerfungen begleitet. Oder viertens: Sie sind so essenziell, dass ihre auswärtige Produktion zu kritischen Abhängigkeiten führt.

Konkret: Auf welche Produkte sollten wir verzichten?

Ein Leben ohne Mango, Kiwi, Avocado und Futterimporte für die Fleisch­industrie zum Beispiel ist erträglich. Das gilt auch für Kreuzfahrten und Urlaubsflüge.

Warum nennen Sie Lebensmittel zuerst?

Es handelt sich um das substanziellste Grundbedürfnis. Außerdem verursacht die konventionelle Landwirtschaft aufgrund ihres globalen Verflechtungsgrades soziale und ökologische Verwerfungen: Landgrabbing, die Urwaldzerstörung für den Futtermittelanbau, die Überschwemmung afrikanischer Märkte mit Hähnchenteilen und vieles mehr. Weiterhin leisten wir uns den Luxus einer quasi Sklavenhalterwirtschaft, indem Fremdarbeiter aus Rumänien sogar eingeflogen werden, weil es unter der Würde junger Menschen in Deutschland ist, die für den Wohlstand nötige Arbeit selbst zu verrichten. Landwirtschaftliche Arbeit müsste wieder attraktiver werden – als Alternative zu Work and Travel und Akademisierungswahn.

Eine umweltfreundlichere Landwirtschaft setzt zum Beispiel weniger Pestizide ein. Deshalb werden mehr Arbeitskräfte etwa zum Unkrautjäten benötigt. Wie wollen Sie Leute motivieren, auf den Höfen zu arbeiten?

Die Attraktivität steigern würden angemessene Löhne und eine 20-Stunden-Woche, sodass Freiräume für andere, auch wissensintensive Aktivitäten entstehen. Zudem erhöht der ökologische Landbau die Sinnstiftung und Reputation der Arbeit.

Gerade haben wir kein Wachstum mehr – und die Arbeitslosigkeit steigt. Zeigt das, dass Degrowth schädlich ist für uns?

Auch für einen Bankräuber ist es schädlich, ihm die Beute zu entreißen. Unser Wohlstand resultiert nicht aus eigener Arbeit, sondern technologisch verstärkter Plünderung, bedürfte also ohnehin einer Korrektur. Arbeitslosigkeit kann durch eine verringerte Erwerbsarbeitszeit vermieden werden, sagen wir: 20 Stunden pro Woche. Daran ließe sich die wichtigste Maßnahme knüpfen, um soziale Verwerfungen zu vermeiden: nämlich Menschen unabhängiger von Konsumbedürfnissen werden zu lassen. Dies gelingt erstens durch mehr Genügsamkeit, die keinen Verzicht, sondern eine Befreiung von Reizüberflutung bedeutet: „All you need is less“ nennen mein Co-Autor Manfred Folkers und ich die neue Maxime. Zweitens sollte die Versorgung teilweise in eigenen Händen liegen, indem Produkte erhalten, repariert, mit anderen geteilt und auch selbst produziert werden. Eine Wirtschaft des Teilens und der Nutzungsdauerverlängerung – auch auf Basis neuer Märkte und Unternehmen – ist eine weitere Alternative zur krisenbehafteten Globalisierung.

Freuen Sie sich über den aktuellen Konjunktureinbruch?

Nein. Wachstumskritik sieht keine Schocktherapie vor, sondern eine sozial verträgliche Transformation.

 

Während in Deutschland die meisten Demonstrationsversuche von der Polizei aufgelöst werden, versammelten sich am Sonntagabend (19.April) in Tel Aviv, der größten Stadt Israels, mehrere tausend Menschen zu einer Protestkundgebung gegen die „Aushöhlung der Demokratie“ durch die Regierung von Benjamin Netanjahu.

Aktionen dieser Art, für die (neben der blauweißen Nationalflagge) schwarze Fahnen zum Symbol geworden sind, finden trotz aller sonstigen, durchaus einschneidenden Beschränkungen des Lebens schon seit Wochen statt. Die Teilnahme an Demonstrationen gehört in Israel neben dem Einkaufen und Arztbesuchen zu den lebenswichtigen Tätigkeiten, die von dem allgemeinen „Lockdown“ ausgenommen sind.

Die gestrige Kundgebung auf dem Rabin Square - benannt nach dem sozialdemokratischen Regierungschef, der dort 1995 von einem rechtsextremen Fanatiker ermordet wurde – trug erstmals einen ausgesprochen politischen Charakter. Zu den nach Veranstalterangaben mehr als 5.000 Menschen, die den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand einhielten, sprachen die wichtigsten Vertreter der Opposition: Jair Lapid und Mosche Ja’alon, deren Parteien am ehesten mit der FDP zu vergleichen sind, Ayman Odeh von der überwiegend arabischen Gemeinsamen Liste, und der Abgeordnete Jair Golan von der linken Meretz-Partei. Diese Kombination wäre noch vor wenigen Monaten unmöglich gewesen, weil die Gemeinsame Liste von fast allen anderen israelischen Parteien konsequent ausgegrenzt wurde.

Die mit dem Coronavirus begründeten Beschränkungen sind ansonsten in Israel ungewöhnlich streng. So wurde erst vor wenigen Tagen der Umkreis um die eigene Wohnung, in dem man Spazierengehen oder Sport treiben darf, wenigstens von 100 auf 500 Meter erweitert. Die Zahl der Teilnehmer an familiären und religiösen Feierlichkeiten bleibt auch nach den gerade verkündeten Erleichterungen auf 20 beschränkt. Aber man begreift dort offenbar, dass das Demonstrationsrecht nicht Gegenstand von Notverordnungen sein darf.

Ganz anders in Deutschland: Selbst kleinste Kundgebungen von mehr als zwei Personen sind verboten, sofern Gerichte nicht im Einzelfall anders entscheiden. Aber sogar die wenigen Urteile, die von deutschen Politikern der Linken als „ermutigend“ gelobt werden, sind meist mit Formfehlern der Verbote begründet und beinhalten sehr niedrig angesetzte Höchstgrenzen für die Teilnehmerzahl. Das lässt im besten Fall peinliche Karikaturen üblicher Demonstrationen zu.

Wir sollten beginnen, das deutsche Grundgesetz mit anderen, aufmerksameren Augen zu lesen. Alles, was dort solide garantiert erscheint, ist in Wirklichkeit jederzeit aufhebbar. Betrachten wir zum Beispiel den Artikel 8. Dessen erster Absatz lautet: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“. Aber sein zweiter Absatz besagt ohne Erläuterungen: „Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden“.

Gerichtsurteile über die gegenwärtig verhängten Verbote fallen von Stadt zu Stadt, von Bundesland zu Bundesland unberechenbar unterschiedlich aus. Das bestätigt den zynischen Spruch, der jedem deutschen Juristen schon im ersten Semester auf den Weg gegeben wird: „Auf hoher See und vor Gericht ist der Mensch in Gottes Hand“.

Nach Ansicht der Bundesregierung soll es unabsehbar lange so weitergehen. Die Kanzlerin und andere maßgebliche Politiker stimmen die Bevölkerung darauf ein, dass „wir“ mit einigen der verordneten Freiheitsbeschränkungen „noch sehr lange leben müssen“. Zumindest bis zur Entwicklung eines Impfstoffs gegen das „neuartige“ Corona-Virus, sagt Angela Merkel. Das Mittel müsste dann allerdings noch ausreichend getestet, in großen Mengen produziert und vermutlich allgemein verpflichtend durchgeimpft werden.

Wie lange kann das noch dauern? Der Multimilliardär Bill Gates, der oft als „Impfpapst“ bezeichnet wird und an der Materie in höchstem Maß geschäftlich interessiert ist, spricht von mindestens 18 Monaten und hält diese Einschätzung für optimistisch, da dieser Vorgang normalerweise viel länger dauere:

https://www.telegraph.co.uk/global-health/science-and-disease/masks-tests-treatments-vaccines-need-global-approach-fighting/

Es könnte noch schlimmer kommen: Einer der wichtigsten Experten auf diesem Gebiet,  David Nabarro, hat gerade verkündet, die Menschheit werde mit der Bedrohung durch das Corona-Virus „auf absehbare Zukunft leben müssen“. Es sei nämlich überhaupt nicht sicher, dass dagegen jemals ein Impfstoff hergestellt werden kann. Nabarro ist Professor für Globale Gesundheit am Londoner Imperial College und einer der Sonderbeauftragten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für die COVID-19-Erkrankung, die vom Corona-Virus ausgelöst werden kann:

https://www.theguardian.com/world/2020/apr/18/dont-bet-on-vaccine-to-protect-us-from-covid-19-says-world-health-expert#maincontent

Vor diesem Hintergrund wäre es fatal, wenn die deutsche Linke bei ihrer gegenwärtig vorherrschenden Haltung bliebe, die zeitlich unbegrenzte Außerkraftsetzung zentraler Grund- und Menschenrechte als alternativlos notwendig zu akzeptieren und sogar für deren Akzeptanz durch die Bevölkerung zu werben. Es geht nicht um eine „kurze Durststrecke“. Es geht nicht um drei Monate oder ein Jahr. Es geht um unsere Zukunft auf lange Sicht.

20. April 2020

 

Die Corona-Krise legt offen, dass eine andere Gesellschaft möglich ist. Ob sie unter den jetzigen Bedingungen eine bessere wird, ist allerdings zu bezweifeln.
 

 

Von Klaus Dörre  -  17.04.2020 ( Dörre ist Gründungsmitglied des Institut Solidarische Moderne und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac)

 

Die Welt ist im Ausnahmezustand. Ursache ist COVID-19 – ein Virus, für das es derzeit keine Therapie gibt. Dieser Krankheitserreger wirkt antisozial. Der einzige Schutz ist Social Distancing. Hält man Abstand und bleibt zuhause, bedeutet das radikale Entgesellschaftung, ja Entgemeinschaftung menschlichen Lebens. Jede andere Person kann das Virus übertragen. Deshalb müssen soziale Netzwerke und digitalisierte Kommunikation einstweilen ersetzen, was sonst Direktkontakte zwischen Menschen leisten.

 

Steckt in der Corona-Krise dennoch eine Chance? Manche Debatten in den Sozialwissenschaften, aber auch in gesellschaftlichen Öffentlichkeiten legen das nahe. Ich halte von solchen Einschätzungen nichts. Werden sie aus der Bauchnabelperspektive privilegierter Professoren mit hohen Einkommen und schönen Wohnungen geführt, wirken sie bestenfalls peinlich. Nur wer sich selbst dauerhaft auf der sicheren Seite wähnt, kann den Shutdown als günstige Gelegenheit zu Entschleunigung und der Abkehr von Wachstumszwängen interpretieren. Werden die Bauchnabelperspektiven saturierter Milieus generalisiert, können all jene, die unter den Einschränkungen massiv leiden, das wohl nur als zynisch empfinden.

 

Um es klar zu sagen: An der Pandemie und der von ihr verursachten globalen Gesellschaftskrise ist nichts gut. Statt die oft gehörte Phrase von der Krise als Chance einmal mehr zu variieren, macht es Sinn, nach der gesellschaftsverändernden Dynamik der Pandemie zu fragen.

 

Die Seuche ist ein externer Schock, der Gesellschaften jedweden Typs hart trifft. Wir kennen dies aus den Analysen Fernand Braudels. Der Kapitalismus werde nicht »durch endogenen Zerfall zugrunde gehen«, »nur ein äußerer Stoß von extremer Heftigkeit im Verein mit einer glaubwürdigen Alternative« könne »seinen Zusammenbruch bewirken«, lautete die Prognose des bekannten Historikers.

 

Ist die Corona-Pandemie ein solcher Stoß? Wir wissen es nicht. Offensichtlich ist jedoch, dass eine glaubwürdige Alternative zum Kapitalismus derzeit nur in vagen Umrissen existiert. Deshalb ist es grundfalsch, dem Wünschbaren den Rang eines wahrscheinlichen Zukunftsszenarios zu verleihen.

 

Eine humane und materielle Katastrophe

 

Um ein Gespür für die Politische Ökonomie der Krise zu entwickeln, müssen wir uns zunächst vor Augen führen: COVID-19 ist lebensgefährlich. Die Pandemie bedroht Hunderttausende mit dem Tod, macht Millionen erwerbslos und nimmt Milliarden zeitweilig wichtige Grundrechte. Je länger die Pandemie dauert, desto gewaltiger werden sich ihre kulturellen, sozialen und ökonomischen Destruktivkräfte entfalten.

 

Zweifellos steuert die Weltwirtschaft auf eine tiefe Rezession zu, die laut IWF heftiger ausfallen könnte als der globale Crash von 2007-9. Im optimistischsten Fall endet der Shutdown nach wenigen Wochen. Selbst dann müssten Staaten wie Deutschland mit Wachstumseinbrüchen von ca. vier Prozent rechnen. Ein dreimonatiger Shutdown könnte zu einem wirtschaftlichen Einbruch um bis zu 20 Prozent führen. Die Bundesrepublik hätte dann bis zu 5,5 Millionen Menschen in Kurzarbeit. Das geschähe in einem reichen Land, welches trotz aller Einschnitte noch immer über einen wirkmächtigen Wohlfahrtsstaat verfügt.

 

Wo derartige Sicherheitsnetze nicht oder nur rudimentär vorhanden sind, werden die Folgen ungleich heftiger ausfallen. Allein in den USA haben sich binnen einer Woche etwa sechs Millionen Menschen erwerbslos gemeldet. Die Abermillionen informell Tätiger und illegal lebender Migranten, für die Abstandhalten überall auf der Welt unmöglich ist, werden nicht einmal von der Arbeitslosenstatistik erfasst.

 

Absehbar ist, dass jene Staaten am besten durch die Krise kommen werden, die über ein robustes Gesundheitssystem und einen halbwegs krisenfesten Wohlfahrtsstaat verfügen. Damit ist auch klar, wer die Krisenfolgen besonders hart zu spüren bekommt – in Europa die süd- und südosteuropäischen Gesellschaften. Die hohen Todesraten bei Corona-Infizierten in Spanien und Italien hängen zweifellos mit Einsparungen im Gesundheitswesen zusammen, die von der europäischen Austeritätspolitik erzwungenen wurden. Auch in Großbritannien ist ein ausgeblutetes Gesundheitssystem für die hohe Mortalitätsrate mitverantwortlich. In diesen Staaten und selbst in den USA ist die Lage aber noch ungleich besser als in den meisten Ländern des globalen Südens.

 

Am verwundbarsten ist wohl der afrikanische Kontinent. Während das Verhältnis von Ärzten zu Menschen in Europa durchschnittlich bei 1:300 liegt, kommen in Subsahara-Afrika etwa 5.000 Menschen auf einen Arzt. Nur Südafrika verfügt über ein halbwegs ausgebautes Gesundheitswesen mit 3.000 Intensivbetten. Die Millionen, die in Elendsquartieren hausen, teilweise an Unterernährung leiden und Social Distancing nicht einhalten können, haben dem Virus wenig entgegenzusetzen. Sollte sich die Pandemie in den 54 afrikanischen Staaten rasch ausbreiten, könnte sie im schlimmsten Fall bis zu zehn Millionen Menschen das Leben kosten.

 

Zerreißproben auf allen Ebenen

 

Solche Katastrophenszenarien vor Augen wird klar, weshalb Staaten, die es sich leisten können, alles daransetzen, um den Shutdown wirtschaftlich zu überbrücken. Vieles, was lange als unumstößliche ökonomische Wahrheit galt, wird nun über Bord geworfen: Schuldenbremse – passé! Schwarze Null in öffentlichen Haushalten – war gestern, Staatsschulden – absolut angesagt! Die US-Regierung investiert mehr als zwei Billionen Dollar, um ihre Wirtschaft zu stabilisieren. Auch Deutschland und die EU legen Rekordprogramme auf. Doch ist dies bereits ein Indiz für einen nachhaltigen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel?

 

Ein Blick auf die europäische Realität weckt Zweifel. Zwar fragen sich viele, wie es zu bewerten ist, dass die kapitalistische Weltwirtschaft zum zweiten Mal binnen zehn Jahren mit nicht-marktwirtschaftlichen Mitteln gerettet werden muss. Als »schwarzen Schwan« wird man solche Ereignisse künftig sicher nicht mehr abtun können. Dennoch hoffen politische und Wirtschaftseliten in erster Linie auf einen raschen Wachstumsschub nach der Pandemie. In Deutschland sagen regierungsnahe Ökonomen, die »Wirtschaftsweisen«, in einem von mehreren Risikoszenarien fast fünf Prozent Wachstum für 2021 voraus. 

 

Ob es dazu kommt, ist völlig ungewiss. Für den »Exportweltmeister« Deutschland hängt vieles davon ab, wie rasch sich Länder wie China und die europäischen Nachbarn erholen. Während sich in China bereits ein fragiler ökonomischer Aufwärtstrend abzeichnet, bereitet die europäische Binnenökonomie die größten Sorgen. Eigentlich müsste die Bundesregierung deshalb an raschen Hilfen für die am stärksten gebeutelten Länder der EU hochgradig interessiert sein. Stattdessen blockiert sie im Bündnis mit den Niederlanden Corona-Bonds.

 

Dieses Instrument würde eine gemeinsame Kreditaufnahme der EU-Staaten an den Finanzmärkten als solidarisches Mittel der Krisenbewältigung ermöglichen. Dass sich der italienische Premier Giuseppe Conte in Sachen Corona-Bonds quasi als Bittsteller per TV an die deutsche Bevölkerung wenden musste, während in der Merkel-Regierung vor allem über das Tragen von Mundschutz diskutiert wurde, ist ein Skandal, der seinesgleichen sucht.

 

Contes symbolischer Kniefall zeigt exemplarisch, dass die Bewältigung der Seuche im internationalen Staatensystem längst zum Gegenstand eines Ringens um künftige Vormachtstellungen geworden ist. Chinesische und russische Hilfssendungen für Italien sind nicht in erster Linie Akte internationaler Solidarität. Sie sollen auch dazu beitragen, das – völlig ungenügende – Krisenmanagement der einstigen westlichen Führungsmacht USA bloßzustellen und aus der inneren Zerrissenheit der Europäischen Union politisches Kapital zu schlagen.

 

»In Zeiten der Pandemie ist Rechtsradikalismus im wahrsten Sinne des Wortes lebensgefährlich.«

 

Tatsächlich bieten die Entscheider in der EU in Sachen Krisenmanagement nicht nur bei den Corona-Bonds ein einzigartiges Trauerspiel. Die Migrationspolitik liefert Anschauungsunterricht. Täglich passieren im Durchschnitt gerade einmal 30 (!) Fluchtmigranten die Außengrenzen der EU. In den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln vegetieren dennoch Zehntausende unter hygienisch katastrophalen Bedingungen vor sich hin. In einigen Lagern ist das Virus nachgewiesen. Doch zunächst hatte sich nur der Zwergstaat Luxemburg bereit erklärt, ein Dutzend unbegleiteter Jugendlicher aus den Lagern aufzunehmen. Zeitverzögert hat die Bundesrepublik mit 50 Jugendlichen nachgezogen – wohlgemerkt: 50 von mehreren Tausend! Derweil stehen in Deutschland und anderswo die 2015 geschaffenen Flüchtlingsunterkünfte leer. Der Arbeitsmarkt in den Zentrumsstaaten wird spätestens nach der Pandemie wieder unter Arbeitskräftemangel leiden.

 

Dies vor Augen, gleicht der Umgang mit den Fluchtmigranten einer moralischen Bankrotterklärung der Europäischen Union. Die Abschottungspolitik verdankt sich nicht zuletzt der Angst vor der anhaltenden rechtspopulistischen Revolte. Diese Angst ist nachvollziehbar, letztendlich aber doch politisch völlig dysfunktional, denn sie öffnet der radikalen Rechten ohne Not Handlungsspielräume. Überall dort, wo Rechtspopulisten wie Trump oder Rechtsradikale wie Bolsonaro regieren, versagt das Krisenmanagement. Wegen Trumps zwiespältiger Haltung sind die USA zum Weltzentrum der Pandemie geworden. Die Staaten der EU hätten allen Grund, sich glaubhaft von einem solchen Versagen abzusetzen. Dazu müssten sie allerdings vor der eigenen Haustüre kehren.

 

Die Lombardei zum Beispiel ist Hochburg der »Lega Salvini Premier« – einer radikal rechten Organisation, die mit der Privatisierung des Gesundheitssystems und der Verharmlosung von COVID-19 als grippalem Effekt für die hohe Sterberate zumindest mitverantwortlich ist. Als die Pandemie längst ausgebrochen war, drängten führende Lega-Politiker Verantwortliche in Pflege und Altenheimen, die wirklichen Todeszahlen zu verschweigen. Wer Mundschutz für das Personal forderte, wurde wegen angeblicher Panikmache mit Entlassung bedroht. Von den 5.060 gemeldet Intensivbetten stellt der seitens der Lega gehätschelte Privatsektor nicht einmal acht Prozent. Das ist einer der Gründe, weshalb Ärzte entscheiden müssen, welche Notfälle sie nicht behandeln, was bedeutet, Schwerkranke dem sicheren Tod zu überlassen.

 

Das Schicksal der Lombardei zeigt: In Zeiten der Pandemie ist Rechtsradikalismus im wahrsten Sinne des Wortes lebensgefährlich. Trotz mancher Verschwörungstheorien im Netz und dem Beschwören von Sündenböcken à la Trump werden Bevölkerungsmehrheiten das registrieren. Eine glaubwürdige Anti-Krisen-Politik der demokratischen Gegenseite vorausgesetzt, könnte die Seuche daher zu einer schweren Niederlage der radikalen Rechten führen.

 

Es kann auch schlimmer werden 

 

Selbst wenn das einträfe, wäre die Corona-Krise aber noch immer keine Chance. Denn es gibt keine Gewähr, dass es bei COVID-19 als »äußerem Stoß« bleibt. Der vorerst etwas in den Hintergrund gedrängte Klimawandel wird möglicherweise eine Reihe externer Schocks auslösen, die ebenfalls ein groß angelegtes staatliches Krisenmanagement erfordern. Denkbar ist, dass der Ausnahmezustand allmählich zum Normalfall wird. Dergleichen hatte Ulrich Beck bereits vor Jahrzehnten vorausgeahnt. Die Risikogesellschaft sei »eine Katastophengesellschaft«, denn in ihr »drohe der Ausnahme- zum Normalzustand zu werden«. Die Corona-Krise gibt Beck zumindest in diesem Punkt recht. Sie ist auch ökologisch ein Desaster, genauer: sie bewirkt degrowth by disaster. Wie schon 2009 werden klimaschädliche Emissionen und vielleicht auch der Ressourcenverbrauch sinken. Es könnte sogar sein, dass Deutschland und andere europäische Staaten ihr Klimaziele wegen des Kriseneinbruchs doch noch erreichen. Das hat aber nichts mit jener sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitsrevolution gemein, die wir weltweit so dringend benötigen.

 

Sichtbar wird immerhin, dass staatliche Politik in Krisenzeiten durchsetzungsfähig ist. Der Staat kann Freiheiten, die Starke auf Kosten von Schwächeren wahrnehmen, durch verbindliche Regeln einschränken – zum Wohle aller oder zumindest großer Mehrheiten. Entscheidend ist immer, dass staatliches Handeln an demokratische Willensbildung rückgebunden bleibt. Demokratie benötigt jedoch öffentlichen Streit, Disput, Versammlungen, Demonstrationen, Streiks. Diese Grundrechte müssen dauerhaft gesichert bleiben trotz Krisen jeglicher Art. Demokratie verkörpert das Gegenteil des Ausnahmezustands. Freiheit, die demokratischen Regeln entspricht, besitzt stets eine verbindliche soziale Dimension – das gilt besonders für unternehmerische Freiheiten.

 

Nur wenn diese Freiheiten künftig strikt an soziale und ökologische Nachhaltigkeitskriterien rückgebunden werden, besteht überhaupt eine Chance, entsprechende Ziele zu verwirklichen. Das heißt konkret: Die Zivilgesellschaften müssen in demokratischer Weise direkt darauf Einfluss nehmen können, was wozu und zu welchem Zweck produziert und reproduziert wird. Es geht um nicht mehr und nicht weniger, als um eine Umverteilung von Entscheidungsmacht zugunsten der gegenwärtig ohnmächtigen Mehrheiten, und es geht um Klimagerechtigkeit nicht nur in der ökologischen, sondern auch in der sozialen Dimension.

 

»Dass nach der Pandemie eine neue Gesellschaftsordnung entstehen könnte, die, gemessen an dem, was hinter uns liegt, keine bessere wäre, ist eine ernstzunehmende Gefahr.«

 

Betrachten wir einige Fakten: Während die reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung mit ihren luxuriösen Lebensstilen 49 Prozent der klimaschädlichen Emissionen verursachen, sind die untersten 50 Prozent gerade einmal für drei Prozent verantwortlich. Die Zunahme von Emissionen wird immer stärker durch die Einkommensungleichheit innerhalb der Staaten verursacht. 1998 erklärten diese Ungleichheiten etwa 30 Prozent des globalen Emissionszuwachses, 2013 waren es bereits 50 Prozent. Das wohlhabendste eine Prozent in den USA, Luxemburg, Singapur und Saudi-Arabien produziert jährlich 200 Tonnen Kohlendioxid pro Kopf und damit zweitausendmal mehr als die untersten Einkommensgruppen in Honduras, Ruanda und Malawi (0,1 Tonnen pro Person jährlich). Im mittleren Bereich mit ca. sechs bis sieben Tonnen Kohlendioxid bewegen sich u.a. das reichste eine Prozent der Tansanier, das siebte chinesische, das zweite französische und das dritte deutsche Einkommensdezil. Durchschnittlich ist jede und jeder Deutsche jährlich für 11,5 Tonnen Treibhausgase verantwortlich; der Weltdurchschnitt liegt bei ca. 7 Tonnen, jener der EU bei 8,5 Tonnen.

 

Im Selbstlauf wird die Corona-Krise an solchen Disparitäten nichts verändern. Wahrscheinlicher ist, dass die Ungleichheiten innerhalb wie zwischen Staaten und damit auch die Klimaungerechtigkeiten zunehmen. Ökologische Risiken münden jedenfalls nicht in »Allbetroffenheit«, wie Ulrich Beck fälschlicherweise annahm. Im Gegenteil: Je dringlicher die Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen wird, desto heftiger könnten die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe nach der Corona Krise geführt werden.

 

Deshalb benötigen wir am besten schon vor dem Ende der Pandemie eine weltweite Grundsatzdebatte über die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Zukunft. Öffentliche Sozialwissenschaften könnten dieser Debatte als Medium, Spiegel und Sprachrohr dienen. Sie hätten sich mit den Mitteln ihrer Fachdisziplinen auf jene sozialen Phänomene zu beziehen, die uns Zeiten der Seuche immerhin ein wenig Mut machen können. Dazu gehört sicher die Aufwertung des Sozialen, das Bedürfnis nach sozialen Beziehungsweisen, das in Zeiten der erzwungenen Selbstisolation offen zutage tritt.

 

Während der Pandemie und danach

 

Vielen Menschen sind, das lernen wir aus der Selbstbeschränkung auf digitale Kommunikation, reale Sozialkontakte am Arbeitsplatz und in der Privatsphäre besonders wichtig. Handy, Videokonferenz und Chatroom können solche Kontakte nicht ersetzen. Das gilt für die Arbeitsprozesse insgesamt. Selbst eine schwere, monotone Tätigkeit lässt sich besser ertragen, wenn die Chemie unter den Arbeitenden stimmt. Der Zusammenhalt am Arbeitsplatz fällt in der Corona-Krise weitgehend weg. Allerdings erhalten Busfahrer, Kassiererinnen, Altenpfleger oder Krankenschwestern mehr Anerkennung von Kunden und gesellschaftlicher Öffentlichkeit.

 

Dafür, dass dieser Anerkennungszuwachs nach der Pandemie anhält und sich für die Beschäftigten auch materiell niederschlägt, gibt es indes keine Gewähr. Um so dringlicher wird als integraler Bestandteil der ökologisch-sozialen Nachhaltigkeit eine »Care-Revolution«, die diese unverzichtbare aber überwiegend schlecht bezahlte Tätigkeiten ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit rückt. Wir alle nehmen gegenwärtig wahr, was tatsächlich lebenswichtig ist: Ohne Profifußball lässt es sich auch für Fußballfans über längere Zeiträume hinweg sehr gut leben, nicht aber ohne Bäckerinnen, Landwirte, Arzthelferinnen, LKW-Fahrer und hilfsbereite Nachbarn. Wir alle brauchen eine gut funktionierende soziale Infrastruktur. Die muss zu einem bevorzugt finanzierten öffentlichen Gut werden. Nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa und auf der Welt. Für eine soziale Infrastruktur, die Basisgüter bereitstellt, zu streiten, wäre ein erster kleiner Schritt, um aus einer verheerenden Katastrophe doch noch Spielraum für Weichenstellungen zugunsten progressiver Gesellschaftsentwicklungen zu gewinnen.

 

Für allzu großen Optimismus gibt es indes keinen Anlass. Die Feministin Silvia Federici hat anhand des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus gezeigt, wie die schwarze Pest – ein externer Schock von entsetzlichen Ausmaßen – zu Arbeitskräfteknappheit führte und deshalb vorübergehend größere Freiheiten für Frauen und subalterne Klassen mit sich brachte. Der Gegenschlag herrschender Klassen folgte prompt. Kapitalismus war das Resultat. Man muss dieser Erzählung nicht folgen. Und wir wissen auch: Dass nach der Pandemie eine neue Gesellschaftsordnung entstehen könnte, die, gemessen an dem, was hinter uns liegt, keine bessere wäre, ist eine ernstzunehmende Gefahr. Wir sollten ihr mit leidenschaftlichem Engagement, aber auch mit dem gebotenen Realitätssinn begegnen.

https://jacobin.de/artikel/klaus-dorre-corona-krise-chance/

 

Globale Armut und Naturzerstörung solidarisch überwinden – Gutes Leben für alle!
    
Der drohende globale Klimakollaps bedroht auf vielfache Weise die Lebensgrundlagen von Menschen weltweit. Das weltweit vorherrschende, kapitalistisch geprägte Wachstumsmodell hat einen Grad von Ressourcenverbrauch und Schadstoffausstoß erreicht, der zur Umkehr zwingt. Ein Fortbestehen dieses Wirtschaftsmodells vertieft weltweit die Klimakrise. Dieses Wirtschaftsmodell hat auch sein Wohlstandsversprechen nicht eingelöst, vielmehr die soziale Spaltung innerhalb und zwischen den Gesellschaften vertieft und damit Millionen Menschen in die Migration getrieben.  Hauptbetroffene sind verstärkt Menschen im globalen Süden, die am wenigsten den Klimawandel verursacht haben. Ein auskömmliches Überleben wird nur durch eine drastische Reduzierung  von Treibhausgasen und Ressourcenverbrauch möglich sein. Ein Systemwechsel ist nötig.
Die Vereinbarungen des COP23 von Paris 2105, Erderwärmung auf 1,5 Grad bis 2100 begrenzen zu wollen, waren ein Signal für mögliche Veränderung. Die notwendigen Maßnahmen sind in den Verhandlungen nicht durchzusetzen, solange die großen Industrieländer nicht bereit sind, ihre wachstums- und profitgetriebene Wirtschaftsweise zu ändern.
Diese zerstörerische Wirtschaftsweise gerät jedoch zunehmend unter Druck. Waren schon die Pariser Vereinbarungen nur durch zivilgesellschaftlichen Druck möglich, engagieren sich weltweit  in den letzten Jahren immer mehr Menschen für Klimagerechtigkeit. Die Klimagipfel seit 2015 sind begleitet von Protesten. Beim letzten Gipfel in Madrid wurden sie geprägt durch Stimmen  aus dem globalen Süden gegen den fortbestehenden Kolonialismus der Industrieländer und extraktivistische Wirtschaftsmodelle der eigenen Regierungen.  Die Friday For Future-Bewegung hat in diesem Jahr Millionen vor allem Jugendliche auf die Straße gebracht, um Politik zum Handeln zu zwingen. Als Attac unterstützen wir die neuen jungen Bewegungen und sind selbst als Teil der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv.
Bundesregierung und EU-Kommission reagieren mit Mogelpackungen. Einerseits werden ambitionierte Ziele propagiert. So sollen in der EU die Treibhausgase bis 2030  um 50-55%, gemessen am Stand von 1990, sinken. Die dafür vorgesehenen Maßnahmen sind jedoch in ihrem Ansatz falsch und unzureichend.
Das Klimapaket ist im Ansatz falsch, da Treibhausgase hauptsächlich über Marktmechanismen wie  Anreize, Zertifikatehandel oder CO2-Bepreisung reduziert werden sollen. So dringend notwendig Bepreisung von Klimaschädlichkeit  etwa beim Gütertransport ist,  lässt sich die Krise jedoch nicht mit denselben Mechanismen bekämpfen, die sie verursacht haben. Daher sind  klare ordnungspolitische Maßnahmen zum Erreichen der Reduktionsziele notwendig. Dazu gehören enge Grenzwerte, kurze Ausstiegszeiträume oder Verbote für schädliche Verfahren und Produkte.
Das Klimapaket ist unzureichend, weil aus Rücksicht auf die Interessen z.B. der Energie- und Automobilkonzerne notwendige Einschnitte wie ein schneller Ausstieg aus fossilen Energien oder radikaler Rückbau der Autoindustrie unterbleibt. Beides ist nur mit Entmachtung der Konzerne möglich. Beides ist auch als gesellschaftliche Aufgabe unter Einbeziehung der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften sozial verträglich gerecht möglich.
International wird inzwischen ein „ Green New Deal“ zur Rettung vor dem Klimakollaps diskutiert. Die Frage   ist dabei, ob mit öffentlichen Investitionen in klimafreundliche Technologien Wachstum, soziale Gerchtigkeit  und ökologische Nachhaltigkeit  versöhnt werden können.  Angloamerikanische Vertreter*innen   verbinden mit  Green New Deal eine Umverteilung von Reichtum und  Machtbegrenzung von Kapital. Ihr Konzept  zwingt die Menschen nicht, „sich zwischen der Sorge um das Ende der Welt und der Sorge um das Ende des Monats zu entscheiden“ wie Naomi Klein betont. Eindrückliches Beispiel dafür, wie die ökologische gegen die soziale Frage ausgespielt werden sollte, war die Erhöhung der Mineralölsteuer in Frankreich, die zum Protest der Gelbwesten geführt hat.  
Die EU-Kommision versteht  Green  Deal als ein Programm, durch „grüne Technologien“ europäischen  Konzernen neue Märkte zu erschließen. Abgesehen davon, dass damit höherer Ressourcenverbrauch nicht ausgeschlossen wird, dienen solch expansionistische Strategien der Verfestigung von Machtungleichgewichten und verstärken weltweite soziale Spaltung, statt sie zu überwinden.
Eine ökologisch tragfähige und sozial gerechte Wirtschaftsweise wird nur möglich sein, wenn der Markt als Allheilmittel zur Lösung der Probleme ersetzt wird durch umfassende gesellschaftliche Kontrolle über Produktion und Verteilung von Gütern.

Mit der Krise der Profitmaximierung ab den 1970ger Jahren wurde Kapital verstärkt in Finanzmärkte investiert und hat damit weltweit die  sozialen Lebensverhältnisse durchdrungen.   Ausgehend von der Auseinandersetzung um Kontrolle der Finanzmärkte war  die Kritik an den katastrophalen Auswirkungen der damit verbundenen  kapitalistisch geprägten Globalisierung zentraler Bezugspunkt von Attac. Dabei standen rund um die Weltsozialgipfel zuerst die sozialen Verwerfungen im Mittelpunkt. Mit der Zuspitzung der Klimakrise und ihrer öffentlichen Wahrnehmung ist auch für Attac die Notwendigkeit der Verknüpfung der sozialen mit der ökologischen Frage unumgänglich geworden. Erstmals haben wir diese Verknüpfung  2011 mit dem Wachstumskongress hergestellt und 2015 mit der Kampagne „Globale Armut und Naturzerstörung solidarisch überwinden“ offiziell zum Thema gemacht. 2018 haben wir sozial-ökologische Transformation als Schwerpunkt der Attac-Arbeit beschlossen und bearbeiten seit Frühjahr 2019 mit der Kampagne „einfach.umsteigen – Klimagerechte Mobilität für alle!“ beispielhaft den ersten Themenschwerpunkt. Weitere sollen folgen.
Uns ist klar: Ein Systemwechsel ist nötig. Wir brauchen „System Change – not climate change“. Der Begriff „Sozial-ökologische Transformation“ steht für diesen Systemwechsel, den wir in allen Lebensbereichen benötigen. Wir brauchen eine Energiewende, die auf erneuerbare Energien in Bürger*innenhand setzt. Wir brauchen eine Agrarwende, die statt exportgetriebener Massenproduktion auf die Förderung ökologisch-solidarischer Landwirtschaft setzt. Wir brauchen  industrielle Abrüstung, in der überflüssige Produktion – zuallererst Rüstung – durch gesellschaftlich nützliche Produktion ersetzt wird.  Wir wollen in solidarischen Kommunen leben, die den Menschen ein Auskommen,  gute Bildung, Pflege, Gesundheit und Mobilität gewährleisten. Einrichtungen der Daseinsfürsorge gehören in öffentliches Eigentum und dürfen nicht den Einflüssen der Finanzmärkte ausgesetzt werden.  Bezahlbares Wohnen in energetisch wärmegedämmtem Wohnen muss sichergestellt und darf nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Das alles geht nur durch  umfassende demokratische Teilhabe in allen Lebensbereichen. .  Die Menschen müssen ermächtigt werden und  Gelegenheit bekommen, über die Ausgestaltung einer emanzipatorischen Gesellschaft entscheiden. Dafür ist mehr Zeit und Demokratie nötig, dafür müssen  den Finanzmärkten Ressourcen entzogen und in sozial-ökologische Aufgaben investiert werden.
Diese Ziele treffen auf eine globale Realität, die seit Gründung von Attac nicht einfacher geworden ist. Der Zerfall alter Machtblöcke in eine multipolare Welt macht die Verhältnisse komplexer und  unübersichtlicher und befördert autoritäre Regierungen. Der Kampf um Macht, Zugänge und Ressourcen  führt verstärkt zu Kriegen, die zusammen mit den Folgen der Klimakrise immer mehr Menschen in die Migration treiben. Technologische Veränderungen, allen voran Digitalisierung,  verändern die sozialen Beziehungen und tragen zu weiterer gesellschaftlicher Polarisierung bei. Der Anteil der Menschen, die rechte, nationalistische Auswege aus der Krise wählen, nimmt zu und befördert die Einengung demokratischer Spielräume.
Fast alle Sektoren des gesellschaftlichen Lebens sind  heute dominiert und verknüpft durch Kapitalverwertungsinteressen, die weltweit ein ökologisch nachhaltiges und sozial gerechtes Leben für die meisten Menschen verhindern.  Diese Erkenntnis prägt die unterschiedlichen Arbeitsfelder  von Attac. Mit  unser Erfahrung aus 20 Jahren Attac sind wir gefordert, unsere Expertisen  in die gesellschaftliche Diskussion und die Auseinandersetzung um emanzipatorische  Lösungen  einzubringen. Dazu dient u.a. die Attac-Sommerakademie,  die wir 2020 unter das Motto „System Change – Welches System?“ stellen.
Auf welchem Weg eine sozial-ökologische Transformation durchgesetzt werden kann und wie diese andere Welt aussieht, ist ein langfristiger Prozess und Ergebnis vielfältiger Auseinandersetzungen Attac ist Teil des emanzipatorischen Lagers und beteiligt sich aktiv an den Kämpfen für ein „gutes Leben für alle“ 

Wir zeigen an dieser Stelle lediglich auf, welche wesentlichen Hindernisse zu überwinden sind und in welche Richtung emanzipatorische Lösungen gehen können:

  • Während  soziale Spaltung und Armut auch im globalen Norden zunimmt, lässt eine „imperiale Lebensweise“   viele Menschen hier in – unterschiedlich ausgeprägtem - materiellen Überfluss  leben und trägt zur Klimazerstörung  bei, Daraus erwachsene  unnötige Produktion muss abgebaut und stattdessen materielle Versorgung weltweit sichergestellt werden.

 

  • Kapitalistisch geprägte globale Arbeitsteilung und weltweite Lieferketten haben  weltweit Armut und Ungleichheit  verfestigt und tragen massiv zur Klimazerstörung bei.  Sie sind  durch regionale, gemeinwohlorientierte Produktionsnetze zu ersetzen.

 

  • Erpresserische Handelsverträge verhindern in wirtschaftlich schwächeren Ländern eigenständige industrielle und landwirtschaftliche Entwicklung und sind abzuschaffen.

 

  • Deregulierte Finanzmärkte beschleunigen Konzentration von Reichtum und verursachen Wirtschaftskrisen. Sie müssen entmachtet, Reichtum muss verteilt und finanzielle Ressourcen müssen gezielt  in sozial-ökologische Projekte fließen.

 

  • In einer zunehmend desintegrierten Welt nehmen Kriege um die Sicherung und Ausweitung von Macht und Ressourcen zu. Dagegen ist ein ein belastbares UN-geführtes Sicherheitsregime einzuführen.

 

  • Rüstung und Kriege führen  neben ihrem todbringenden Wesen zu gigantischer Ressourcenverschwendung und müssen durch radikale Abrüstung ersetzt werden.

 

  • Zerstörerische industrialisierte Agrarwirtschaft ist zu ersetzen durch bäuerliche, gesunde  und Ernährungssouveränität sichernde Landwirtschaft.

 

  • Weltweit wachsender individueller Autoverkehr trägt wesentlich zur Klimazerstörung bei und ist in großen Teilen durch ein öffentliches Verkehrsnetz zu ersetzen, das allen Menschen Mobilität sichert.

 

  • Die Nutzung fossiler Energien muss schnell durch erneuerbare Energien ersetzt und diese ressourcenschonend eingesetzt werden.

 

  • Soziale Sicherungssysteme, Gesundheit und Alterssicherung  werden verstärkt abgebaut, privatisiert und zur Kapitalanlage genutzt. Daseinsvorsorge muss von der Logik der Profitmaximierung getrennt und ausgebaut werden und sich am Gemeinwohl und gesellschaftlicher Teilhabe orientieren.

 

  • Zunehmend ungesicherte Arbeitsverhältnisse verschärfen Konkurrenz und Ausbeutung und schließen Menschen aus.  Dagegen sind Arbeitnehmer*innen zu stärken, Arbeitszeit zu verkürzen und ein emanzipatorisches Grundeinkommen durchzusetzen.


In Attac versammeln sich Menschen, die sich für unterschiedliche Themen engagieren. Die  dabei erworbenen  Erkenntnisse und Schlussfolgerungen sind wertvolle Beiträge im Einsatz für eine sozial-ökologische Transformation. Es gilt, sie zusammenführen und im Kampf für eine bessere Welt einzusetzen. Eine sozial-ökologische Transformation dient uns dabei als strategisches Ziel, für das wir uns mit anderen Akteuren aus den sozialen und Klimgerechtigkeitsbewegungen vernetzen.

Koordinierungskreis Attac Deutschland / Januar 2020

 

Die Katastrophe in Australien lässt die Unvereinbarkeit von Kapitalismus und Klimaschutz offen zutage treten

13. Januar 2020 Tomasz Konicz

Es scheint angesichts der apokalyptischen Bilder [1] aus Australien unbegreiflich, dass die Rechtsregierung in Canberra weiterhin auf Kohleförderung und fossile Energieträger setzen will. Die größte, keinesfalls bereits ausgestandene Feuerkatastrophe in der modernen Geschichte des Kontinents kann Premier Scott Morrison, ein bekennender Klimawandelskeptiker und Kohlefan, nicht davon abhalten, weiterhin auf den klimaschädlichen Energieträger zu setzen [2].

Eine radikale Abkehr von der Kohle ist in Australien, einem der größten Emittenten von Treibhausgasen, nicht in Sicht. Regierungsmitglieder bezweifeln weiterhin den Zusammenhang zwischen der Feuerkatastrophe und dem Klimawandel, während Morrison Anfang Januar abermals zusätzliche Anstrengungen zur Absenkung der CO2-Emissionen ausschloss [3].

Angesichts dieses starrsinnigen Festhaltens am Klimakiller Kohle - inmitten einer apokalyptisch anmutenden Brandkatastrophe - stellt sich die simple Frage nach den Ursachen für diese absurd anmutende Haltung Canberras. Was treibt Morrison um? Wie viel Land müsse noch abbrennen, bis "Morrison zur Vernunft" komme, fragte etwa die Frankfurter Rundschau [4]. Die Tageszeitung [5] wusste Anfang Januar zu berichten, dass sich Down Under im Würgegriff der "Kohlelobby" befinde, die die Energiepolitik der Regierung Morrison bestimme.

Bei Spiegel-Online [6] hieß es Anfang Januar, dass Morrison einen Verrat an der Bevölkerung seines Landes begangen habe, indem er ihren Schutz den "Interessen der fossilen Industrie" geopfert habe. Es sei "eine kleine Gruppe in den Führungsetagen der Kohle-, Öl- und Gaskonzerne", die sich an der "fortwährenden Zerstörung des Planeten" bereichere, so SPON, "während die Mehrheit der Menschen die Folgen zu ertragen" habe.

Selbstverständlich sind diese Schilderungen partiell zutreffend, doch geben sie nicht die ganze bittere Wahrheit über den Widerspruch zwischen Kapital und Umwelt wieder. Dass Morrison ein "Kohle-Mann" ist, der nur dank der massiven Schützenhilfe mächtiger Kapitalfraktionen sich an der Macht halten konnte, wussten Telepolis-Leser schon Mitte Dezember (Verbrannte Erde im Murdoch-Land [7]). Doch erklärt dies nicht den unzweifelhaft gegebenen Massenzuspruch, den seine reaktionäre Politik erfuhr. Die massive Propagandakampagne, die Morrison im vergangenen Wahlkampf seitens des reaktionären Medienmoguls Rupert Murdoch erhielt, muss ja tatsächlich eine Mehrheit der Wähler dazu gebracht haben, für den Klimaleugner freiwillig zu stimmen - noch werden die Wähler nicht dazu gezwungen, ihr Kreuz an der "richtigen" Stelle zu machen.

Klimaschutz als Wirtschaftskiller?

Einen ersten Ansatzpunkt hierfür liefert das Argumentationsmuster, wonach der konsequente Klimaschutz, den Morrisons sozialdemokratischer Herausforderer propagierte, zu einer heftigen Wirtschaftskrise führen würde. Die Bergbauindustrie bildet einen zentralen Pfeiler der australischen Volkswirtschaft - ähnlich der deutschen Autoindustrie -, der massive Exporteinnahmen generiert und an dem Hunderttausende von Arbeitsplätzen hängen. Es ist nicht bloß eine "kleine Gruppe in den Führungsetagen", die ein ökonomisches Interesse an der Beibehaltung der "fossilen Industrie" hat, es sind hunderttausende Wähler, die dieser verhängnisvollen fossilen Logik der Leugnung des Klimawandels folgen können - wobei dieses reaktionäre Narrativ auch auf andere Wirtschaftssektoren wie Dienstleistungen oder die Bauwirtschaft, die von einem Verschwinden des Bergbaus betroffen wären, ausstrahlen kann.

Wieso konnte sich der Klimaleugner und Kohle-Mann Morrison bei den letzten Wahlen durchsetzen? Laut jüngsten Schätzungen der australischen Regierung [8] beschäftigt der Bergbau rund 250.000 Lohnabhängige, bei einer jährlichen Wachstumsrate der Beschäftigung von mehr als zehn Prozent. Nach dem öffentlichen Dienst ist der Bergbau die größte "Jobmaschine" des Landes, die dem Rohstoffexporteur einen Großteil seiner Exporteinnahmen beschert.

Die zumeist nach Süd- und Südostasien exportierte Kohle stellt dabei den "schmutzigen Goldesel" Australiens [9] dar. Das Wachstum der Beschäftigung im öffentlichen Sektor des Kontinents wäre kaum möglich ohne die 60 Milliarden australischen Dollar, die der Verkauf des fossilen Energieträgers allein 2018 dem Land einbrachte. 2017 bildeten Kohlebriketts [10] - knapp hinter Eisenerz - das zweitwichtigste Exportgut Australiens. Die Parallele zwischen Australiens Bergbau und der deutschen Autoindustrie als zentralen Pfeilern der Exportwirtschaft ist somit durchaus angebracht.

Diese Argumentation war im Wahlkampf erfolgreich - und der australische Premier bleibt seiner Linie treu. Während vor wenigen Tagen lokale Brände sich zu einem gigantischen "Mega-Feuer" [11] unweit des Mount Kosciuszko vereinten, erklärte Morrison ausdrücklich, dass er es ablehne, Emissionsziele zu formulieren, die "Arbeitsplätze kosteten und die Wirtschaft in Gefahr bringen könnten", wie es die FAZ formulierte.

Die Absurdität der Lage tritt offen zutage: stabiles Klima oder Arbeitsplätze? Sie haben die Wahl! Das ist auch keine australische Besonderheit. Ähnlich argumentiert man beispielsweise auch in Sachsen-Anhalt [12], wo man Angst hat vor Arbeitsplatzverlust in der Braunkohleindustrie. Ein "Grüner" Ministerpräsident kann dann sehr schnell zum Automann [13] werden, wenn es um Arbeitsplätze geht.

Die Befürworter eines "grünen" Kapitalismus sind in solchen Fällen immer schnell mit der Propagierung des Green New Deals [14] zur Stelle, bei dem ein infrastruktureller Umbau des Kapitalismus mit dem Aufstieg der "Ökobranche" zum neuen ökonomischen Leitsektor einhergehen solle. Solarmodule, und Elektroautos statt Kohle, Gas und Erdöl - eine ökologische Transformation des Systems soll die Wirtschaft beleben und gleichzeitig das Klima schützen.

Grenzen des Green New Deal

Das Problem dabei ist, dass der Kapitalismus inzwischen zu produktiv für eine ökologische Transformation ist. Klimaschutz kann nur jenseits des an seinen inneren Widersprüchen scheiternden Kapitals realisiert werden. Die bisherigen Erfahrungen, etwa bei der ökonomisch und ökologisch gescheiterten Energiewende [15] in der Bundesrepublik, deuten eher darauf hin, dass ein Green New Deal ökonomisch, innerhalb des kapitalistischen Verwertungszwanges, nicht aufgeht, obwohl er technisch ohne weiteres möglich wäre. Es ist ja nicht so, als ob es noch nie - vor allem unter Rot-Grün - versucht worden wäre, der Ökobranche zum Durchbruch zu verhelfen. Die Pleite von Solarworld [16] ist ein Symbol für dieses Scheitern der Energiewende an den krisenbedingt sich zuspitzenden "Sachzwängen" des Spätkapitalismus.

In a nutshell: Das global erreichte Produktivitätsniveau führt dazu, dass in der Ökobranche, sobald sie nicht mehr durch staatliche Zuschüsse aufgepäppelt wird, kaum die Massen neuer "Jobs" entstehen können, die notwendig wären, um die infrastrukturelle Transformation des Kapitalismus zu finanzieren. Das Kalkül des Green New Deals beruht ja gerade darauf, dass der Staat Milliarden an Subventionen und Investitionen tätigt - die nicht im Rahmen von Marktprozessen geleistet werden können -, um die infrastrukturellen "Rahmenbedingungen" für einen "Öko-Kapitalismus" zu schaffen. Das erhöhte Steuernaufkommen durch Massenbeschäftigung in den neuen, "grünen" Wirtschaftszweigen würde dazu führen, dass diese staatlichen Aufwendungen sich amortisierten. Aufgrund des hohen Produktivitätsniveaus geht gerade diese Logik nicht mehr auf. Der Green New Deal ist, gesamtwirtschaftlich betrachtet, ein "Verlustgeschäft". Deswegen sprechen auch in Deutschland alle von den Kosten der Energiewende - und nicht von den Chancen der neuen Ökomärkte.

Um es mal konkret zu machen: Könnte Australien tatsächlich so viele Solarpanels, Windkrafträder oder Batterien exportieren, um den Arbeitsplatzverlust und vor allem den Einnahmeverlust aus dem Bergbausektor zu kompensieren - angesichts der großen Konkurrenz etwa chinesischer Solar- und deutscher Windkrafthersteller? Die Einnahmen aus dem Rohstoffexport dienen ja auch dazu, das Wachstum der Beschäftigung im öffentlichen Sektor Australiens zu finanzieren.

Im Kapitalismus befindet sich die gesamte "Arbeitsgesellschaft" am Tropf gelingender Verwertung von Kapital. Nur wenn in der warenproduzierenden "Wirtschaft" im ausreichenden Maße aus Geld mehr Geld gemacht werden kann, gibt es Arbeitsplätze, genügend Steueraufkommen für den öffentlichen Sektor, für Kultur, Sozialleistungen, etc. Aus diesem Verwertungszwang des Kapitals resultiert der volkswirtschaftlich wahrnehmbare Wachstumszwang des Systems, der die menschliche Zivilisation akut bedroht. Gesamtgesellschaftlich dient dieser amoklaufenden Verwertungsbewegung des Kapitals die Welt als bloßes konkretes "Material", als notwendiges Durchgangsstadium, um vermittels Lohnarbeit aus Geld mehr Geld zu machen. Die gesamte kapitalistische Gesellschaft ist dieser Welt-vernichtenden Eigendynamik des Kapitals ausgeliefert, die sie unbewusst, weitervermittelt herstellt.

Und auch dies lässt sich am Beispiel Australiens konkret illustrieren. Ein Auskommen als Lohnabhängiger hat man nur, wenn etwa ein Bergbaukonzern diese Arbeitskraft benötigt, um eine Ware, etwa Kohlebriketts, herzustellen, die mit Gewinn veräußert werden kann, etwa in China, wo die Nachfrage nach Kohle aufgrund immer neuer Kohlekraftwerke [17] stark ansteigt. Der Lohnabhängige hat somit nur dann ein Auskommen, wenn sein Konzern profitabel ist. Das ist die übliche Logik, die allgemein als "natürlich" akzeptiert ist. Und es ist gerade dieser - betriebswirtschaftlich scheinbar vernünftige - Zwang zur höchstmöglichen Verwertung des eingesetzten Kapitals, der gesamtgesellschaftlich, global, eben jene zerstörerische Wachstumsdynamik entfacht, die die Welt buchstäblich verbrennt.
Bedingungsloses Grundeinkommen als Einstieg in die Transformation?

Ein Überleben der menschlichen Zivilisation ist folglich nur bei Beseitigung dieser zerstörerischen Kapitaldynamik, bei Überwindung des Kapitalverhältnisses denkbar. Ein erster Schritt hin zu einer schlicht überlebensnotwendigen Systemtransformation könnte darin bestehen, der fossilen Wirtschaft und reaktionären Kräften wie einem Rupert Murdoch, die diese unterstützen, ihren wichtigsten Machthebel zu nehmen - den tatsächlich gegebenen Zusammenhang zwischen Lohnarbeit und sozialem Überleben. Derzeit sind die Lohnabhängigen, etwa in der Autobranche oder im Bergbau, schlicht gezwungen, mit ihrer Hände Arbeit die Klimakrise zu befördern, um kurzfristig die eigene Existenz zu sichern, um prosaisch ihre Rechnungen am Monatsende zahlen zu können. Hier setzt die Propaganda der fossilen Industrie an, indem sie diese absurde Lage, diese furchtbare Aporie der Lohnabhängigen ausnutzt, indem sie "Arbeitsplätze" gegen den notwendigen Klimaschutz ausspielt und hieraus politisches Kapital schlägt.

Die Argumentation Morrisons, der weiterhin nicht von der Kohle lassen will, scheint absurd, doch verhält es sich in Deutschland im Fall der Autobranche, die tatsächlich Millionen von Menschen beschäftigt, kaum anders. Die Bundesrepublik lebt zum guten Teil vom globalen Export von Spritzfressern. Auch Hierzulande lügt man sich gerne etwas vor, indem man etwa an der Chimäre des Elektroautos als einer gangbaren umweltschonenden Technologie festhält - während die Produktion von Elektroautos, die ja auch mit "fossil" hergestelltem Strom betrieben werden können, tatsächlich energieintensiver [18] ist als die von Benzinern und Diesel-Fahrzeugen.

Um diese reaktionäre "Arbeitsplatzideologie" zu entkräften, könnte sich die Einführung eines bedingungslosen Einkommens - aller Problematik zum Trotz - als sinnvoll erweisen. Auch wenn dies binnenkapitalistisch zuerst nur den Charakter einer besseren Stütze annehmen würde, könnte damit endlich der tatsächlich gegebene Zusammenhang zwischen Reproduktion der Arbeitskraft der Lohnabhängigen und der Reproduktion des Kapitals aufgehoben werden. Dem Kapital wären ein zentraler Machthebel und eine wichtige ideologisch Argumentationsfigur genommen.

Hierauf aufbauend, könnte dann im Rahmen einer Transformationsbewegung neue Formen gesellschaftlicher Reproduktion ausgelotet und erkämpft werden, die nicht mehr dem irrationalen Zwang zur tautologischen Verwertung des Werts untergeordnet sind. Anstatt blind als Marktsubjekt und Konkurrenzatom für den "Markt" zu produzieren, immer in der Hoffnung, das eingesetzte Kapital möglichst stark zu vermehren und somit die destruktive Kapitaldynamik anzuheizen, könnten die Formen und der Inhalt der gesellschaftlichen Reproduktion auch in einem gesellschaftlichen Diskurs, in einem Verständigungsprozess, festgelegt werden. Die unbewusste Reproduktion der Gesellschaft, die derzeit ohnmächtig der fetischistischen Verwertungsbewegung ausgesetzt ist, würde der bewussten, rational organisierten Produktion und Distribution von Bedarfsgütern weichen, die nicht mehr Waren wären.

Außerhalb der absurden kapitalistischen "Sachzwänge" verliert der Klimaschutz plötzlich all seinen ökonomischen Schrecken: Es muss ja nicht weniger Nahrung oder Kleidung hergestellt werden, wenn die Gesellschaft plötzlich aufhört, sprithungrige Autos zu produzieren oder Kohle zu fördern. Die eingesparte Arbeitszeit manifestiert sich im Postkapitalismus nicht mehr in dem Höllenzustand der Arbeitslosigkeit, sondern in einer Freizeit, die beispielsweise für den Kampf gegen die Folgen der kapitalistischen Klimakrise genutzt werden könnte.

Von Tomasz Konicz erscheint demnächst das Buch "Klimakiller Kapital [19]. Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört.

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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.technologyreview.com/s/615035/australias-fires-have-pumped-out-more-emissions-than-100-nations-combined/
[2] https://www.vox.com/world/2020/1/8/21051756/australia-fires-climate-change-coal-politics
[3] https://www.reuters.com/article/us-australia-bushfires-climatechange/australias-leaders-unmoved-on-climate-action-after-devastating-bushfires-idUSKBN1Z60IB
[4] https://www.fr.de/meinung/australien-buschfeuer-fuehren-nicht-einem-umdenken-kohlelobby-einflussreich-13419861.html
[5] https://taz.de/Klimaexpertin-zu-Feuern-in-Australien/!5651270/
[6] https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/klimakrise-in-australien-verrat-an-der-bevoelkerung-a-1303669.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Verbrannte-Erde-im-Murdoch-Land-4621769.html
[8] https://www.aph.gov.au/About_Parliament/Parliamentary_Departments/Parliamentary_Library/FlagPost/2019/April/Employment-by-industry-2019
[9] https://www.luzernerzeitung.ch/wirtschaft/das-kohlegeschaeft-ist-australiens-schmutziger-goldesel-ld.1143241
[10] https://oec.world/en/profile/country/aus/
[11] https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/australien-buschbraende-verbinden-sich-zu-mega-feuer-16574830.html
[12] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/reiner-haseloff-sieht-kohlekompromiss-in-gefahr-16574916.html
[13] https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/wirtschaftsstandort-deutschland-kretschmann-muessen-alles-dafuer-tun-dass-wir-autoland-bleiben/25372678.html
[14] https://www.nytimes.com/2019/02/21/climate/green-new-deal-questions-answers.html
[15] http://www.konicz.info/?p=2398
[16] https://www.pv-magazine.de/2019/02/11/investorensuche-fuer-solarworld-gescheitert-modulfabrik-wird-versteigert/
[17] https://www.handelsblatt.com/unternehmen/energie/global-energy-monitor-chinas-kohleplaene-bringen-die-weltweiten-klimaziele-in-gefahr/25250284.html
[18] https://www.sozonline.de/2019/05/winfried-wolf-mit-dem-elektroauto-in-die-sackgasse-warum-e-mobilitaet-den-klimawandel-beschleunigt/
[19] https://www.mandelbaum.at/buch.php?id=962