von Interventionistische Linke. Datum: Nov 2019
XR wird in der Klimabewegung derzeit heiß diskutiert. Aus der radikalen Linken kommt viel Kritik, teils auch pauschale Ablehnung. Wir als iL freuen uns über den Mobilisierungserfolg der Rebellionswoche und arbeiten mit XR zusammen. Dennoch sehen auch wir manches kritisch. Unsere Einwände haben wir nun in Form eines offenen Briefes an XR etwas ausführlicher begründet. Wir hoffen auf eine spannende Debatte.
Liebe Rebell*innen,
beeindruckende Massenblockaden in vielen Metropolen der Welt liegen hinter uns. Nachdem am 20. September 1,4 Mio. Klimastreikende allein in Deutschland Geschichte schrieben, beteiligten sich vom 7.-13. Oktober Tausende an euren Aktionen in Berlin. Viele wagten zum ersten Mal den Schritt in den zivilen Ungehorsam. Selbst bei Regen und Kälte habt ihr euch an Brücken gekettet und zentrale Plätze der Stadt über Tage hinweg besetzt gehalten. Eure markante Symbolik und eure oft sehr persönliche Sprache waren medial überaus sichtbar. Sie drückten ein Verlangen nach Wahrhaftigkeit und radikalem Wandel aus. In euren und vielen weiteren Aktionen verdichtet sich, was Greta Thunberg beim UN-Gipfel in New York am 23. September den Regierungen der Welt entgegenschleuderte: »Right here, right now, is where we draw the line!«.
Dieses Momentum eines sich ausbreitenden Willens zum Aufstand für das Leben müssen wir nutzen und weitertreiben. Die Verantwortung ist groß, denn die Zeit läuft uns davon. Nur gemeinsam können wir eine machtvolle, weil plurale, miteinander streitende und doch solidarisch zusammenstehende Klimagerechtigkeitsbewegung aufbauen. Aus dieser Überzeugung heraus stellen wir uns entschieden gegen die Spaltungsdynamik, die in den letzten Wochen auch von Teilen der (radikalen) Linken angeheizt wurde. Dem vielfach überzogenen und selbstgerechten Shitstorm gegen Extinction Rebellion (XR) wollen wir eine hoffentlich konstruktive Rückmeldung unserer Wahrnehmungen entgegensetzen. Ihr habt uns und andere Gruppen wiederholt um Kritik gebeten und erkennbar versucht, aus Fehlern, wie sie gerade für eine junge Bewegung nicht überraschend sind, zu lernen. Wir sind insofern zuversichtlich, dass ihr unsere Anregungen ernst nehmt und wir die Diskussion und Zusammenarbeit fortsetzen und intensivieren können.
Ermutigend ist aus unserer Sicht, dass ein solcher Verständigungs- und Kooperationsprozess in Großbritannien, dem Mutterland von XR, bereits weiter vorangeschritten ist. Wir haben den Eindruck, dass dies in Deutschland bisher noch zu wenig wahrgenommen wird. Daher wollen wir auch einige Schlaglichter auf die dortige Debatte werfen und hoffen, eine ähnliche Entwicklung in Deutschland anzustoßen. Dazu gehört natürlich auch, der Frage nachzugehen, was die Klimagerechtigkeitsbewegung und die radikale Linke von XR lernen können. Dem können wir an dieser Stelle bestenfalls in Ansätzen gerecht werden. Wir wollen die selbstkritische Reflexion aber an anderer Stelle weiter vertiefen.
Unsere Kritik an XR betrifft unterschiedliche Aspekte der Strategie und ihrer praktischen Umsetzung – und wir sind uns, jenseits des hier festgehaltenen, keineswegs in allem einig. Wir sind uns bewusst, dass XR derzeit ein sehr heterogenes, schnell wachsendes und unübersichtliches Spektrum lokaler Gruppen umfasst. Vieles sortiert und entwickelt sich noch und vieles, was wir im Folgenden ansprechen, wird sicherlich auch innerhalb von XR längst diskutiert. Wir greifen lediglich bestimmte Tendenzen heraus, die uns problematisch erscheinen – oder die uns umgekehrt inspirieren und in denen wir euch bestärken möchten.
1. »Beyond Politics«?! Es braucht eine klare Herrschaftskritik und bewusste Bündnisarbeit
Die Botschaft von XR ist universalistisch: von der Klimakatastrophe und der Zerstörung der Artenvielfalt sind – letztlich – alle betroffen. Dementsprechend sind auch alle aufgerufen, mit der »toxischen« Logik des Systems zu brechen. Zugleich ist aber klar, dass Menschen je nach Region und sozialer Lage hochgradig zeitversetzt und in extrem ungleichem Maße von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind. Eine Massenrebellion lässt sich deshalb nach unserer Überzeugung nur entlang der tiefen Kluft zwischen Hauptverursacher*innen und Leittragenden der Krise entfesseln. An vielen Orten der Welt ist diese Rebellion längst im Gange. Denn auch der »Notstand« ist für viele Menschen schon lange bittere Alltagsrealität. Indigene, People of Colour, Frauen und andere von Ausgrenzung und Armut besonders betroffene Gruppen stehen in diesem Kampf an vorderster Front. Das bleibt für die meisten Menschen in Europa bisher aber unsichtbar. Es gehört zu unseren zentralen Aufgaben, dies zu ändern – und zwar gerade, weil die Mehrheit der hierzulande bei XR, Fridays for Future oder linken Gruppen aktiven Menschen aus (noch) vergleichsweise gesicherten Lagen heraus spricht und leichter Gehör findet.
Die Rhetorik von XR, wonach wir »alle in einem Boot« sitzen, ist aus unserer Sicht aber wenig hilfreich, um den Anspruch auf Klimagerechtigkeit mit Leben zu füllen. Gegner*innen und Verbündete, Herrschaftsstrukturen und Handlungsperspektiven müssen im Kampf gegen den Klimawandel deutlicher benannt werden. Unternehmen und Regierungen, die im Wissen um die tödlichen Folgen ihrer Politik seit Jahrzehnten eine Nachhaltigkeitswende aktiv verhindern, müssen von unserem Protest klar adressiert und angegriffen werden. Ein »jenseits von Politik« kann es nicht geben. Gerade die Klimakrise ist hoch politisch, weil es um die Verteilung von knapper werdenden Ressourcen, Zufluchtsorten und Gestaltungschancen geht. Diese Überlegungen haben in den USA dazu geführt, dass XR eine 4. Forderung nach gerechter Transformation aufgestellt hat. Der Fokus liegt dabei auf den verletzlichsten sozialen Gruppen sowie indigenen und ökologische Rechten.
Dabei sehen wir durchaus, dass sich ein Teil des Erfolges von XR aus Zurückhaltung bei der politischen Positionierung erklärt: Durch die Forderung nach einer Bürger*innenversammlung, die alles weitere zu entscheiden habe, entlastet ihr euch bisher weitgehend von Debatten um Ursachen und Lösungsvorschläge. Und solche Debatten bergen Zersplitterungspotential (die Linke kann davon ein Lied singen). Als reiner Mobilisierungshebel für die Aktivierung von Menschen jenseits traditionell links sozialisierter Kreise mag das zurzeit als geschickter Schachzug erscheinen. Versteift ihr euch aber auf Dauer auf die Illusion der Überparteilichkeit, dann blockiert das notwendige Debatten. Und es wirkt zahnlos, weil selbst Offensichtliches, wie das Profitmotiv hinter der Lobbymacht der fossilen Energiewirtschaft oder dem globalen Raubbau der Agrarindustrie, nicht klar benannt wird.
Auch läuft XR so Gefahr, sich von den weit zurückreichenden Erfahrungen und Wissensbeständen bestehender Emanzipationsbewegungen abzukoppeln. Ungewollt verstärkt das die Tendenz, soziale und ökologische Kämpfe gegeneinander auszuspielen. Begriffe wie ›Kapitalismus‹, ›Ausbeutung‹, ›(Post-)Kolonialismus‹ oder ›Patriachat‹ vermeiden viele Menschen bei XR, um niemanden zu verschrecken. Sie sind aber keineswegs nur Schlagworte einer auf Abgrenzung bedachten radikalen Linken. Es sind auch analytische Kategorien, die wir brauchen, um zu verstehen, wogegen wir kämpfen.
Wir können nachvollziehen, dass am Anfang das Bedürfnis besteht, sich nicht in ein politisches Schema einordnen zu lassen. Auch »Occupy« in den USA und die »Indignados« in Spanien haben das zunächst getan. Als Absetzungs- und Neugründungsversuch kann dies im besten Fall eine das Feld öffnende Wirkung entfalten. Damit entsteht aber ein Raum der Auseinandersetzung, der neue Organisationen und Strömungen hervorbringt. Und all das spielt sich nicht jenseits der bereits existierenden Gruppen und Strukturen ab. XR kann auch nicht als allumfassende Klammer verstanden werden. Ihr steht für einen strategischen Ansatz neben anderen. Es ist entscheidend, dass wir alle versuchen, die Konsequenzen unseres Handelns auch für andere Gruppen in der Bewegung mitzudenken. Dafür braucht es eine kontinuierliche Kooperations- und Bündnisarbeit, Streit und Verständigung, wie sie in Großbritannien bereits in Gang gesetzt wurde. Wir wünschen uns dabei, dass sich XR sehr deutlich nach rechts (und auch gegenüber verschwörungstheoretisch-esoterischen Kreisen) abgrenzt und der Zusammenarbeit mit Nazis und anderen autoritären Akteuren eine klare Absage erteilt. Nach irritierenden Aussagen einzelner XR-Aktivist*innen, scheint sich inzwischen eine klarere Linie durchzusetzen. Dies folgt in unseren Augen auch logisch aus den Grundprinzipien von XR, in denen es (neuerdings) erfreulich deutlich heißt:
»Sprache und Verhalten, das rassische Dominanz, Sexismus, Antisemitismus, Islamophobie, Homophobie, Behindertenfeindlichkeit, Klassendiskriminierung, Altersvorurteil und alle anderen Formen der Unterdrückung, einschließlich beleidigender Sprache, aufweist, werden weder in Aktionen noch anderswo und weder persönlich noch online akzeptiert.«
Die Solidaritätsbekundungen gegenüber den Opfern des Nazi-Terrors in Halle und dem kurdischen Widerstand gegen den brutalen Angriffskrieg der Türkei während der Rebellionswoche haben uns sehr gefreut. Wir hoffen, dass XR diese progressive Grundorientierung auch in Zukunft beibehält.
2. Ungewollte Ausschlüsse wahrnehmen und Repression nicht verharmlosen
Für die Verständigungs- und Orientierungsprozesse von XR-GB war ein offener Brief der britischen Klimagerechtigkeitsbewegung wichtig. Er wurde von »The Wretched of the Earth« (einer von People of Colour und Migrant*innen geprägten Grassrootsinitiative) zusammen mit vielen anderen linken Gruppen (u.a. auch »Ende Gelände«) veröffentlicht. Der Brief mahnte einen sensibleren Umgang mit Fragen von Klassenungleichheit oder rassistischer und sexistischer Ausgrenzung und Repression an. Wir nehmen wahr, dass XR-GB darauf reagiert hat und in der öffentlichen Repräsentation der Proteste inzwischen deutlich differenzierter auf diese Themen eingeht. In Deutschland hat u.a. Carola Rackete diese Perspektive innerhalb von XR durch eine Verknüpfung mit Fragen von Flucht und Migration prominent vertreten, so etwa bei ihre Rede auf der Blockade am großen Stern.
Die Blockaden in London wurden diesmal von zehntausenden Menschen aus ganz unterschiedlichen Milieus und politischen Gruppen getragenen. Der »Environmental Justice Block« (EJB), zu dem neben »The Wretched of the Earth« auch »Black Lives Matter« gehörten, trat offensiv für eine Skandalisierung der Tatsache ein, dass diejenigen, die am wenigsten zur Verursachung der Klimakatastrophe beigetragen haben, am härtesten von ihren Folgen getroffen sind. Diese Sichtbarkeit von »frontline communities« ist ein entscheidender Fortschritt für eine Klimagerechtigkeitsbewegung, die der globalen sozialen Ungleichheit in der Bekämpfung des Klimawandels Rechnung trägt. Wir wünschen uns auch von XR Deutschland, gezielt auf eine solche Öffnung der Bewegung hinzuarbeiten. Und das nicht nur, um dem Vorwurf zu begegnen, es handele sich bei XR bloß um ein paar weiße Mittelschichtshippies, die durch ihre Straßenpartys hart arbeitende Menschen davon abhalten, ihre Kinder von der Kita abzuholen. Wir glauben grundsätzlich, dass nur eine Bewegung, die die verleugneten Erfahrungen der Unterdrückten ins Zentrum rückt, darauf hoffen kann, jene umfassende Veränderung, die wir für eine lebenswerte Zukunft auf diesem Planeten brauchen, tatsächlich durchzusetzen.
Kofi Mawuli Klu, Koordinator des internationalen Solidaritätsnetzwerkes von XR in GB (und ein vor politischer Verfolgung aus Ghana nach Brixton geflüchteter Aktivist), benennt in diesem Zusammenhang ein Problem der XR-Strategie:
»Anders als andere, die die Bewegung von außen kritisieren, haben wir auf dem Versuch beharrt, Extinction Rebellion stärker für Menschen jenseits weißer Mittelschichten zu öffnen – aber es war schwierig. […] Rassifizierte, schwarze und migrantische Communities können es sich nicht leisten, verhaftet zu werden.«
Im oben erwähnten offenen Brief von »The Wretched of the Earth« wird dementsprechend zurecht unterstrichen:
»XR-Aktive sollten in der Lage sein, ihr Privileg, eine Verhaftung zu riskieren, zu nutzen, um zugleich auf den rassistischen Charakter von polizeilicher Überwachung und Kontrolle hinzuweisen. Obwohl einige solcher Analysen begonnen haben: Bis sie für die Organisierungsprozesse von XR zentral sind, reichen sie nicht aus.«
Die Philosophie der Gewaltlosigkeit und das strategisch begründete Bemühen von XR um konsequente Deeskalation sind völlig legitime Ansätze. Sie sollten aber nicht umschlagen in eine Verharmlosung der Repressionsapparate des Staates – nach dem Motto: »die machen auch nur ihren Job«. Lobeshymnen auf die »geliebte« Polizei konnten wir bei zahlreichen XR-Aktionen beobachten. Sie müssen all jenen bitter aufstoßen, die aufgrund ihrer sozialen Position oder ihres politischen Engagements regelmäßig staatlicher Gewalt ausgesetzt sind – und die in der Regel keine so relativ freundliche Behandlung erwarten können, wie viele XR-Aktive sie derzeit (noch) erfahren. Einzelne Polizist*innen als von der Klimakrise betroffene Menschen anzusprechen, kann sicher sinnvoll sein. Aber das sollte nicht über den Charakter des staatlichen Gewaltapparates hinwegtäuschen. Seine Hauptfunktion besteht darin, die herrschenden Macht- und Eigentumsverhältnisse abzusichern. Und umso erfolgreicher wir als Bewegung sind, umso mehr müssen wir damit rechnen, verschärfter Repression ausgesetzt zu sein. Es gibt unterschiedliche Arten, darauf zu reagieren. Es kann, abhängig von den Bedingungen, auch legitim sein, sich gegen Angriffe zu wehren. Auch denjenigen, die militantere Formen des Widerstands wählen, gilt unsere Solidarität, insoweit uns das Ziel eint, die gewalttätigen Verhältnisse zu überwinden.
Die verspielt-kuschelige Protestkultur trägt für einige sicher zur Attraktivität von XR bei. Sie birgt aber die Gefahr einer (wenn auch ungewollten) Ausgrenzung derjenigen, die sich diese Naivität buchstäblich nicht leisten können. Die »wir-haben-uns-alle-lieb«-Rhetorik wirkt auf viele Menschen aufgesetzt. Eine breite Bewegung kann nicht von allseitiger persönlicher Sympathie getragen sein. Die Vorstellung, wir müssten einander nur unsere Herzen öffnen, um aus dem Kreislauf des gegeneinander auszubrechen, erscheint eher als Ausblendung der faktischen Brutalität der sozialen Wirklichkeit. Jene, die diese Härten jeden Tag spüren, dürften davon befremdet sein und sich nicht repräsentiert fühlen.
3. Aufklärung und politische Gestaltung statt Beschwörung der Apokalypse
Entscheidend für das aktuelle Momentum von XR und Fridays for Future ist die massenhafte Realisierung der eigenen existenziellen Betroffenheit durch die Klimakatastrophe. Seit Gretas Aufforderung, in Panik zu geraten, greift auch in den westlichen Industrieländern und in materiell relativ gut gestellten sozialen Lagen die Erkenntnis um sich, dass noch zu unserer Lebzeit, spätestens aber in der unserer Kinder, kaum vorstellbare Verwüstungen drohen. Die Stärke von XR besteht nach unserem Eindruck vor allem darin, nach Formen zu suchen, diesem Schock einen gemeinschaftlichen, öffentlichen Ausdruck zu verleihen. Gefühle von Angst, Wut und Trauer werden in kollektive Aktion gewendet und so auch individuell bewältigt. Das abstrakte Wissen um die zukünftige Gefahr und die schon gegenwärtigen Katastrophen im globalen Süden genügt eben nicht. Die Bewegung muss das schwer fassbare Ausmaß der Bedrohung auch dauerhaft fühlbar machen, um die in der herrschenden Kultur »normale« Verdrängungsleistung des »weiter so« aufzubrechen.
Das erfordert viel Sensibilität und Achtsamkeit. Gerade weil die Befunde der Wissenschaft so erschütternd sind, muss genau und differenziert mit ihnen umgegangen werden. So richtungweisend die XR-Praxis von Aufklärungsvorträgen zur Ansprache und Mobilisierung von Menschen (gerade auch jenseits der Großstädte und der jungen Bewegungsmilieus) ist: Die XR-Erzählung eines mehr oder weniger unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs auch der westlichen Gesellschaften, ist ein Spiel mit dem Feuer. Die Lage ist zweifellos mehr als ernst. Wir werden voraussichtlich schon in naher Zukunft Kippunkte überschreiten und Teile des Planeten dürften unbewohnbar werden. Es stimmt: »Wir sind am Arsch« und die XR-Slogans vom Ende der Hoffnung sind eine vielleicht notwendige Provokation gegenüber den klassischen Befreiungserzählungen der Linken, die immer unglaubwürdiger werden. Aber die Szenarien sind so unsicher, wie die Zeithorizonte, in denen wir handeln können. Roger Hallam etwa behauptet, ein radikaler struktureller Umbau der globalen Wirtschafts- und Sozialsysteme müsse in den kommenden 12 Monaten erfolgen (eine offensichtlich unrealistische Vorstellung), sonst drohe der Kollaps. Bei einer solchen Erwartungshaltung dürfte der Grat zwischen Aktivierung aus dem Mut der Verzweiflung heraus und fatalistischer Resignation äußerst schmal sein. Die bei XR ständig wiederholten Bilder von Hunger, Krieg und Faschismus und die Warnung vor der Ausrottung allen menschlichen Lebens machen vor allem Angst. Und Angst ist eine Emotion, die eher dazu verleitet, die eigenen Privilegien noch härter gegen andere zu verteidigen. Das nutzt in der Regel rechten, autoritären Kräften. Euch als XR-Aktiven mag es zwar gelingen, gerade aus der Anerkennung der kommenden Katastrophen heraus Kraft für Aufrichtigkeit und Widerstand zu gewinnen. Aber in der Breite könnte diese Botschaft ganz andere Wirkungen entfalten.
Dagegen käme es darauf an, die Debatte über Transformationsstrategien zu vertiefen. Das ist auf Basis des XR-Grundkonsenses nach unserer Einschätzung vor allem möglich, indem die 3. Forderung nach einer Bürger*innenversammlung konkretisiert und weiterentwickelt wird. Hier überzeugt uns manches bisher überhaupt nicht: Ein Plan zum radikalen Umbau aller Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft zur Erreichung von Netto-Null-Emissionen kann kaum von einer einzelnen nationalen Bürger*innenversammlung ausgearbeitet werden (auch nicht mit Unterstützung von Expert*innen). Sie wäre heillos überfordert, weil die sozial-ökologische Wende eben nicht vergleichbar ist mit einer speziellen Streitfrage wie etwa der Liberalisierung des Abtreibungsrechtes in Irland (ein von XR oft genanntes Beispiel für eine erfolgreiche Bürger*innenversammlung). Auch die Vorstellung, dass die Umsetzung an die nationale Regierung zurückdelegiert werden soll, ist wenig plausibel. Schließlich wird auch bei XR wahrgenommen, dass unser politisches System korrumpiert ist. Es erschließt sich nicht, weshalb eine von Lobbyinteressen des Kapitals geprägte Regierung einen solchen Plan mit der nötigen Entschlossenheit umsetzten sollte.
Um den radikal-demokratischen Geist der 3. Forderung aus der Flasche zu lassen, müsste aus unserer Sicht klargemacht werden, dass nur eine Vielzahl solcher Versammlungen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens Chancen auf tiefgreifenden Wandel eröffnet. Es muss um eine Verlagerung konkreter Gestaltungsmacht an die jeweils besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen gehen. Wir diskutieren das in der iL auch unter dem Stichwort »Vergesellschaftung«: In allen Institutionen, Unternehmen und Handlungsfeldern sollen demokratische Mitbestimmungsrechte ausgebaut und Macht dezentralisiert werden. An die Stelle das Wachstumszwangs und der strukturell maßlosen Profitorientierung soll damit eine gesellschaftliche Steuerung der Wirtschaft treten: eine Ausrichtung an den Grundbedürfnissen aller Menschen sowie an sozialen und ökologischen Zielsetzungen. Eine konsequente Rückverlagerung von Macht an die Bürger*innen bedeutet in der Konsequenz aber nichts anderes als die Überwindung von Kapital, Staat und Patriarchat als den dominanten Herrschaftsformen bei der Regelung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Und auf diesen Weg müssen wir uns hier und heute begeben.
4. Ein selbstkritisches Schlusswort
Keiner der von uns genannten Kritikpunkte trifft auf XR insgesamt zu. Es lassen sich immer Gegenbeispiele in den verschiedenen XR Ortsgruppen finden. Grundsätzlich sind wir sehr froh, dass mit XR eine neue, schnell wachsende Gruppe entstanden ist, die auf massenhaften zivilen Ungehorsam setzt – und die dabei offensichtlich viele Menschen erreicht, die wir in den letzten Jahren mit unserer Praxis nicht erreichen konnten. Auch wir müssen uns der Kritik stellen und fragen lassen, warum das so ist und was wir aus euren Erfolgen für unsere eigene Arbeit lernen können. Für die Suche nach Antworten ist hier zwar nicht der passende Raum. Aber wir möchten doch mit ein paar selbstkritischen Gedanken enden.
Die radikale Linke hat ein gewaltiges Problem mit ihrem rationalistischen Überschuss. Aus Erfahrungen des historischen Scheiterns heraus, stehen wir einer Politik des Affekts und des Pathos häufig misstrauisch gegenüber. Dabei vergessen wir aber manchmal, dass politischer Aktivismus nicht nur sachlich richtigen Argumenten folgt, sondern auch eine starke Gefühls-Ebene beinhaltet. Oft dominiert bei uns eine harte Debattenkultur, bei der ein Wort das andere gibt. Abgebrühte Coolness und völlige Verausgabung für die nächste Kampagne sind nicht selten stilprägende Verhaltensweisen. Nachhaltigen Aktivismus und einen achtsamen Umgang miteinander schreiben wir uns zwar auf die Fahnen, sehen in unserer Praxis aber viele Defizite.
XR rückt dagegen die Emotionalität ins Zentrum und das ist gut so. Darin liegt ein wichtiger Impuls gegen die patriarchale Kultur der Unterdrückung von Gefühlen, Intuition und körperlicher Sensibilität. Wir müssen neue, empathische »Beziehungsweisen« (vgl. Bini Adamczak) aufbauen, um – trotz allem – utopische Ausstrahlungskraft zu entwickeln, auch inmitten einer Welt, in der Verbitterung und Abgrenzung um sich greifen. Und wir müssen in unserer politischen Praxis mehr Raum für unvermeidliche Schmerz- und Verlusterfahrungen schaffen, mehr Wahrhaftigkeit wagen. Klimawandel macht Angst, Klimapolitik macht wütend und Klima-Aktivismus führt oft zu Verzweiflung und Ausbrennen. Darüber müssen wir alle mehr reden und sorgsamer miteinander umgehen, denn wir haben noch einen langen Kampf vor uns. Wir brauchen auch vielfältigere sinnliche Ausdrucksformen für all diese Gefühle. Die besten Analysen bewirken wenig, wenn es uns nicht gelingt, politische Leidenschaften jenseits unserer eigenen Szenekreise zu entfachen. Wie Greta und auch viele Repräsentant*innen von XR zeigen, müssen wir dafür als empfindsame Einzelne öffentlich stärker sichtbar werden. Dann wirken wir auch offener auf Menschen, die aus ganz anderen Zusammenhängen kommen.
Hoffnungsvolle Geschichten des Gelingens im Kleinen zu erzählen, bleibt dabei zwar wichtig. Aber sie reichen so wenig, wie vage Bilder einer ganz anderen Welt, die die Linke oft nur als Phrase aufruft und dadurch umso ferner erscheinen lässt. Die Vorstellung, dass wir besser nicht über die reale Klima-Katastrophe und die sich verdüsternden Zukunftsaussichten sprechen, dass wir bloß nicht den Teufel an die Wand malen sollen, weil das lähmt und demobilisiert, das war ein Fehler der »alten« Klimabewegung. Wenn XR fordert: »Sagt die Wahrheit!«, dann sollten wir uns das zu Herzen nehmen.
Insofern: Toll, dass es euch gibt und ihr uns herausfordert, neu nachzudenken. Dieser Text ist nur als Aufschlag für weitere Diskussionen gedacht. Wir möchten dazu gerne auf euren Vorschlag für einen runden Tisch zur Reflexion der Rebellionswoche und weiterer Perspektiven zurückkommen. Und wir hoffen, dass auch viele weitere klimapolitisch aktive Gruppen sich daran beteiligen werden.
Was diskutieren wir heute - etwas was vor 11 Jahren bereits sehr fundiert kritisch hinterfragt wurde. Lesen Sie selbst:
Elmar Altvater/Achim Brunnengräber (© VSA-Verlag 2008 !!):
Mit dem Markt gegen die Klimakatastrophe?
Einleitung und Überblick
Dieser Reader des Wissenschaftlichen Beirats von Attac greift eines der ernstesten und im Wortsinn brennendsten Themen der Gegenwart auf. Der Klimawandel bedroht uns alle, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Wir müssen sehr schnell, schneller als es in den Klima-vereinbarungen heute angestrebt wird, eine Reduktion der Emission von Treibhausgasen erreichen – und dies in einem Ausmaß, das nach allen Verbrauchsprognosen der fossilen Energien fast ausgeschlossen scheint. Notwendig wären 50% weniger Kohlendioxid (CO2)-Emissionen bis 2050, wenn die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre unter der kritischen Grenze von 450 ppm (parts per million) gehalten werden soll. Doch wie könnte dies erreicht werden?
Es gibt nur vier Wege: Auf dem ersten wird eine Erhöhung der Energieeffizienz angestrebt, um pro Einheit Sozialprodukt weniger fossile Energie zu konsumieren. In der Energie- und Klimapolitik gilt dieser Weg als eine Art Königsweg, da auf ihm am wenigsten Widerstand zu erwarten ist. Denn von einer Effizienzsteigerung beim Energieeinsatz können, so scheint es, alle nur gewinnen. Der zweite Weg führt in den globalen Süden. Dort finden sich erstens Senken, die CO2 binden könnten, z.B. aufgeforstete Wälder. Doch wird in ganz andere Projekte investiert, weil Klimaschutz dort preiswerter zu haben sei. So könnten in Asien oder Südamerika anstatt in Europa durchgeführte Projekte die globalen CO2-Vermeidungskosten verringern. Dies käme letztlich dem Klimaschutz zugute, weil mit dem gleichen Aufwand mehr CO2-Reduktionen zu haben seien. Das meinen die Befürworter. Auf dem dritten Weg wird das emittierte CO2 bei der Verbrennung abgeschieden, eingefangen und in Kavernen der Erdkruste gespeichert (Carbon Capturing and Storage, CCS). Nur der vierte Weg führt fort vom fossilen Energieregime in die Welt der erneuerbaren Energieträger und zu Strukturen, die den Energieverbrauch nachhaltig senken. Die noch vorhandenen fossilen Reserven bleiben in der Erde. Welcher Weg beschritten wird, ist eine Frage politischer Entscheidungen. Diese können auf Anreizsysteme, auf Gebote und Verbote, aber auch auf Aufklärung und politische Bildung abzielen. Im Kyoto-Abkommen hat man sich vor allem auf das Anreizsystem des Marktes festgelegt.
Der Markt – Dein Freund und Helfer? Es ist paradox, dass internationale Klimapolitik seit etwa einem Jahrzehnt den Eintrag von CO2 und anderer Treibhausgase in die Atmosphäre vor allem mit Instrumenten des Marktes begrenzen will. Denn ein Markt für CO2 existiert gar nicht. CO2 hat keinen Gebrauchswert, mit dem Bedürfnisse befriedigt werden könnten, im Gegenteil, es ist schädlich; der Stoff lässt sich also nicht in eine Handelsware verwandeln. CO2 hat auch keinen Wert, der als Marktpreis ausgedrückt werden könnte, im Gegenteil, es handelt sich um einen Unwert, den man möglichst schleunigst loswerden möchte – wenn es denn so einfach wäre. Also bietet es sich eigentlich an, die CO2-Emissionen ordnungsrechtlich, mit gesetzlichen Geboten und Verboten, mit Grenzwerten und technischen Auflagen zu unterbinden, nicht aber Marktmechanismen eines zunächst gar nicht existenten Marktes zu bemühen. Doch sehen die marktmäßigen Instrumente des Klimaschutzes sehr elegant aus. Sie passen in das Weltbild einer globalen liberalen Ordnung, in der Markt vor Planung, Wirtschaft vor Politik und privater Sektor vor öffentlichen Gütern und Staat rangieren. Dessen Charme sind auch viele Umweltbewegte, Globalisierungskritiker, Vertreter von grünen und linken Parteien und die Mehrzahl der Umweltökonomen verfallen. Sie lassen sich von der versprochenen List einer Idee faszinieren: Preissignale und Gewinnanreize sollen so gesetzt werden, dass die Verfolgung individueller Interessen zu einem für alle, ja für die Gesamtheit der sechs Milliarden Erdenbürger optimalen Ergebnis führt, nämlich zu einer Reduktion der Treibhausgasemissionen um den Prozentsatz, der klimapolitisch notwendig ist – ohne Gebote und Verbote, staatliche Bürokratie, in aller Marktfreiheit. Da aber ein Markt für Verschmutzungsrechte nicht existiert, muss dieser geschaffen werden. Es muss etwas zur Handelsware gemacht werden, das eigentlich nicht handelbar ist. In der neoliberalen Vorstellung ist dies ein politischer Kunstgriff, der jedoch den Dingen ihre eigentliche Natur gibt, nämlich Handelsobjekt von Privaten zu sein.
Das Machen eines Marktes durch Kontextsteuerung, wie es Fisahn in diesem Reader formuliert, ist freilich voraussetzungsvoll. Zwar wird die Atmosphäre, in der die Treibhausgase ja abgeladen werden, nicht privatisiert, und CO2 wird kein privater Vermögenswert. Wohl aber werden Rechte zur Verschmutzung der Atmosphäre politisch durch den Staat konstruiert (allowances). Diese werden dann an CO2-Emittenten gemäß einem nationalen Allokationsplan vergeben – fast kostenlos wie bislang in der EU oder gegen einen in einem Versteigerungsverfahren ermittelten Preis. So soll es möglicherweise ab 2012 auch in der EU geschehen, sofern nicht Lobby-Interessen dies verhindern. Also wird auch die Knappheit des Wirtschaftsgutes Verschmutzungsrecht künstlich, d.h. politisch festgelegt, durch Obergrenzen der Emissionen (cap) nämlich. Der grüne Klimakapitalismus ist also nur deshalb so charmant, weil er durch und durch politisiert ist. Die CO2-Verursacher verfügen nun über ein individuelles ökonomisches Recht auf Verschmutzung der Atmosphäre. Sie erhalten eine politisch zertifizierte Ware, die sie handeln können, wie Speckseiten, Ölfässer, Weihnachtsschmuck oder Aktien und Optionsscheine. Diese Art und Weise der Problemlösung ist tief in das kapitalistische Gesellschaftssystem und die Vorstellung der Naturbeherrschung eingelassen, wie Biesecker/von Winterfeld aus historischer Perspektive zeigen.
Doch, so Ptak in seinem Beitrag, funktionieren Zertifikatemärkte nicht wie Wochenmärkte, auf denen man nicht nur einkauft, sondern auch gern ein Schwätzchen hält. Sie haben globale Reichweite, sie sind vermachtet, sie unterliegen der harten Standortkonkurrenz und werden in die Machenschaften auf Finanzmärkten und in deren Krisentendenzen hineingezogen (vgl. dazu den Beitrag von Altvater). Die Preisbewegungen auf einem Kunstmarkt wie dem für Emissionszertifikate sind erratisch und extrem volatil, wie Nell/Semmler/Rezai in diesem Reader belegen. Der Wert von Zertifikaten auf dem Markt hat nichts mit Kosten von Arbeit und Kapital zu tun, und da es keine zuzuordnenden Kosten gibt, erfolgt die Preisbildung auf dem Zertifikatemarkt außer-halb von Raum und Zeit. Auf einem geschichtslosen Markt schwanken die Preise der Zertifikate wie Schilfrohr im Winde. Daher überrascht die hohe Volatilität nicht. Bei den marktbasierten Lösungsansätzen steht die neoliberale Property Rights-Schule Pate (so Ptak), die über die Ausweitung von privaten Verfügungsrechten neue Märkte zu konstituieren trachtet, nicht zuletzt um den öffentlichen Sektor zurückzudrängen. Die Natur – hier die Atmosphäre – wird als Aufnahmemedium für Abfallstoffe und Emissionen begriffen. Als solches ist sie in der fossilen Ökonomie physikalisch notwendig. Also können durch einen politischen Akt handelbare Verschmutzungsrechte geschaffen und einer Gruppe von Akteuren kostenlos oder gegen Entgelt zugeteilt werden. Sie haben nun das in handelbaren Zertifikaten verbriefte Recht auf eine bestimmte Menge an Emissionen.
Dass es hierbei große Unterschiede in der Gestaltung wie der Funktions- und Wirkungsweise geben kann, führt Schreurs in ihrem Überblick über verschiedene Handelssysteme aus. Der Kunstgriff des Emissionshandels ist zwar faszinierend. Doch die Gewissheit, die notwendige Reduktion der Emission von Treibhausgasen mit marktbasierten Instrumenten erreichen zu können, ist Zweifeln gewichen. Denn die empirischen Erfahrungen mit dem Emissionshandel (vor allem mit dem europäischen cap and trade-System) sind enttäuschend. Die marktbasierten Instrumente sollten (auf dem ersten der oben bezeichneten vier Wege) über eine Effizienzsteigerung beim Energieeinsatz die Emissionen senken und auf dem zweiten Weg (mit Hilfe von Clean Development Mechanism [CDM] und Joint Implementation[JI] – vgl. dazu Witt/Moritz in diesem Reader) dafür sorgen, dass Klimaschutz erstens billiger wird und zweitens die Kohlenstoffsenken genutzt werden, durch die CO2 der Atmosphäre entzogen werden könnte (zum Kohlenstoffzyklus vgl. den Beitrag von Altvater). Die bisherigen CDM-Projekte leisten dies völlig unzureichend. Wenn dem Marktmechanismus nicht vertraut werden kann (vgl. aber Schäfer/Creutzig in diesem Reader), sind Umweltsteuern (eine carbon tax), so Nell/Semmler/Rezai, sowie ordnungsrechtliche Regelungen, so Fisahn, ein probates Mittel. Darüber hinaus muss – auf dem vierten Wege – ein sozial-ökologischer Umbau in Richtung einer solaren Gesellschaft, die sich weniger marktbasierter Instrumente bedient, als erneuerbare Energieträger nutzt, zum wichtigsten umweltpolitischen Ziel werden, so Mez/Brunnengräber im abschließenden Beitrag. Gerechtigkeitsfragen und die Frage, welche Rolle dabei der Emissionshandel spielen kann, werden von Santarius diskutiert. Es ist die Botschaft dieses Readers, dass alle vier Wege gangbar sind. Zielführend, nämlich fort vom fossilen Ener-giesystem zu gelangen und Klimaschutz Wirklichkeit werden zu lassen, jedoch ist vor allem der vierte Weg.
Zur Erinnerung: Die flexiblen Klimaschutzinstrumente von Kyoto
Mit dem 1997 unterzeichneten Kyoto-Protokoll sind 38 Industrie- und Transformationsländer (die so genannten Anhang-B-Staaten) Verpflichtungen zur Reduktion der Emissionen von Treibhausgasen eingegangen. Das im Vertrag festgelegte Gesamtreduktionsziel lautet: minus 5,2% im Durch-schnitt der Jahre 2008 bis 2012 gegenüber 1990. Der Hauptteil der Einsparungen soll jeweils im eigenen Land erfolgen. Um die Kosten von Klima-schutzinvestitionen zu senken, können Staaten und Unternehmen aber auch drei flexible Instrumente nutzen, die es ihnen erlauben, ihre Verpflichtungen teilweise im Ausland zu erbringen: den Emissionshandel (Emissions Trading, ET), die Gemeinsame Umsetzung (Joint Implementation, JI) und den Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung (Clean Deve-lopment Mechanism, CDM). Der Kyoto-Emissionshandel ist nur zwischen Anhang-B-Ländern zulässig. Ihnen ist es seit 2008 gestattet, Kyoto-Emissionsrechte (Assigned Amount Units, AAU) zu kaufen oder zu verkaufen. Dabei werden Teile des ursprünglich durch das Kyoto-Protokoll zugewiesenen Emissionsbudgets von einem Land auf das andere übertragen.
Bereits am 1. Januar 2005 startete in der Europäischen Union ein Emissionshandelssystem, bei dem nicht Staaten, sondern Betreiber energieintensiver Anlagen eine begrenzte Menge handelbarer Zertifikate für den Ausstoß von Kohlendioxid erhalten (European Allowance Units, EAU). Dieser wird gelegentlich mit dem Kyoto-Emissionshandel verwechselt. Letzterer ermöglicht Anhang-B-Staaten, die mit ihrem Treibhausgasausstoß über ihrer Kyoto-Verpflichtung liegen, EAUs von anderen Anhang-B-Staaten zu kaufen, deren Treibhausgasemissionen unter den Kyoto-Verpflichtungen liegen. Der anlagenbezogene EU-Emissionshandel ist hingegen auf einzelne Sektoren der Volkswirtschaft begrenzt – derzeit auf die Energiewirtschaft und die Industrie. Verkehr, Handel und Dienstleistungen sowie private Verbraucher sind bislang in das Handelssystem nicht einbezogen. Bei JI und CDM investieren Staaten, Unternehmen oder so genannte Carbonfonds in Klimaschutzprojekte im Ausland, zum Beispiel in Anlagen zur Erzeugung regenerativer Energien, in höhere Energieeffizienz oder in die Neutralisierung von Methangasen aus der Abfallwirtschaft. In der Folge erhalten sie Emissionsgutschriften in Höhe der eingesparten Treibhausgase. Diese können die Investoren und Projektpartner im Gastland zur Abrechnung eigener Reduktionsverpflichtungen nutzen bzw. am Emissionshandelsmarkt verkaufen.
JI-Vorhaben sind analog zum Kyoto-Emissionshandel nur zwischen Staaten mit quantitativen Emissionszielen, also innerhalb der Anhang-B-Ländergruppe, gestattet. Emissionsgutschriften (Emission Reduction Units, ERU) daraus sind seit 2008 möglich. Im Unterschied zum JI-Mechanismus fungieren bei CDM-Projekten nicht Industrieländer, sondern Entwicklungsländer als Gastländer. Die dort erzielten Emissionsreduktionen (Certified Emission Reductions, CER) können rückwirkend bis zum Jahr 2000 anerkannt werden, sofern sie gegenüber der UN nachweisen, dass die Reduktionen zusätzlich sind und ohne CDM-Mechanismus nicht stattgefunden hätten.
Elmar Altvater / Achim Brunnengräber (Hrsg.)
Ablasshandel gegen Klimawandel?
Marktbasierte Instrumente in der globalen Klimapolitik und ihre Alternativen
Reader des Wissenschaftlichen Beirats von Attac
240 Seiten | 2008 | ISBN 978-3-89965-291-8 1
Titel nicht mehr lieferbar, nur noch antiquarisch ...