Von Tomasz Konicz   - 21.08.2019

Wer Klima und Menschheit retten will, muss an den Wurzeln ansetzen: Die kapitalistische Weltwirtschaft ist aufgrund der ihr innewohnenden, zunehmenden Widersprüche nicht in der Lage, die drohende Katastrophe abzuwenden. Ein Diskussionsbeitrag.

 

Besonders zu Beginn der Proteste der Fridays-for-Future-Bewegung prangerten deren Kritiker gerne die scheinbare Inkonsequenz der Streikenden an: Es seien größtenteils Mittelklasse-Kids, die von ihren Eltern mit lukrativen Jobs in energiehungrigen Konzernen in spritfressenden SUVs zur Demo chauffiert würden. Das Alltagsverhalten der Protestierenden würde also ihren eigenen Postulaten einer radikalen ökologischen Wende widersprechen. An wenigen Orten tritt dieses absurde Phänomen deutlicher zutage als in den "Autostädten" wie Wolfsburg oder eben Stuttgart, den Zentren der deutschen Exportindustrie, die den Verbrennungsmotor in alle Winkel der globalisierten Welt ausführt. Das Auto scheint den Regionen ihren Wohlstand zu verschaffen – und es ist Träger der drohenden ökologischen Verwerfungen.

Doch diese evidente Widersprüchlichkeit ist gerade keine Frage der subjektiven Heuchelei angeblicher "Gutmenschen", wie es die Neue Rechte in ihrer reaktionären Kritik der Klimaproteste gerne behauptet. Sie ist die Folge der dem Kapitalismus innewohnenden Widersprüche, die sich auch im Handeln der einzelnen Subjekte widerspiegeln. Konkret: Die soziale Existenz unterm Kapital ist gegenwärtig nur um den Preis der eskalierenden Klimakatastrophe möglich. Die kapitalistische Ökonomie ist, wie hier gezeigt werden soll, nicht in der Lage, die ökologische Krise zu lösen.

Wachstumszwang und endliche Ressourcen

Einen ersten Ansatzpunkt, die Unvereinbarkeit von Kapitalismus und Klimaschutz zu erfassen, bietet der Wachstumszwang, der die kapitalistischen Volkswirtschaften charakterisiert – die, sobald die Konjunktur erlahmt, in den Krisenmodus übergehen. Das permanente, uferlose Wachstum des Bruttosozialproduktes ist dabei nur der volkswirtschaftliche Ausdruck der Verwertungsbewegung des Kapitals. Als Kapital fungiert Geld, das durch einen permanenten Investitionskreislauf vermehrt, also "akkumuliert" oder "verwertet" werden soll.

Entscheidend dabei ist: Diese Akkumulationsbewegung ist an eine stoffliche Grundlage in der Warenproduktion gebunden. Der Verwertungsdynamik des Kapitals muss – einem Waldbrand gleich – immer neues "Brennmaterial" zugeführt werden. Spätestens seit dem Ausbruch der Finanzkrise ab 2007 dürfte klar geworden sein, dass der Prozess der Kapitalakkumulation an die Warenproduktion gekoppelt ist – und nicht etwa auf den Finanzmärkten aufgrund reiner Spekulationsprozesse dauerhaft aufrechterhalten werden kann.

Auch die Idee einer Dienstleistungsgesellschaft nach dem Vorbild der USA, die sich von der warenproduzierenden Industrie weitgehend entkoppelt haben, hat sich als Chimäre entpuppt. Ohne nennenswerte warenproduzierende Industrie geht die gesamte kapitalistische Volkswirtschaft langfristig vor die Hunde. Deswegen stellen die gegenwärtigen Handelskonflikte, insbesondere zwischen den USA und China, vor allem Kämpfe um Standorte der Warenproduktion dar.

 

Trump will die USA wieder "groß machen", indem er sie durch Protektionismus reindustrialisiert. Alle größeren Volkswirtschaften und Wirtschaftsräume sind bemüht durch entsprechende Politik, durch Protektionismus oder Exportorientierung, ihre Industrie zu halten oder auf Kosten der Mitbewerber zu sanieren. Der Exportweltmeister BRD ist hier das große Vorbild.

Die aktuellen Handelskriege sind damit eine implizite Bestätigung des Marx'schen Wertbegriffs. Demnach wird Wert hauptsächlich bei der Warenproduktion generiert. Ohne nennenswerten Industriesektor zerfällt die Dienstleistungsbranche in eine Elendsökonomie nach US-Vorbild, die Finanzmärkte gehen in Blasenbildung und Crashs über.

Wie gestaltet sich nun der Kernprozess der Verwertung von Kapital? Auf der bornierten betriebswirtschaftlichen Ebene scheint ja alles rationell abzulaufen: Ein Unternehmen investiert in Lohnarbeit, Rohstoffe, Maschinen, Produktionsstandorte, um die dort hergestellten Waren mit Gewinn zu veräußern – wobei die Lohnarbeit alleinige Quelle des Mehrwerts ist. Es ist die einzige, auf dem Arbeitsmarkt zu erwerbende Ware, die mehr Wert herstellen kann, als sie selbst wert ist. Letztendlich akkumuliert das Kapital immer größere Mengen verausgabter, abstrakter Arbeit. Hiernach wird das nunmehr vergrößerte Kapital reinvestiert – in mehr Rohstoffe, Maschinen etc., um einen neuen Verwertungskreislauf zu starten. Die scheinbare Rationalität kapitalistischer Warenproduktion auf betriebswirtschaftlicher Ebene dient somit gesamtgesellschaftlich einem irrationalen Selbstzweck, einer verselbstständigten und unkontrollierbaren Dynamik: Der uferlosen Vermehrung des eingesetzten Kapitals.

Der konkrete Gebrauchswert einer Ware ist dabei nur als notwendiger Träger des Mehrwerts von Belang. Und genauso sehen auch die Gegenstände aus, die diese kapitalistische Verwertungsmaschine ausspuckt: Sie sollen durch moralischen Verschleiß oder durch geplante Obsoleszenz möglichst schnell veralten, unbrauchbar und ersetzt werden, damit die Nachfrage nie gesättigt ist. Die Autoindustrie muss Jahr um Jahr neue Modelle auf den Markt werfen, Apple-Notebooks mit Unibody können kaum noch repariert werden, und nichts ist peinlicher als das iPhone vom vorletzten Jahr. Der Spätkapitalismus produziert buchstäblich für die Müllhalde, um hierdurch der stockenden Verwertungsmaschine immer wieder neue Nachfrage zu verschaffen. Und dies ist ja für jedes Marktsubjekt nur zu vernünftig.

Die Produktivitätsfalle

Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene entfaltet diese Logik aber ihr verheerendes Potenzial, da mit erfolgreicher Kapitalakkumulation auch die Aufwendungen für den Produktionsprozess – Rohstoffe und Energie – permanent erhöht werden müssen. Somit gleicht schon das kapitalistische "Business as usual" einem Prozess der Verbrennung von immer mehr Rohstoffen. Die zusehends schwindenden Ressourcen dieser Welt bilden das immer enger werdende Nadelöhr, durch das sich dieser irrationale Prozess der Kapitalverwertung unter immer größeren Friktionen hindurchzwängen muss. Beide ökologischen Krisenprozesse – die Ressourcenkrise wie die Klimakrise – werden durch diesen Verwertungsprozess, der wie ein automatisch nach Maximalprofit strebendes Subjekt agiert, entscheidend befördert.

Das Kapital als verselbstständigte Dynamik (Marx sprach in diesem Zusammenhang vom "Fetischismus") ist aufgrund dieser Notwendigkeit permanenter Expansion das logische Gegenteil einer ressourcenschonenden Wirtschaftsweise, die notwendig wäre, um ein Überleben der Zivilisation zu sichern. Die Menschen sind unterm Kapital einer blindwütigen Verwertungsdynamik ausgeliefert, die sie buchstäblich selber erarbeiten.

 

Befeuert wird dieser Prozess der Weltverbrennung durch das immer höhere Produktivitätsniveau der kapitalistischen Weltwirtschaft. Hier ließe sich von einer regelrechten Produktivitätsfalle sprechen: Es sind gerade die ungeheuren Produktivitätssteigerungen der spätkapitalistischen Warenproduktion, die zur Eskalation der ökologischen Krise maßgeblich beitragen. Mit technologischen Fortschritten müsste es eigentlich möglich sein, Ressourcen immer effizienter zu verwerten – tatsächlich aber steigt ihr Verbrauch in der Gesamtbilanz Jahr für Jahr. Da die Lohnarbeit die Substanz des Kapitals bildet, führen die permanenten Steigerungen der Produktivität dazu, dass die "effiziente" Verschwendung von Ressourcen ins Extrem getrieben wird. Je höher die Steigerung der Produktivität, desto weniger abstrakte Arbeit ist in einem gegebenen Quantum Ware verdinglicht. Mit steigender Produktivität nimmt der Druck zu, immer mehr Waren abzusetzen. Wenn etwa ein Fahrzeughersteller die Produktivität um zehn Prozent bei der Einführung eines neuen Fahrzeugmodells erhöht – was durchaus branchenüblich ist –, dann muss er auch zehn Prozent mehr Autos umsetzen, um bei gleichem Produktpreis die gleiche Wertmasse zu verwerten – oder jeden zehnten Arbeiter entlassen.

Um den Verwertungsprozess des Kapitals aufrechtzuerhalten, müssen daher bei steigender Produktivität entsprechend mehr Waren produziert und abgesetzt werden. Je größer die Produktivität der globalen Industriemaschinerie, desto größer ist also auch ihr Ressourcenhunger, da die Wertmasse pro produzierter Einheit tendenziell abnimmt. Ein Versuch, in der kapitalistischen Weltwirtschaft eine ressourcenschonende Produktionsweise einzuführen, ist somit unmöglich – er käme einer Kapitalvernichtung gleich.

Es scheint absurd: Eine Produktivitätssteigerung, die eigentlich zur Realisierung einer ressourcenschonenden Wirtschaftsweise unabdingbar ist, wirkt im Kapitalismus wie ein Brandbeschleuniger. Denn die funktionalistische Rationalität muss stets dem irrationalen Selbstzweck uferloser Kapitalverwertung dienen. Aus diesem durch Rationalisierungsschübe ins Extrem getriebenen Verwertungszwang ergibt sich die besagte Tendenz zur immer weiter beschleunigten effizienten Ressourcenverschwendung.

Chimäre Green New Deal

Das globale Produktivitätsniveau lässt auch die Vorstellung einer ökologischen Energiewende binnenkapitalistisch zu einer Chimäre verkommen, die im Rahmen des "Green New Deal" gerade diskutiert wird. Die Idee, durch staatliche Investitionsprogramme mit der "Ökobranche" eine neue Leitindustrie zu etablieren, scheitert an der mangelnden Verwertung von Lohnarbeit in der Warenproduktion. Den notwendigen massiven Investitionen in eine entsprechende Infrastruktur stehen keine Massen von Arbeitsplätzen in der Ökobranche gegenüber, deren Besteuerung die Staatsinvestitionen tragen könnte.

Der Vergleich mit dem Fordismus kann hier lehrreich sein. Es ist illusorisch zu glauben, dass bei der Produktion in der "ökologischen" Industrie im 21. Jahrhundert solch hohe Beschäftigungseffekte erzielt werden könnten, wie sie im Zuge der Automobilmachung des Kapitalismus in den 1950er oder 1960er Jahren erreicht wurden. Solarzellen und Windkrafträder werden nicht so produziert wie Autos noch vor wenigen Jahrzehnten, als Tausende ArbeiterInnen an endlosen Montagebändern in genau festgelegten Zeitintervallen stupide Handgriffe tätigten. Bei der heute erreichten Automatisierung gelten auch für die Herstellung alternativer Energieträger ähnliche Probleme der "Überproduktivität", die die deutsche Autoindustrie und der Maschinenbau nur durch Exportoffensiven auf Kosten anderer Volkswirtschaften kompensieren können. Deswegen diskutieren auch alle über die Kosten, und nicht über die Chancen einer "Energiewende".

 

Ein ökologischer Wandel hätte sich allein wegen der krisenbedingt zunehmenden Konkurrenz zwischen Konzernen und Nationalstaaten längst durchgesetzt, wenn er einen Konkurrenzvorteil böte und den nationalen Standorten neue wachstumsstarke Industrien erschließen würde. Aufgrund des sehr ungünstigen Verhältnisses zwischen den gigantischen Kosten und der mageren reellen Verwertung von Arbeitskraft in der »Ökobranche« ist die Energiewende aber eher ein Klotz am Bein der Nationalstaaten im globalen Konkurrenzkampf. Deutschland hat es ja bereits im Rahmen seiner Energiewende versucht – mit bekanntem Ausgang. Inzwischen ist die Bundesrepublik einer der größten Klimasünder Europas. Ein kapitalistischer Green New Deal scheitert somit an den eskalierenden inneren Widersprüchen des hyperproduktiven Kapitalismus.

Zukunft nur jenseits des Kapitals

Dabei sind die materiellen und technischen Bedingungen einer ökologischen Wende längst gegeben. Das enorme Produktivitätspotential, das die Umweltzerstörung aktuell nur weiter beschleunigt, könnte jenseits des Kapitalverhältnisses zur Errichtung einer nachhaltigen Wirtschaftsweise beitragen. Erst wenn die gesellschaftliche Reproduktion nicht mehr dem Selbstzweck der Kapitalverwertung untergeordnet ist, sondern direkt der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse dient, kann eine ökologisch nachhaltige Wirtschaftsweise umgesetzt werden. Eben dies müsste auch die sich formierende Klimabewegung reflektieren.

Beim Kampf gegen den drohenden ökologischen Kollaps geht es somit nicht um einen reaktionären Antiproduktivismus, um eine Rückkehr zu archaischen Produktionsweisen. Vielmehr müssten die technischen Möglichkeiten, die der Kapitalismus hervorgebracht hat, in einem ungeheuren transformatorischen Akt jenseits des Kapitalverhältnisses zum Aufbau einer nachhaltigen Gesellschaftsformation verwendet werden. Die Produktivitätsfortschritte, die derzeit nur die Verbrennung der globalen Ressourcen beschleunigen, würden dann tatsächlich deren Schonung ermöglichen. Es geht letztendlich, auch im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Klimakrise, um die Befreiung der Produktivkräfte aus den Fesseln der kapitalistischen Produktionsverhältnisse.

Die Überwindung des Kapitals als einer verselbstständigten gesamtgesellschaftlichen Dynamik stellt folglich eine Überlebensfrage der Menschheit dar. Die ökologische Bewegung müsste bei ihrer diesbezüglichen Argumentation somit nicht so sehr an die Moral der Menschen appellieren, sondern an ihren Überlebensinstinkt.

 

Was diskutieren wir heute - etwas was vor 11 Jahren bereits sehr fundiert kritisch hinterfragt wurde. Lesen Sie selbst:


Elmar Altvater/Achim Brunnengräber  (© VSA-Verlag 2008  !!):

Mit dem Markt gegen die Klimakatastrophe?

Einleitung und Überblick 
Dieser  Reader  des  Wissenschaftlichen  Beirats  von  Attac  greift  eines  der  ernstesten  und  im  Wortsinn  brennendsten  Themen  der  Gegenwart auf. Der Klimawandel bedroht uns alle, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Wir müssen sehr schnell, schneller als es in den Klima-vereinbarungen heute angestrebt wird, eine Reduktion der Emission von Treibhausgasen erreichen – und dies in einem Ausmaß, das nach allen Verbrauchsprognosen der fossilen Energien fast ausgeschlossen scheint.  Notwendig  wären  50%  weniger  Kohlendioxid  (CO2)-Emissionen bis 2050, wenn die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre unter der kritischen Grenze von 450 ppm (parts per million) gehalten werden soll. Doch wie könnte dies erreicht werden?
Es gibt nur vier Wege: Auf dem ersten wird eine Erhöhung der Energieeffizienz angestrebt, um pro Einheit Sozialprodukt weniger fossile Energie zu konsumieren. In  der  Energie-  und  Klimapolitik  gilt  dieser  Weg  als  eine  Art  Königsweg, da auf ihm am wenigsten Widerstand zu erwarten ist. Denn von einer Effizienzsteigerung beim Energieeinsatz können, so scheint es, alle nur gewinnen. Der zweite Weg führt in den globalen Süden. Dort finden sich erstens Senken, die CO2 binden könnten, z.B. aufgeforstete Wälder. Doch wird in ganz andere Projekte investiert, weil Klimaschutz dort preiswerter zu haben sei. So könnten in Asien oder Südamerika anstatt  in  Europa  durchgeführte  Projekte  die  globalen  CO2-Vermeidungskosten verringern. Dies käme letztlich dem Klimaschutz zugute, weil mit dem gleichen Aufwand mehr CO2-Reduktionen zu haben seien. Das meinen die Befürworter. Auf dem dritten Weg wird das emittierte CO2  bei  der  Verbrennung  abgeschieden,  eingefangen  und  in  Kavernen der Erdkruste gespeichert (Carbon Capturing and Storage, CCS). Nur der vierte Weg führt fort vom fossilen Energieregime in die Welt der erneuerbaren Energieträger und zu Strukturen, die den Energieverbrauch nachhaltig senken. Die noch vorhandenen fossilen Reserven bleiben in der Erde. Welcher Weg beschritten wird, ist eine Frage politischer Entscheidungen. Diese können auf Anreizsysteme, auf Gebote und Verbote, aber auch auf Aufklärung und politische Bildung abzielen. Im Kyoto-Abkommen hat man sich vor allem auf das Anreizsystem des  Marktes  festgelegt.
Der Markt – Dein Freund und Helfer? Es ist paradox, dass internationale Klimapolitik seit etwa einem Jahrzehnt  den  Eintrag  von  CO2  und  anderer  Treibhausgase  in  die  Atmosphäre vor allem mit Instrumenten des Marktes begrenzen will. Denn ein Markt für CO2 existiert gar nicht. CO2 hat keinen Gebrauchswert, mit dem Bedürfnisse befriedigt werden könnten, im Gegenteil, es ist schädlich; der Stoff lässt sich also nicht in eine Handelsware verwandeln. CO2 hat auch keinen Wert, der als Marktpreis ausgedrückt werden könnte, im Gegenteil, es handelt sich um einen Unwert, den man möglichst schleunigst loswerden möchte – wenn es denn so einfach wäre. Also bietet es sich eigentlich an, die CO2-Emissionen ordnungsrechtlich, mit gesetzlichen Geboten und Verboten, mit Grenzwerten und technischen Auflagen zu unterbinden, nicht aber Marktmechanismen eines zunächst gar nicht existenten Marktes zu bemühen. Doch sehen die marktmäßigen Instrumente des Klimaschutzes sehr elegant aus. Sie passen in das Weltbild einer globalen liberalen Ordnung, in der Markt vor Planung, Wirtschaft vor Politik und privater Sektor vor öffentlichen Gütern und Staat rangieren. Dessen Charme sind auch viele Umweltbewegte, Globalisierungskritiker, Vertreter von grünen und linken Parteien und die Mehrzahl der Umweltökonomen verfallen. Sie lassen sich von der versprochenen List einer Idee faszinieren: Preissignale und Gewinnanreize sollen so gesetzt werden, dass die Verfolgung individueller Interessen zu einem für alle, ja für die Gesamtheit der sechs Milliarden Erdenbürger optimalen Ergebnis führt, nämlich zu einer Reduktion der Treibhausgasemissionen um den Prozentsatz, der klimapolitisch notwendig ist – ohne Gebote und Verbote, staatliche Bürokratie, in aller Marktfreiheit. Da aber ein Markt für Verschmutzungsrechte nicht existiert, muss dieser geschaffen werden. Es muss etwas zur Handelsware gemacht werden, das eigentlich nicht handelbar ist. In der neoliberalen Vorstellung ist dies ein politischer Kunstgriff, der jedoch den Dingen ihre eigentliche Natur gibt, nämlich Handelsobjekt von Privaten zu sein.
Das Machen eines Marktes durch Kontextsteuerung, wie es Fisahn in diesem Reader formuliert, ist freilich voraussetzungsvoll. Zwar wird die Atmosphäre, in der die Treibhausgase ja abgeladen werden, nicht privatisiert, und CO2 wird kein privater Vermögenswert. Wohl aber werden Rechte zur Verschmutzung der Atmosphäre politisch durch den Staat konstruiert (allowances). Diese werden dann an CO2-Emittenten gemäß einem nationalen Allokationsplan vergeben – fast kostenlos wie bislang in der EU  oder  gegen  einen  in  einem  Versteigerungsverfahren ermittelten Preis. So soll es möglicherweise ab 2012 auch in der EU geschehen, sofern nicht Lobby-Interessen dies verhindern. Also wird auch die Knappheit des Wirtschaftsgutes Verschmutzungsrecht künstlich, d.h. politisch festgelegt, durch Obergrenzen der Emissionen (cap) nämlich. Der grüne Klimakapitalismus ist also nur deshalb so charmant, weil er durch und durch politisiert ist. Die  CO2-Verursacher  verfügen  nun  über  ein  individuelles  ökonomisches Recht auf Verschmutzung der Atmosphäre. Sie erhalten eine politisch zertifizierte Ware, die sie handeln können, wie Speckseiten, Ölfässer, Weihnachtsschmuck oder Aktien und Optionsscheine. Diese Art und Weise der Problemlösung ist tief in das kapitalistische Gesellschaftssystem  und  die  Vorstellung  der  Naturbeherrschung  eingelassen, wie Biesecker/von Winterfeld aus historischer Perspektive zeigen.
Doch, so Ptak in seinem Beitrag, funktionieren Zertifikatemärkte nicht wie Wochenmärkte, auf denen man nicht nur einkauft, sondern auch gern ein Schwätzchen hält. Sie haben globale Reichweite, sie sind vermachtet, sie unterliegen der harten Standortkonkurrenz und werden in die Machenschaften auf Finanzmärkten und in deren Krisentendenzen hineingezogen  (vgl.  dazu  den  Beitrag  von  Altvater).  Die  Preisbewegungen auf einem Kunstmarkt wie dem für Emissionszertifikate sind erratisch  und  extrem  volatil,  wie  Nell/Semmler/Rezai  in  diesem  Reader belegen. Der Wert von Zertifikaten auf dem Markt hat nichts mit Kosten von Arbeit und Kapital zu tun, und da es keine zuzuordnenden Kosten gibt, erfolgt die Preisbildung auf dem Zertifikatemarkt außer-halb von Raum und Zeit. Auf einem geschichtslosen Markt schwanken die Preise der Zertifikate wie Schilfrohr im Winde. Daher überrascht die hohe Volatilität nicht. Bei den marktbasierten Lösungsansätzen steht die neoliberale Property Rights-Schule Pate (so Ptak), die über die Ausweitung von privaten  Verfügungsrechten  neue  Märkte  zu  konstituieren  trachtet,  nicht  zuletzt um den öffentlichen Sektor zurückzudrängen. Die Natur – hier die Atmosphäre – wird als Aufnahmemedium für Abfallstoffe und Emissionen begriffen. Als solches ist sie in der fossilen Ökonomie physikalisch notwendig. Also können durch einen politischen Akt handelbare Verschmutzungsrechte geschaffen und einer Gruppe von Akteuren kostenlos oder gegen Entgelt zugeteilt werden. Sie haben nun das in handelbaren Zertifikaten verbriefte Recht auf eine bestimmte Menge an Emissionen.
Dass es hierbei große Unterschiede in der Gestaltung wie der Funktions- und Wirkungsweise geben kann, führt Schreurs in ihrem Überblick über verschiedene Handelssysteme aus. Der Kunstgriff des Emissionshandels ist zwar faszinierend. Doch die Gewissheit, die notwendige Reduktion der Emission von Treibhausgasen mit marktbasierten Instrumenten erreichen zu können, ist Zweifeln gewichen. Denn die empirischen Erfahrungen mit dem Emissionshandel (vor allem mit dem europäischen cap and trade-System) sind enttäuschend. Die marktbasierten Instrumente sollten (auf dem ersten der oben bezeichneten vier Wege) über eine Effizienzsteigerung beim Energieeinsatz die Emissionen senken und auf dem zweiten Weg (mit Hilfe von Clean Development Mechanism [CDM] und Joint Implementation[JI] – vgl. dazu Witt/Moritz in diesem Reader) dafür sorgen, dass Klimaschutz erstens billiger wird und zweitens die Kohlenstoffsenken genutzt werden, durch die CO2 der Atmosphäre entzogen werden könnte (zum Kohlenstoffzyklus vgl. den Beitrag von Altvater). Die bisherigen CDM-Projekte leisten dies völlig unzureichend. Wenn dem Marktmechanismus nicht vertraut werden kann (vgl. aber Schäfer/Creutzig in diesem Reader), sind Umweltsteuern (eine carbon tax), so Nell/Semmler/Rezai, sowie ordnungsrechtliche Regelungen, so Fisahn, ein probates Mittel. Darüber hinaus muss – auf dem vierten Wege – ein sozial-ökologischer Umbau in Richtung einer solaren Gesellschaft, die sich weniger marktbasierter Instrumente bedient, als erneuerbare Energieträger nutzt, zum wichtigsten umweltpolitischen Ziel werden, so Mez/Brunnengräber  im  abschließenden  Beitrag.  Gerechtigkeitsfragen  und  die  Frage, welche Rolle dabei der Emissionshandel spielen kann, werden von Santarius diskutiert. Es ist die Botschaft dieses Readers, dass alle vier Wege gangbar sind. Zielführend, nämlich fort vom fossilen Ener-giesystem zu gelangen und Klimaschutz Wirklichkeit werden zu lassen, jedoch ist vor allem der vierte Weg.

Zur Erinnerung: Die flexiblen Klimaschutzinstrumente von Kyoto
Mit dem 1997 unterzeichneten Kyoto-Protokoll sind 38 Industrie- und Transformationsländer (die so genannten Anhang-B-Staaten) Verpflichtungen zur Reduktion der Emissionen von Treibhausgasen eingegangen. Das im Vertrag  festgelegte  Gesamtreduktionsziel  lautet:  minus  5,2%  im  Durch-schnitt der Jahre 2008 bis 2012 gegenüber 1990. Der Hauptteil der Einsparungen soll jeweils im eigenen Land erfolgen. Um die Kosten von Klima-schutzinvestitionen  zu  senken,  können  Staaten  und  Unternehmen  aber  auch drei flexible Instrumente nutzen, die es ihnen erlauben, ihre Verpflichtungen teilweise im Ausland zu erbringen: den Emissionshandel (Emissions Trading, ET), die Gemeinsame Umsetzung (Joint Implementation, JI) und den Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung (Clean Deve-lopment Mechanism, CDM). Der Kyoto-Emissionshandel ist nur zwischen Anhang-B-Ländern zulässig. Ihnen  ist  es  seit  2008  gestattet,  Kyoto-Emissionsrechte  (Assigned  Amount  Units, AAU) zu kaufen oder zu verkaufen. Dabei werden Teile des ursprünglich durch das Kyoto-Protokoll zugewiesenen Emissionsbudgets von einem Land auf das andere übertragen.
Bereits am 1. Januar 2005 startete in der Europäischen  Union  ein  Emissionshandelssystem,  bei  dem  nicht  Staaten,  sondern Betreiber energieintensiver Anlagen eine begrenzte Menge handelbarer Zertifikate für den Ausstoß von Kohlendioxid erhalten (European Allowance Units, EAU). Dieser wird gelegentlich mit dem Kyoto-Emissionshandel  verwechselt.  Letzterer  ermöglicht  Anhang-B-Staaten,  die  mit  ihrem Treibhausgasausstoß über ihrer Kyoto-Verpflichtung liegen, EAUs von anderen Anhang-B-Staaten zu kaufen, deren Treibhausgasemissionen unter den Kyoto-Verpflichtungen liegen. Der anlagenbezogene EU-Emissionshandel ist hingegen auf einzelne Sektoren der Volkswirtschaft begrenzt – derzeit  auf  die  Energiewirtschaft  und  die  Industrie.  Verkehr,  Handel  und  Dienstleistungen sowie private Verbraucher sind bislang in das Handelssystem nicht einbezogen. Bei JI und CDM investieren Staaten, Unternehmen oder so genannte Carbonfonds in Klimaschutzprojekte im Ausland, zum Beispiel in Anlagen zur Erzeugung regenerativer Energien, in höhere Energieeffizienz oder in die Neutralisierung von Methangasen aus der Abfallwirtschaft. In der Folge erhalten sie Emissionsgutschriften in Höhe der eingesparten Treibhausgase. Diese können die Investoren und Projektpartner im Gastland zur Abrechnung  eigener  Reduktionsverpflichtungen  nutzen  bzw.  am  Emissionshandelsmarkt verkaufen. 
JI-Vorhaben sind analog zum Kyoto-Emissionshandel nur zwischen Staaten mit quantitativen Emissionszielen, also innerhalb der Anhang-B-Ländergruppe,  gestattet.  Emissionsgutschriften  (Emission  Reduction  Units,  ERU)  daraus sind seit 2008 möglich. Im Unterschied zum JI-Mechanismus fungieren bei CDM-Projekten nicht Industrieländer, sondern Entwicklungsländer als Gastländer. Die dort erzielten Emissionsreduktionen (Certified Emission Reductions, CER) können rückwirkend bis zum Jahr 2000 anerkannt werden, sofern sie gegenüber der UN nachweisen, dass die Reduktionen zusätzlich sind und ohne CDM-Mechanismus nicht stattgefunden hätten.

Elmar Altvater / Achim Brunnengräber (Hrsg.)
Ablasshandel gegen Klimawandel?
Marktbasierte Instrumente in der globalen Klimapolitik und ihre Alternativen
Reader des Wissenschaftlichen Beirats von Attac
240 Seiten | 2008 | ISBN 978-3-89965-291-8 1

Titel nicht mehr lieferbar, nur noch antiquarisch ...
 

 

Eine Kritik der EU-Handelspolitik
Autor: Arndt Hopfmann, rls-Referent im Büro Brüssel
Erschienen   Februar 2019

Freihandelsverträge der EU (2019)


Freihandelsverträge der EU (2019)
Freihandelsverträge der EU (2019) Datastat [Public domain], via Wikimedia Commons

Die EU-Handelspolitik steht seit 2015 unter dem Motto «Handel für alle». Angesichts des Inhalts der circa 20 Abkommen, die die Europäische Kommission derzeit – mit viel Eifer und offensichtlicher Eile – auszuhandeln bestrebt ist, sollte das Credo allerdings eher «Freihandel mit allen» heißen. Aber selbst das greift genau genommen noch zu kurz. Denn bei diesen Verhandlungen geht es um weit mehr als nur handelspolitische Vereinbarungen. Es geht um das Festhalten an einer neoliberalen Variante der Globalisierung, bei der insbesondere die merkantilistisch orientierten großen EU-Mitgliedsstaaten – allen voran Deutschland – bemüht sind, nicht nur wachsende Handelsbilanzüberschüsse gegenüber dem Rest der Welt zu erzielen, sondern auch weiterhin allein die Spielregeln zu bestimmen, wirtschaftspolitische Standards zu setzen und diese auf möglichst lange Zeit festzuschreiben. Angesicht der aktuellen Entwicklungen, die mit dem breiten Widerstand gegen TTIP (der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft zwischen der EU und den USA) und TISA (Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen) einen vorläufigen Höhepunkt erreichten, und die infolge der America-First-Strategie des US-Präsidenten durch neue handelspolitische Konflikte gekennzeichnet sind, steht jedoch die bisherige Freihandelsstrategie auf der Kippe, sodass die EU-Kommission derzeit versucht, möglichst rasch noch möglichst viele Freihandelsfakten zu schaffen, bevor Varianten einer eher protektionistischen Politik weltweit an Einfluss gewinnen.

    Es geht um weit mehr als Handel, nämlich um eine dauerhafte neoliberale Ausrichtung der Wirtschaftspolitik

Im Kern folgt das 2015 verkündete neue Paradigma, das laut EU-Kommission auf mehr Wirksamkeit, Transparenz und Werte setzt, jedoch den Grundzügen, die die EU bereits 2006 postulierte und die damals unter «Global Europe» firmierten. Nach wie vor besteht das Ziel der EU-Handelspolitik darin, die EU zum «wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt» zu machen (European Union 2006). Die dahinterstehende Exportstrategie kann freilich nur funktionieren, wenn weltweit Freihandel und liberale Marktöffnung als wirtschaftspolitische Dogmen anerkannt werden.

Die Welthandelsorganisation (WTO), die dafür eigentlich 1994 als eine Art globale Liberalisierungsagentur geschaffen wurde, erwies sich infolge des hinhaltenden Widerstands der Entwicklungsländer als immer weniger zweckdienlich. Deshalb wurde zunächst ein Prozess in Gang gesetzt, in dem mithilfe der Schaffung von sogenannten Mega-Regional-Abkommen (wie TTIP oder die Transpazifische Partnerschaft – TPP) versucht wurde, globale Standards – auch gegen die stärker werdende Konkurrenz aus den sogenannten BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) – im Interesse von USA und EU zu bestimmen und weltweit durchzusetzen.

Diese Strategie ist mit dem Amtsantritt von Donald Trump als US-Präsident vorläufig ins Stocken geraten, weil die Trump-Administration durch den rigorosen Einsatz einer aggressiven Schutzzollpolitik bestrebt ist, das bestehende multilaterale Handelsregime zum Vorteil für die USA umzugestalten und dafür die bisher von den G-7-Ländern einvernehmlich verfolgte Handelsdoktrin in eine America-First-Freihandelsordnung zu verwandeln. Wie auch die Neuverhandlung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) beweist, geht es Trump mitnichten um irgendeine progressive Reform des multilateralen Handelsregimes, sondern schlicht um Fortführung des bisherigen Systems unter offener US-amerikanischer Dominanz, was nichts anderes heißt als Neoliberalismus plus politische Unterwerfung der Handelspartner unter die Interessen der USA.

Damit droht das Ende einer Ära, in der die Orientierung auf Exportsteigerung und Leistungsbilanzüberschüsse das alles beherrschende außenwirtschaftliche Axiom war. Dies würde auch dem Bestreben ein Ende setzen, die Weltwirtschaft in eine Arena zu verwandeln, in der sich Konzerne ungehindert und profitabel bewegen können. Das wiederum hat die EU-Kommission offenbar motiviert, noch schnell möglichst viele und möglichst umfassende Freihandelsverträge einer «neuen Generation» mit möglichst vielen Ländern und möglichst langer Dauer aufzulegen. Mit diesen umfassenden Abkommen soll vor allem Folgendes erreicht werden:

  •     Die Festschreibung einer liberalen Wirtschaftsordnung, in der der Marktzugang für ausländische Unternehmen umfassend gewährleistet ist, insbesondre durch Beseitigung von Zollschranken, Aufhebung von Restriktionen im öffentlichen Beschaffungswesen sowie in Bezug auf Dienstleistungen und Agrarmärkte und die weitgehende Kommerzialisierung von Infrastrukturen sowie Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge.
  •     Die Vereinheitlichung von Standards und die Beseitigung «nichttarifärer Handelshemmnisse» im Wege «regulatorischer Kooperation», das heißt durch die vorauseilende und bevorzugte Mitwirkung von transnationalen Konzernen bei der Erarbeitung neuer gesetzlicher Regelungen.
  •     Die Absicherung der Profiterwartungen ausländischer Investoren durch die vertragliche Verankerung von Sonderklagerechten oder die Schaffung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs.


Die Absicht, mit derartigen Vereinbarungen eine langfristige und möglichst unumkehrbare Öffnung der Wirtschaften außereuropäischer Länder für eine EU-Exportoffensive zu erreichen, wird auch darin deutlich, dass in der Regel sogenannte «Sperrklinkenklauseln» vereinbart werden – das heißt zwar sind stets weitergehende Zollsenkungen und Privatisierungen möglich, aber einmal verabredete Zollsenkungen oder die vollzogene Privatisierung von Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge dürfen nicht mehr rückgängig gemacht werden.

    Was der Zugriff auf Erdöl in der Vergangenheit war, könnte in Zukunft die digitale Bereitstellung von Dienstleistungen und die Kontrolle von Daten sein

Neben regulatorischer Kooperation und Sonderklagerechten, die inzwischen große öffentliche Aufmerksamkeit erregen und massiv in der Kritik stehen, zeichnen sich vor allem hinsichtlich des weltweiten Zugriffs auf Energie und Rohstoffe, im Internethandel (E-Commerce), auf den Dienstleistungsmärkten sowie beim Handel mit sogenannten Umweltgütern bedenkliche Trends in der EU-Handelspolitik ab.

In Bezug auf den Handel mit Energieträgern und Rohstoffen soll offenbar möglichst viel beim Alten bleiben. Insbesondere betrifft dies die Bemühungen, das Rohstoffangebot auf dem Weltmarkt stabil sowie die Preise niedrig zu halten. Für Ersteres soll ein nicht zuletzt in den sogenannten Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (auch bekannt als Economic Partnership Agreements – EPAs) verankertes «Verbot» von Exportsteuern und die Aufrechterhaltung der überkommenen internationalen Arbeitsteilung sorgen. Letzteres wird unter anderem mittels sogenannter «Konfliktrohstoffe» bewerkstelligt (Coltan aus dem Osten der Demokratischen Republik Kongo, «Blutdiamanten» aus Simbabwe oder Erdöl, das vom Islamischen Staat auf den Weltmarkt gebracht wird). Die auch von zivilgesellschaftlichen Organisationen lange geforderte und seit Juni 2017 in Kraft gesetzte EU-Verordnung zu Konfliktmineralien entfaltet keineswegs nur die Wirkung, dass Rohstoffe aus bestimmten Regionen nicht mehr aufgekauft und eingesetzt werden. Wäre dem so, würde die Förderung in Konfliktgebieten rasch zum Erliegen kommen. Mit ihrer Klassifizierung als Mineralien, die in Konfliktregionen unter zweifelhaften Bedingungen gefördert werden, werden diese Produkte faktisch illegalisiert und so ihr Preis gesenkt. Denn gekauft werden diese Rohstoffe auch weiterhin – oft vermittelt über viele Zwischenhändler, die wiederum helfen, ihre tatsächliche Herkunft zu verschleiern.

Ein weiteres hoch sensibles Gut, für das die EU unter allen Umständen den Weltmarkt offenzuhalten versucht, sind die als Seltene Erden bezeichneten Mineralien, die oft zwar nur in kleinsten Mengen in Hightechprodukten eingesetzt werden, ohne die diese Erzeugnisse allerdings nicht funktionieren würden. Zu den Seltenen Erden werden 17 Metalle gezählt: Scandium, Yttrium und Lanthan sowie die 14 im Periodensystem auf das Lanthan folgenden Metalle, die sogenannten Lanthanoide. Die Förderung dieser Substanzen ist sehr aufwendig und oft mit erheblichen Umweltschäden verbunden. Seitdem China, mit einem Weltmarktanteil von circa 97 Prozent, im Jahr 2010 den Export stark eingeschränkt hat, sind die Industriestaaten hochgradig alarmiert und versuchen fieberhaft neue Fördergebiete zu erkunden. Die in Bezug auf Umweltbelange und Ressourcenschonung beste Lösung bestände allerdings in einer drastischen Verbesserung der Recyclingquote; bisher wird aber mehr als die Hälfte des Elektroschrotts in Deutschland gar nicht recycelt.

Wenn es um die Zukunft des Handels geht, macht ein neues Zauberwort immer öfter und immer euphorischer die Runde: E-Commerce (digitale Wirtschaft; elektronischer Handel). Der kürzlich veröffentlichte Welthandelsbericht 2018 der WTO trägt etwa den vielsagenden Titel: «Die Zukunft des Welthandels: Wie digitale Technologien die globale Wirtschaft verändern werden» (WTO 2018). Befürchtungen, dass schon bald die GAFAs dieser Welt (Google, Amazon, Facebook, Apple) alles über alle wissen und mithilfe von Big-Data-Plattformen die (Handels-)Welt verändern werden, haben weltweit die Zivilgesellschaft auf den Plan gerufen. Insofern ist die am 24. Mai 2018 in Kraft gesetzte Europäische Datenschutzgrundverordnung – angesichts der ansonsten zuverlässig neoliberal ausgerichteten EU-Kommission – ein erstaunlicher und überaus begrüßenswerter Fortschritt, der allerdings nicht den Blick dafür verstellen darf, dass der Kampf um die Daten, deren Erhebung und unregulierter, grenzüberschreitender Transfer sowie die Durchsetzung von Transferverboten für sensible Daten (Lokalisierungszwang z.B. für gesundheits- oder sozialversicherungsrelevante Informationen) noch lange nicht gewonnen sein dürfte. Die großen Internetkonzerne versuchen schon heute mit allen Mitteln (der regulatorischen Kooperation), eine durchgreifende staatliche Regulierung, wie sie unter anderem durch sogenannte Safeguard-Klauseln in Handelsabkommen erreicht werden könnte, sowie eine Besteuerung von via Internet gehandelten Gütern und Dienstleistungen zu verhindern.

Zwei weitere, für die zukünftige arbeitsteilige Weltwirtschaftsstruktur wichtige Aspekte können hier nur kursorisch erwähnt werden. Zum einen der Umstand, dass ein wachsender über Internet vermittelter Handel von Gütern und Dienstleistungen eine Explosion der Anforderungen an nationale und regionale Logistiknetzwerke ausgelöst hat. Damit verbunden ist nicht selten eine «UBER-isierung» dieses Bereichs (nach der Internetplattform Uber, die vor allem als Vermittler von Taxidiensten bekannt wurde); das heißt die Rekrutierung Abertausender, höchst prekär bezahlter Dienstleister*innen (Fahrer*innen, Bot*innen, Abfertigungspersonal in gigantischen Logistikzentren), die auf Abruf ohne jede soziale Absicherung stets einsatzbereit sind und ohne die die extrem kurzen Lieferzeiten, die als wesentlicher Anreiz für elektronischen Handel gelten, niemals möglich wären. Zum anderen wird sich die Kontrolle von transnationalen Fertigungsketten immer mehr dorthin verlagern, wo die technologischen Kernkomponenten des jeweiligen Produkts (weiter-)entwickelt werden und wo das gesamte digitale Produktions- und Funktionsmanagement stattfindet. Die Kontrolle der Kerntechnologie entscheidet darüber, wer Produzent und wer Zulieferer ist – und damit wer dem Preisdruck ausgesetzt ist, den die Hersteller auf die Zulieferer gemeinhin ausüben. Wenn sich also die Produktion und die Setzung von Produktionsstandards für Elektromotoren in der Automobilindustrie nach Asien verlagert (weil dort vor allem infolge staatlicher Regulierung elektrisch angetriebene PKWs bald das Gros der Verkäufe ausmachen werden) und wenn sich die führenden Softwareentwickler für selbstfahrende PKWs überwiegend in Nordamerika befinden, dann kann es gut sein, dass sich die stolzen PKW-Bauer Deutschlands schon bald in der untergeordneten Rolle von Zulieferern wiederfinden werden.

Allein der Umstand, dass das Handelsreferat des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) bereits im März 2017 in einem Konzeptpapier den Versuch unternommen hat, das Programm der EU zur Unterstützung beim Ausbau der Handelsinfrastruktur mit den Nachhaltigkeitsentwicklungszielen der UNO (Sustainable Development Goals – SDGs) zu harmonisieren, zeigt, dass Umweltbelange in den künftigen Handelsbeziehungen eine wachsende Rolle spielen werden. Die Bemühungen der EU, gemeinsam mit anderen WTO-Mitgliedern ein plurilaterales Umweltgüterabkommen (Environmental Goods Agreement – EGA) als erstes Regelwerk für die Verringerung von Handelsbarrieren speziell für umweltfreundliche Güter abzuschließen, liegen allerdings seit dem Amtsantritt von US-Präsident Trump auf Eis.

In diesem Bereich geht es darum, eine Liste von Gütern zu vereinbaren, für die zukünftig die Zölle weitgehend gesenkt und letztendlich komplett beseitig werden sollen. Bei diesen Waren handelt es sich natürlich nicht – wie vielleicht vermutet werden könnte – um frische Luft, sauberes Wasser, intakte Landschaft, gesunden Wald oder fischreiche Meere, sondern um eine Vielzahl von Erzeugnissen und Dienstleistungen mit durchaus dubiosen Umweltwirkungen, die dem Bundesamt für Statistik der Schweiz zufolge «dem Schutz der Umwelt oder dem Erhalt der natürlichen Ressourcen dienen». Das können Gasheizungssysteme und Dämmstoffe zur Gebäudeisolation genauso sein wie Fahrräder, Holzprodukte, Chemikalien und Mikroorganismen(!), die etwa zwar die Zersetzung von Plastikmüll befördern, aber selbst – als künstlich geschaffene Lebensformen – keineswegs unbedenklich sind. Ein wesentlicher, für den Handel insbesondere vieler Entwicklungsländer wichtiger Aspekt ist dabei der, dass unter dem Rubrum «Umweltgüter» zukünftig auch die Herstellungsverfahren eines Produkts eine Rolle spielen könnten. Im Rahmen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT), das im Rahmen der WTO fortgeführt wird, werden bislang Produkte völlig unabhängig von der Art und Weise ihrer Erzeugung (also auch ohne Ansehen der Umweltverträglichkeit der Produktion oder z.B. des Einsatzes von Kinderarbeit) klassifiziert. Die Einführung von Umwelt- und Sozialstandards in der Produktion von Gütern, um die Bedingungen zu bestimmen, unter denen diese Waren gehandelt werden können, kommt der Einführung von nichttarifären Handelshemmnissen gleich. Diese können –wie bereits in Bezug auf die sanitären und phytosanitären Standards (SPS), die die EU für die Einfuhr zum Beispiel von Frischfleisch setzt – zu wesentlichen Erschwernissen für die Teilnahme von Ländern des globalen Südens am Handel mit der EU führen.

In all diesen – hier nur sehr verkürzt umrissenen – Bereichen ist die EU-Handelspolitik durchaus zwiespältig. Einerseits dient sie dem Schutz EU-einheimischer Industrien, der Sicherung von deren Rohstoffbezugsquellen, der Absicherung von Profit- und Liberalisierungsbestrebungen aufstrebender Akteure in der digitalen Wirtschaft sowie dem Versuch, Umweltstandards für Produkte heraufzusetzen– auch um aufkommende BRICS-Konkurrenten auszuschalten. Andererseits werden damit allerdings nicht nur Profitinteressen und Expansionsbestrebungen des Kapitals bedient, es wird auch den Interessen der EU-Bevölkerung am Erhalt von Arbeitsplätzen, an mehr ökologisch hergestellten Produkten und an der Einhaltung von Sozialstandards weltweit Rechnung getragen. Nicht zuletzt deshalb sollen möglichst viele Freihandelsabkommen zu Bedingungen der EU geschlossen werden.

    Ein weltumspannendes Netzwerk von Freihandelsverträgen ist das Ziel, aber die Verhandlungen verlaufen zäh und die Ergebnisse bleiben unter den Erwartungen oder erweisen sich als Pyrrhussiege

Die bereits seit einigen Jahren virulente Diskussion über die destruktiven Langzeitwirkungen von wachsenden Leistungs- und insbesondere Handelsbilanzungleichgewichten hat an Schärfe gewonnen. Grund dafür ist nicht zuletzt die wachsende Polarisierung innerhalb der EU und vor allem innerhalb der Eurozone, in der die sogenannten Südländer (insbesondere Griechenland, Spanien, Portugal, Italien und manche zählen inzwischen Frankreich dazu) zunehmend marginalisiert werden, während der «Exportweltmeister» Deutschland und die Benelux-Staaten ihren Entwicklungsvorsprung vergrößern. Überall in der Welt wächst allerdings der Widerstand gegen bedingungslosen Freihandel. Insgesamt ist es nicht ausgeschlossen, dass die Ära eines von neoliberalen Politiken befeuerten Freihandels zu Ende geht und durch eine Wiederbelebung von eher nationalstaatlicher Wachstums- und Industriepolitik, verbunden mit verstärkter staatlicher Regulierung der Außenwirtschaftsbeziehungen, ersetzt wird. Deshalb versucht die EU in möglichst vielen Bereichen (z.B. bei der Liberalisierung der öffentlichen Beschaffungsregimes) noch schnell Fakten zu schaffen – mit durchwachsenen Resultaten.

Eine wichtige Entscheidung hat sich die EU quasi selbst eingebrockt. Als es im Vorfeld des Abschlusses von CETA (Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen; Comprehensive Economic and Trade Agreement) zwischen der EU und Kanada zum massiven Anwachsen des Widerstandes kam, bat die EU-Kommission den Europäischen Gerichtshof (EuGH) um eine Beurteilung, ob dieses Ankommen den EU-Mitgliedsländern einzeln zur Billigung vorgelegt werden muss. Der EuGH verwies in seiner Stellungnahme darauf, dass Investitionen immer in die Kompetenz der Mitgliedsländer fallen, sodass immer dann, wenn Freihandelsverträge auch Investitionsschutzklauseln (sogenannte Investor-Staat-Streitbeilegungsvereinbarungen – englisch abgekürzt ISDS) enthalten, diese Abkommen den Parlamenten der EU-Mitgliedsländer zur Ratifizierung vorgelegt werden müssen. Folglich werden derartige ISDS-Klauseln zukünftig wohl aus EU-Freihandelsverträgen verschwinden, um deren Inkraftsetzung qua Ratifizierung durch das Europaparlament nicht zu verzögern. Übrigens wurden auch aus dem neu verhandelten Abkommen zwischen Mexiko, den USA und Kanada (USMCA oder auch NAFTA 2.0) ISDS-Klauseln weitgehend entfernt, weil sie – nach Auffassung von Trump & Co. – US-Firmen in der Regel benachteiligen.

In Asien verhandelt die EU nach dem faktischen Scheitern des Abkommens mit der ASEAN-Gruppe zurzeit nur noch bilaterale Abkommen mit Vietnam, Indonesien und Singapur. Abgeschlossen wurde indes im Juli 2018 das Abkommen mit Japan (JEFTA), das nach Angaben der EU wertmäßig immerhin 30 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts umfasst. Obwohl dieses Freihandelsabkommen schon deshalb weniger problematisch ist, weil die Vertragspartner ein ähnliches Entwicklungsniveau haben, finden sich eine ganze Reihe bedenklicher Abmachungen, die durchaus die Entscheidungsfreiheit von Regierungen der Vertragsstaaten bezüglich der Bereitstellung von Gütern der öffentlichen Daseinsfürsorge unterlaufen können.

Mit Blick auf die AKP-Staaten (die ehemaligen Kolonien Belgiens, Frankreichs, Großbritanniens und Portugals in Afrika, der Karibik und dem Pazifik) versuchte die EU nach der Gründung der WTO (1994) und dem Abschluss des sogenannten Cotonou-Abkommens (2000), die Wirtschaftsbeziehungen auf eine WTO-konforme, das heißt freihandelsbasierte, Grundlage zu stellen. Zwar wurden in einem Verhandlungsmarathon, der sich über 15 Jahre hinzog, schlussendlich – nicht zuletzt infolge massiven, erpresserischen Drucks der EU-Kommission – Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA) paraphiert, aber nur die wenigsten sind bisher zur Anwendung gelangt. Das Karibik-EPA (CARICOM) wird seit 2007 und das SADC-EPA (südliches Afrika) seit 2016 – allerdings eingeschränkt – umgesetzt. Seitdem jedoch selbst Bundeskanzlerin Merkel im Juni 2017 im Vorfeld des G-20-Gipfels und unter dem Eindruck massiver zivilgesellschaftlicher Proteste eingeräumt hat, dass die EPAs mit Afrika «so nicht richtig» seien und womöglich neu verhandelt werden müssten, hat auch der Eifer der EU-Kommission, eine Umsetzung der EPAs gegebenenfalls zu erzwingen, deutlich nachgelassen. Offenbar konzentriert sich die EU jetzt auf die seit September 2018 laufende Neuverhandlung des AKP-EU-Vertrages (Post-Cotonou-Abkommen).

In Lateinamerika – mit Bezug auf Mexiko und Mercosur – ist die Lage ähnlich verfahren. Das Abkommen mit den Mercosur-Staaten (Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay) kommt nicht voran. Von besonderer Bedeutung sind der Agrar- und Lebensmittelhandel, denn bereits jetzt kommt der Großteil der EU-Agrar- und Lebensmittelimporte von dort. Dabei sind nicht zuletzt die Quotenforderungen des Mercosur bei (Rind)Fleischexporten in die EU von Bedeutung – nicht nur für die Erzeuger in der EU, sondern auch hinsichtlich der besorgniserregenden Umweltbelastungen, unter denen die Massenproduktion von Fleisch in Lateinamerika stattfindet. Die Verhandlungen über ein Abkommen mit Mexiko, das sehr breit angelegt ist – von Warenhandel über Dienstleistungen bis zu SPS – sind ebenfalls ins Stocken geraten, wahrscheinlich auch unter dem Eindruck der von Donald Trump und der US-Administration forcierten Neuverhandlung des NAFTA-Vertrages. Ob das wesentliche Ziel Mexikos, die Diversifizierung seiner Absatzmärkte, durch einen Freihandelsvertrag mit der EU erreicht werden kann, bleibt vorerst abzuwarten. Das Freihandelsabkommen der EU mit Peru und Kolumbien wird seit 2013 vorläufig angewandt. Ecuador ist diesem Abkommen im November 2016 beigetreten.

Eine Einschätzung der EU-Handelsstrategie nach Weltregionen kann nicht an der Feststellung vorbei, dass sich die globale Durchsetzung von Freihandelsvereinbarungen um jeden Preis – auch mit ausgefeilten Winkelzügen in Verhandlungen und (politisch-diplomatischer) Erpressung – nur bedingt und wohl nur zeitlich begrenzt erreichen lässt. Die Widerstände wachsen erkennbar, allerdings nicht nur im linken Lager, sondern auch bei der einst unverbrüchlich verbündeten US-Administration. Im eskalierenden Handelskonflikt mit den USA versucht die EU nun, das westliche Bündnis und seine Freihandelsorientierung mithilfe eines gemeinsamen Feindes zu retten. Dieser Feind heißt China.
Gesellschaft, Wirtschaft, Handel – worauf es aus linker Perspektive wirklich ankommt

«Freihandel ist der Protektionismus der Mächtigen» (Vandana Shiva). In der Tat haben die heutigen Freihandelsbefürworter im Zuge ihres eigenen Aufstiegs zu Industrienationen nie freien Handel praktiziert. Und sie praktizieren ihn bis heute nicht, was ein Blick auf das ausgeklügelte Zollregime der EU nur allzu deutlich zeigt – wo immer auch nur im Ansatz unerwünschte Konkurrenz auftaucht, werden sofort die Marktzugangsrestriktionen verschärft.

Dieses Argument bezüglich der Scheinheiligkeit der Freihandelsapologetik wird von Kritiker*innen bereits seit Langem immer wieder vorgebracht – jedoch ohne viel Erfolg. Ähnlich erfolglos sind die allenthalben anzutreffenden Forderungen nach einem fairen und/oder gerechten (oder noch besser faireren und gerechteren) Welthandel. Denn unter gerecht wird in der internationalen Arena gemeinhin das verstanden, was vertraglich vereinbart (verrechtlicht) wurde. Und fair bezieht sich lediglich darauf, dass die vereinbarten Spielregeln – nach Ermessen einer Schiedsperson oder eines Schiedsgerichts – für alle Beteiligten gleich angewandt werden. Mit derartigen Forderungen nach mehr Gerechtigkeit und mehr Fairness können die Regierenden (nicht nur in der EU) gut leben und sich sogar an die «Spitze der Bewegung» stellen.

Nötig ist eine grundsätzliche Kritik der EU-Handelsdoktrin in der umfassenden Form, wie sie selbst angelegt ist – nämlich als der Versuch, ein neoliberales Wirtschaftsmodell zu verewigen. Eine Kritik dieser Doktrin muss dabei zunächst darauf zielen, Handel an den Platz (zurück) zu setzen, der ihm eigentlich in arbeitsteiligen Wirtschaftsbeziehungen zukommt. Er ist nicht das Vehikel zur Durchsetzung einer Wirtschaftsordnung, sondern ein Mittel zur Steigerung der Effizienz und Suffizienz einer Volkswirtschaft. Seine Wirkungen sind daher nicht (allein) auf die Steigerung der Produktivität gerichtet, sondern auch auf die Verbesserung der Lebensumstände aller.

Deshalb sollte der gegenseitige Vorteil der Handeltreibenden zum Maßstab für den Umfang und die Art der gegenseitigen Handelsbeziehungen werden. Das wiederum muss unter Umständen, wenn es um die Beförderung überlebensnotweniger Zwecke geht – wie etwa den sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft –, auch den bewussten Verzicht auf, ohnehin oft nur durch (koloniale) Gewalt erworbene und durch freie Konkurrenz unter Ungleichen verstärkte strukturelle Vorteile geschehen.

Handelsabkommen müssen zudem leichter revidierbar werden. Die nahezu unabänderliche Festschreibung von geschützten und liberalisierten Wirtschaftsbereichen, wie sie etwa Bestandteil der EPAs ist, verhindert im Kern die Nutzung von Entwicklungspotenzialen, die sich möglicherweise aus zukünftigen technologischen, aber auch weltwirtschaftlichen Veränderungen ergeben. Statt Spielräume für Veränderungen offenzuhalten, wird versucht, den einseitig vorteilhaften Status quo zu verewigen. Ähnliches deutet sich auch beim E-Commerce an. Die globale Nutzung seiner Vorteile verlangt früher oder später nach einer globalen Umverteilung der Produktionsstandorte auf der Basis von Technologietransfer; statt des Versuchs, Milliarden kleinster Paketsendungen mittels ausgefeilter Logistik innerhalb von wenigen Stunden weltweit an Kund*innen auszuliefern. Wenn alle Produkte überall zu einheitlichen Standards verfügbar sein sollen, kann das nur umweltverträglich über die Verlagerung der Produktion in die Nähe der Verbraucher*innen geschehen.

Abschließend bleibt festzustellen: Der sogenannte Freihandel ist eine Schimäre, die es so historisch nie gab. Selbst in der klassischen Begründung der Freihandelstheorie durch David Ricardo ist diese an Funktionsbedingungen geknüpft, die heute völlig irreal sind: ausgeglichene Bilanzen, keine internationale Mobilität des Kapitals sowie freiwillige Spezialisierung auf komparativ vorteilhafte Produkte. Wenn Staaten zum gegenseitigen Vorteil miteinander Handel treiben sollen, dann brauchen sie sowohl Spielräume für eigene industriepolitische Strategien (damit verbunden die bewusste Abschottung von Wirtschaftssektoren) und die Kontrolle über die notwendigen währungspolitischen Ausgleichsmechanismen, insbesondere den Wechselkurs.

Diese Einsichten sind nicht neu, aber offenbar politisch nur schwer wählermobilisierend zu vertreten. Das hängt auch damit zusammen, dass Veränderungen in der gegenwärtigen internationalen Wirtschaftsordnung unausweichlich Konsequenzen für Arbeitsplätze und Industriestrukturen und damit für die Lebensumstände von Menschen haben. Auch deshalb sind pauschale Forderungen nach mehr Gerechtigkeit und Fairness in Politik wie Zivilgesellschaft so en vogue – notwendig wäre indessen mehr Bereitschaft zu solidarischer Berücksichtigung der Lebensinteressen Subalterner in Nord und Süd, denn davon hängt schlicht unser aller Zukunft ab.

 
Arndt Hopfmann ist handels- und wirtschaftspolitischer Referent der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er arbeitet im RLS-Büro in Brüssel.
 
Literatur

    European Commission, 2015: Trade for all. Towards a more responsible trade and investment policy
    European Union 2018: Consequences of US trade policy an EU-US trade relations and the global trading system. Policy Department Study, November 2018-PE 603882, (EP/EXPO/B/FWC/2013-08/Lot3/07)
    European Union 2006: Global Europe: Competing in the World
    Forum Umwelt und Entwicklung, 2018: Trade for all – Handel für alle?
    Foodwatch/Powershift, 2018: Handel um jeden Preis?
    Oekom e.V. (Hg.), 2018: Gerechte Weltwirtschaft. Wege aus der Freihandelsfalle, in: Politische Ökologie, 36. Jg., Juni 2018.
    Germanwatch, 2018: Konfliktminieralien. EU-Verordnung droht an mangelhafter Umsetzung zu scheitern
    GUE/NGL, 2017: Making Sense of JEFTA
    Labour Party, 2018: Just Trading. What would a just trading system look like?
    Mooney, Pat/ETC Group, 2018: Blocking the Chain. Konzernmacht und Big-Data-Plattformen im globalen Ernährungssystem, Rosa Luxemburg Stiftung, Reihe Studien, Berlin
    PowerShift, 2017: Making Sense of CETA – CETA lesen und verstehen
    Socialist&Democrats in European Parliament (eds.) 2018: For the many, not the few. Towards a progressive model for international trade and investment, December 2018
    Schäfer-Gümbel, Thorsten et al., 2018: Fair Play im Welthandel. Für eine sozialdemokratische Neuausrichtung der Handelspolitik, Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin
    Simon, Gabriela, 2018: Trump, der Welthandel und die Geisterfahrer der EU
    UNCTAD, 2018: Trade and Development Report
    WTO, 2018: World Trade Report
    Beiträge auf der Website des RLS-Büros in Brüssel, fortlaufend

 

Ein Beitrag von Raul Zelik (Schriftsteller, Mitglied im Parteivorstand Die LINKE)

 

Die Medien-Empörung über das Interview mit dem JUSO-Vorsitzenden Kevin Kühnert zeigt v.a. eins: dass die bürgerliche Gesellschaft es gar nicht gern sieht, wenn über die wirklichen Machtverhältnisse gesprochen wird. Nämlich über das Eigentum. Oder genauer gesagt: über die Vermögen der Großindustriellen, Fondsinhaber, Banker und Milliardenerben. Der Familien Quandt, Albrecht, Schwarz, Reimann, Klatten, Otto, Würth sowie ihrer Manager.  Es geht bei der Diskussion nämlich nicht um den Handwerkerbetrieb oder die eigene Wohnung, sondern um das große Vermögen der oberen 0,5 Prozent.

 

Eigentlich liegt auf der Hand, dass Demokratie und ihre Freiheiten eine Farce bleiben, solange wenige fast alles, andere fast nichts besitzen. Angeblich sind wir alle gleich und haben alle die gleiche Stimme. Aber in Wirklichkeit können sich einige wenige TV-Sender kaufen, Think Tanks gründen oder Lobby-Unternehmen beauftragen und so dafür sorgen, dass ihre Interessen auch berücksichtigt werden. 

 

Kevin Kühnert hat zwei richtige Dinge im Interview gesagt: Erstens sind die großen Vermögen nicht von Unternehmensgründern und schon gar nicht von den heutigen Eigentümern erwirtschaftet worden, sondern von ihren Belegschaften. Das Vermögen der Quandts (die übrigens nicht nur mit BMW, sondern auch mit der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus viel Geld verdient haben) ist deshalb selbst schon ein Ergebnis von Enteignung. Keine Arbeit ist so wertvoll, dass sich damit ein Milliardenvermögen anhäufen ließe. Die lateinische Wortwurzel verweist übrigens darauf: privare bedeutet rauben oder berauben. Privat ist das, was Einzelne der Allgemeinheit abgenommen haben.

 

Die Armut der Einen und der Reichtum der Anderen sind zwei Seiten von ein und der selben Medaille.

 

Zweitens ist es ein Unding, dass in unserer Gesellschaft nicht die Bedürfnisse der Menschen, sondern die Profite entscheiden. Das wird in Anbetracht von Klimawandel und neuem Wettrüsten immer mehr zur Überlebensfrage. Wir müssen unsere Gesellschaft, die Produktionsweise, den Lebenszuschnitt und die internationalen Beziehungen grundlegend verändern. Wir alle wissen das. Warum passiert es dann nicht? Weil heute nicht entscheidend ist, was die Menschen brauchen, sondern was Gewinn erwirtschaftet. Eine ökologische und solidarische Wende kann es deshalb nur geben, wenn Eigentum demokratisiert und Privatinteressen zugunsten von gesellschaftlichen zurückgedrängt werden. Die Eigentumsfrage ist nicht die Lösung aller Probleme, aber sie ist Grundlage dafür, dass überhaupt wieder demokratische und solidarische Lösungen möglich werden.

 

Dazu kommt aber noch etwas Drittes, das im ZEIT-Interview keine Rolle gespielt hat: Für sehr viele Güter ist Eigentum sowieso ein völlig falsches Konzept. Dem Verständnis von Eigentum liegt zugrunde, dass es veräußert werden kann. Aber Natur, städtischer Raum, soziale und öffentliche Dienstleistungen (wie Erziehung, Gesundheit, Nahverkehr usw.) sollten überhaupt nicht gehandelt werden können. 

 

Klingt das nach DDR? Nicht wirklich, denn in der DDR agierte der Staat wie ein Eigentümer und befand sich selbst in den Händen einer kleinen Gruppe von Parteiführern. Wir streiten für etwas grundlegend anderes, nämlich für eine Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche. Auch der Wirtschaft! Nicht der Markt, sondern wir alle müssen entscheiden, ob und wie viel geflogen wird, was mit der Rüstungsindustrie geschehen soll, wie wir die Arbeit anders verteilen. Das Wort „Sozialismus“ kommt von „Gesellschaft“, nicht von „Staat“, und deshalb ist Gemeineigentum auch nicht dasselbe wie Staatseigentum. 

 

Vor 70 Jahren – nach der Katastrophe der freien Märkte 1929, dem Siegeszug des Faschismus und des Weltkriegs – wussten das selbst einige Konservative. Im Grundgesetz ist deshalb nicht definiert, wie die Wirtschaft aussehen soll; die Vergesellschaftung von Unternehmen ist ausdrücklich vorgesehen. Selbst die CDU forderte in ihrem „Ahlener Programm“ von 1947 die Sozialisierung von Schlüsselindustrien. 

 

Was wir nicht brauchen, ist eine Rückkehr des allmächtigen bürokratischen Staates, in dem Funktionäre entscheiden, was gut für alle ist. Was wir brauchen, ist eine Stärkung von demokratischem Gemeineigentum und Gemeinnutzung in den unterschiedlichsten Formen: genossenschaftlich, öffentlich-rechtlich, als Allmende, mit Belegschaftsdemokratie usw. 

 

Was wir fordern, ist deshalb eigentlich auch gar keine Enteignung, sondern das genaue Gegenteil: ein Stopp der alltäglichen Enteignung durch Niedriglöhne, Kapitalrenditen und Mietenwahnsinn.

Ein paar Nachgedanken zum Workshop und zu unserer Sitzung am 05.03.2019

Nach zweistündigem Gedankenaustausch fahre ich wie wahrscheinlich jede/r von uns zumeist nachdenklich nach Hause. Anders als in unserer TTIP/ CETA – Anfangszeit sind un­sere Treffen in den vergangenen Monaten bestimmt von sehr unterschiedlichen Mein­ungsäußerungen und teils auch gegensätzlichen Positionen zu einer manchmal schwer zu überblickenden Vielzahl von Themen. Unterwegs denke ich dann: Phhhh, wieder haben die Diskussionen in mir Gedanken geweckt, die ich gar nicht loswerden konnte. Und jetzt - aber eben leider erst im Nachhinein - sehe ich auch vieles klarer. Was natürlich eine Täuschung sein mag... doch wie auch immer, Täuschung hin oder her, sie brachte mich dazu, tags darauf während einer langen Zugfahrt (einmal Berlin und retour) ein paar dieser Nachgedanken aufzuschreiben.

 

Das System und die Nische

Da ist also diese bittere Erkenntnis, uns allen nicht ganz neu, doch von Gert bei unserem let­zten Treffen (zu Recht!) noch einmal mit Nachdruck vorgetragen: ES, das System (kapitalis­tisch, neoliberal, mit basaler Konstante Entfremdung) hält uns gefangen.

Dagegen ist das, was sich in Nischen der Gesellschaft ausbildet wie z.B. auch in diversen Versuchen, Elemente einer solidarischen Lebensweise zu realisieren, wohl im Einzelnen zu begrüßen, aufs Ganze gesehen aber ohnmächtig.

Und nicht nur das: In vergangenen Sitzungen wurde mehrfach auf die Gefahr verwiesen, dass in solchen Initiativen über dem Engagement für das konkrete Handlungsziel der bestim­mende sozioökonomische Hintergrund aus dem Blick gerät. Stichwort: “Alles schön und gut, aber ohne Systemwechsel geht es nicht.” Wird das vergessen und stattdessen nur mehr oder minder blauäugig das jeweilige Nischenprojekt verfolgt, dann bleiben trotz aller Anstrengung am Ende das kapitalistische Wirtschaftssystem und mit ihm die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse unberührt.

Belege hierfür bot, so hieß es, der nur wenige Tage zurückliegende Workshop, in dem es um mögliche Wege von der imperialen zur solidarischen Lebensweise ging. Junge .... TeilnehmerInnen hätten zum Teil trotz offensichtlich vorhandener Bereitschaft zu gesellschaft­skritischem Engagement erhebliche Wissensdefizite (“ Industrie 4.0... - Was ist das denn?”) und auch ein beträchtliches Maß an Realitätsferne offenbart (“Am besten gleich alle Autos ab­schaffen!”).

Auch mir fallt es nicht schwer, die angesprochene Gefahr zu erkennen. Mit einem Engage­ment, das nur in einem kleinen Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit nach Veränderung strebt, kann eine Verkennung der Realitäten leicht einhergehen – nicht zuletzt auch über der Hitzigkeit des Engagements. Aber kennen wir alle nicht ebenso viele Beispiele, wo das nicht der Fall ist? Und müssen wir unseren Blick nicht primär hierauf richten? Mir fällt zuerst, die große unteilbar-Demo in Berlin vom Oktober letzten Jahres ein. Etwa eine Viertelmillion Men­schen, aktiv in denkbar unterschiedlichsten Initiativen und Vereinen, haben für eine soli­darische Gesellschaft demonstriert - sind aus ihren “Nischen” hervorgekommen und haben gemeinsam agiert.

Vielleicht müssen wir in diesem Zusammenhang auch selbstkritisch einräumen, dass unsere Fähigkeit, die aktuell herrschende gesellschaftspolitische Situation zu analysieren und kritisch zu beleuchten, stark ausgeprägt ist, wogegen unsere Neigung und Bereitschaft zum en­gagierten Handeln dem ein wenig hinterherhinkt. Das um den Tisch versammelte vielhun­dertjährige Lebensalter spielt dabei wohl eine nicht geringe Rolle. Umso wünschenswerter finde ich deshalb, dass es schon bald zu dem während des Workshops angesprochenen Aus­tausch mit der Initiativgruppe des Studiengangs Transformationsstudien kommt.

 

Meine Frontlines

Im Workshop ging es um mögliche Wege von der imperialen zur solidarischen Lebensweise. Dabei vernahmen wir, ein erster Schritt auf diesem Wege könne die Bestimmung der je eige­nen Frontlines sein.

Zur Erklärung für die, die nicht dabei waren und bei denen das dem Workshop zugrun­deliegende Buch “Das gute Leben für alle” nicht im Regal steht (Infobox, S. 81):

Meine Frontlines liegen dort, wo mein unmittelbares Umfeld und ich selbst negativ von der im­perialen Lebensweise betroffen bin. An diese Bestimmung meiner Frontline schließen sich im besten Fall zwei weitere Schritte an: Wo und wie kann ich mich politisch organisieren, um an dem erkannten Missstand etwas zu verändern? Und (raus aus der Nische!): Wie können wir uns mit anderen Frontlines zusammenschließen, um die sozial-ökologische Transformation voranzutreiben?

Bevor ich darangehe, mir meine Frontlines zu vergegenwärtigen, erinnere ich noch einmal an Jörns Einwurf in unserer letzten Sitzung. Er bekannte, auch und gerade nach seiner Teil­nahme am Workshop sei ihm noch einmal deutlich geworden, das von so vielen Seiten ge­priesene Konzept der imperialen Lebensweise bringe für ihn im Grunde nichts Neues. Es wiederhole, so habe ich Jörns Kritik verstanden, doch nur die inzwischen sattsam bekannte Kritik eines neoliberalen Kapitalismus und seiner desaströsen Folgen (Jörn, vielleicht kannst Du Deinen grundsätzlichen Einwand, falls ich ihn hier allzu verkürzt wiedergebe, beim näch­sten Treffen noch einmal detaillierter begründen!?). - Angeregt durch Jörns Einwand habe ich mich jedenfalls gefragt, worin für mich das Neue liegt, wodurch das Erklärungsmodell der im­perialen Lebensweise mich überzeugt.

Es ist die enge, offenbar unauflösliche Verzahnung des Allgemeinen mit dem Besonderen, wie Brand/ Wissen sie in ihrer Analyse beschreiben. Auf der einen Seite das System (s. oben), dessen Strukturen durchweg darauf abzielen, die mit den imperialen Lebens- und Pro­duktionsbedingungen einhergehenden Macht- und Eigentumsverhältnisse zu stabilisieren, auf der anderen Seite das Individuum, also ich, in dessen Körper und Verstand sich die imperiale Lebensweise tief eingeschrieben hat (Brand/Wissen, S.169). - Was bedeutet das konkret? Ich lerne, den globalen Zusammenhang der Herrschaft und Ausbeutung von Natur und Mensch besser zu verstehen, und kann mich entsprechend politisch engagieren. Zugleich erkenne ich, wie sehr ich selbst mit meiner alltäglichen Lebenspraxis in diesen Gesamtzusammen­hang einbezogen bin. Ich trage Mitschuld und entsprechende Verantwortung dafür, in meinem Verhalten und in meinem Lebensumfeld etwas zu verändern. Naiv und letztlich verlogen ist die verbreitete Behauptung, primär müsse der Einzelne sein Verhalten ändern, denn nur durch diese Veränderung im Kleinen könne man auf die ersehnte Umkehr im globalen Maßstab hoffen.

Aber - und das ist es, worauf es mir ankommt - und was sich m. E. aus der Analyse der impe­rialen Lebensweise ableiten lasst: Jeder und jede Einzelne von uns trägt Verantwortung für sein/ ihr Verhalten; kein Verweis auf die Dominanz und die Unausweichlichkeit des Systems kann mich von dieser Verantwortung befreien. Gewiss, meine Verhaltensänderung wird weder die Weltrevolution bewirken noch die Rettung des Klimas, aber sie ist trotzdem unverzicht­bar.

Zurück zu den Frontlines: Es gibt zwei, die mir auf den Nägeln brennen, beide sind verbun­den mit der in unserer modernen Gesellschaft so zentralen Größe Mobilität. Als Fahrradfahrer in Flensburg liegt mir meine erste Frontline tagtäglich vor Augen und in Gestalt von desolaten Fahrradwegen, Unmengen von Auspuffgasen, etc. bekomme ich sie auch gesamtkörperlich zu spüren. Der imperiale Charakter von Automobilität, dessen “Nichtthematisierung im Alltag” Brand/ Wissen beklagen (S. 131), ist wie beinahe allerorten so auch in Flensburg überdeut­lich wahrnehmbar – jedenfalls für Fußgänger und Radfahrer (automobile Subjektivitäten, wie Brand/ Wissen sie nennen, sind demgegenüber in ihrer Wahrnehmung wie auch in ihrer dies­bezüglichen Denkfähigkeit unvermeidlich stark eingeschränkt).

 

Falls jemand von Euch eine ähnliche Frontline für sich ausmacht, hier noch ein aktueller Hin­weis auf einen möglichen zweiten Schritt nach Entdeckung derselben:

Am Freitag, den 05. April um 18.30 Uhr findet die nächste Critical Mass Flensburg statt, Tre­ffpunkt ist an der Hafenspitze; nähere Infos unter

http://criticalmassflensburg.blogsport.de/

Fotos von vorhergehenden critical-mass-Fahrten in Flensburg unter:

https://www.flickr.com/photos/89858966@N00/

 

Schließlich meine zweite Frontline, die ich nur deshalb noch anführe, weil mir scheint, an ihrem Verlauf zeigt sich das Verhältnis von übermächtigem System in Gestalt einer geradezu wahnsinnig ausgebauten Infrastruktur und dem in der Relation scheinbar bedeutungslosen Verhalten des Einzelnen besonders eindringlich. Diese Frontlinie zieht sich über unsere Köpfe und hat zur Folge, dass es über Flensburg keinen blauen Himmel mehr gibt. An einem schö­nen Sommermorgen zählte ich im letzten Jahr gleichzeitig 15 Kondensstreifen, die in unter­schiedlichen Stadien der Auflösung begriffen waren. Einige noch dünn und trügerisch schön, manche breit auseinander gezogen und wieder andere schon übergegangen in die Gestalt von (künstlichen) Cirrus-Wolken – am Ende jedenfalls bleibt kein Himmelsblau mehr, sondern nur noch ein milchiges Blauweiß. Ein Schau- oder Trauerspiel, das täglich beinahe stündlich stattfindet, aber nur bei (weitgehend) wolkenlosem Himmel und entsprechender Lichtein­strahlung zu beobachten ist.

(Wer Genaueres wissen will über die Entstehung künstlicher Wolken aus Kondensstreifen und warum diese Streifen das Klima noch stärker erwärmen als das von Flugzeugen aus­gestoßene Treibhausgas CO2, kann es hier nachlesen:

https://weather.com/de-DE/wissen/wetterlexikon/news/kondensstreifen-so-entstehen-die-kunstlichen-wolken )

Flug- und Autoverkehr, beide sind zentral für Durchsetzung und Stabilisierung der imperialen Lebensweise. Symptomatisch ist, dass dabei dem Fliegen die weitaus bedeutenderen Wachstumsraten prognostiziert werden: Von 2016 bis 2035 wird sich nach Voraussagen der Internationalen Luftverkehrsvereinigung der weltweite Flugverkehr ungefähr verdoppeln. Eine Prognose, der man Glauben schenken darf, wenn man weiß, dass aktuell auf unserem Plan­eten 400 neue Flughäfen im Bau sind sowie über 300 neue Pisten oder Pistenerweiterungen (Zahlen n. Becker, Siemons und Tobias Kalt und Jonas Lage/ unsere beiden Workshopleiter, Einfach mal am Boden bleiben? - in analyse und kritik, zeitung für linke Debatte und Praxis, 11.12.2018).

Das Fliegen ist heute für viele Menschen zum Inbegriff des modernen (“weltoffenen”) Lebens geworden. Dass das so ist, liegt gewiss im Interesse einer Vielzahl mächtiger Indus­triekonzerne, die denn auch viel dafür tun, diesen Nimbus des eleganten, bequemen und su­perschnellen Reisens zumindest in Teilen noch zu erhalten. Tatsächlich haben natürlich die Billigflieger längst die Oberhand gewonnen. Mit ihnen wurden Flugreisen auf breitester Front vor allem eines: skandalös billig.

Meine Frage wiederum mit Blick auf das Verhältnis zwischen dem weltumspannenden Sys­tem und dem kleinen Mikroteilchen, das ich bin, ist also: Was bringt der bewusste Verzicht auf Flugreisen? Auch hier gilt: Individuelle Verhaltensänderungen können keine gesellschaftlichen Probleme lösen, ABER sie sind, wie ich finde, eine unerlässliche Voraussetzung dafür, dass die existentielle Bedeutung des Problems sichtbar wird. In Skandinavien scheint es eine zarte Bewegung hin zu einer solchen Bewusstwerdung zu geben, doch ich frage mich, wie viele Jahre es noch dauern wird, bis das Wort “Flugscham” nach schwedischem Beispiel auch Ein­gang findet in den deutschen Duden.

Unsere Autoren vom I.L.A. Kollektiv bringen die Zweischneidigkeit so auf den Punkt:

Aber die Skandalisierung des Fliegens kann die gesellschaftliche Normalität einer hypermo­bilen Lebensweise infrage stellen und ihre imperialen Voraussetzungen sichtbar machen. Dies darf allerdings nicht auf individueller Ebene verhaftet bleiben, sondern sollte zur Poli­tisierung beitragen und einen Einstiegspunkt darstellen, die Infrastrukturen und die Institutio­nen des imperialen Fliegens zu verändern.” (s. oben “Einfach mal am Boden bleiben?”)

 

Apropos Politisierung:

Am Freitag dieser Woche um 10.00 Uhr wiederum an der Hafenspitze:

FridaysForFuture!

An diesem Tag der erste, man kann mit Recht sagen, weltweite Schulstreik der Geschichte. Kinder und Jugendliche in 80 Ländern sind dabei, in Deutschland an mehr als 200 Orten. Auch ich werde mit Überzeugung und Neugier hingehen, denn Frontlines verbinden Generationen…

 

Günter, 13.03.19

 ______________________________