Die Bundesregierung versucht weiter, die Herausforderungen der Länder des globalen Südens von außen zu lösen und setzt dazu unbeirrt auf die neoliberale »Medizin« freier Märkte und der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Das muss sich ändern.
»Fluchtursachen überwinden« ist zu einem Credo der deutschen Politik geworden. Auch im sogenannten »Masterplan Migration« von Bundesinnenminister Horst Seehofer taucht der Begriff auf. Um die Perspektivlosigkeit in weiten Teilen Afrikas zu überwinden, müssen jährlich mindestens 20 Millionen Arbeitsplätze neu geschaffen werden, schreibt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Hat es die richtigen Rezepte dafür?
Die Entwicklungspolitik ist ein herausforderndes Politikfeld. Sie darf nicht einseitig als Sozialpolitik für die Länder des globalen Südens betrachtet werden. Vielmehr müssen Politikfelder wie beispielsweise die Handelspolitik und die globale Finanz- und Steuerarchitektur stets mitgedacht werden. Zentraler Bestandteil der deutschen Entwicklungspolitik sollte es sein, die Ursachen von ausbleibender sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung überwinden zu helfen. Sie sollte den Partnern im globalen Süden die politischen Handlungsspielräume dazu geben anstatt von außen an Symptomen herumzudoktern.
Der Afrikaplan von Entwicklungsminister Gerd Müller – der Marshallplan mit Afrika – erkennt diese Herausforderung nach größerer entwicklungspolitischer Kohärenz stellenweise an. Doch der vermeintlich große Wurf scheint erneut zu einem Papiertiger zu werden. Von einem Paradigmenwechsel ist die deutsche Entwicklungspolitik noch immer weit entfernt.
Zentrale Herausforderungen afrikanischer Staaten
So unterschiedlich die Länder des globalen Südens sind, sie teilen einige zentrale Herausforderungen. In den meisten Ländern besteht eine hohe Unterbeschäftigung und Jugendarbeitslosigkeit. 84 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in Afrika sind im informellen Sektor aktiv, das heißt beispielsweise als Straßenhändler, Tagelöhner und Kleinbauern. Es mangelt an formalen Arbeitsverhältnissen, die ein sicheres Einkommen ermöglichen würden. Die Wirtschaftsstruktur der afrikanischen Staaten ist überwiegend durch landwirtschaftliche Kleinbetriebe und den Rohstoffsektor bestimmt. Der industrielle Sektor ist unterentwickelt.
Dementsprechend gibt es auch kaum Wirtschaftsakteure, die besteuert werden könnten. Ein Problem, dass durch die Steuerflucht im Rohstoffsektor noch verstärkt wird (hier). Derzeit finanzieren sich viele afrikanische Staaten noch immer durch externe Quellen. Sei es durch bi- und multilaterale Entwicklungshilfe oder durch eine Auslandsverschuldung am Kapitalmarkt. Die aufgenommenen Schulden werden häufig nicht in die Diversifizierung der Wirtschaft investiert (Gründe siehe unten). Bei Weltmarktschocks wie dem Verfall von Rohstoffpreisen, drohen die Schulden nicht tragfähig zu werden. Es kommt wiederholt zu Schuldenkrisen.
Die deutsche Entwicklungspolitik tut zu wenig, um ein internationales Umfeld zu schaffen, innerhalb dem die Länder des globalen Südens diese Herausforderungen überwinden können.
Freihandelsdogma dominiert
In der Handelspolitik besteht Deutschland auf dem Abschluss von Freihandelsabkommen mit den afrikanischen Staaten (Wirtschaftspartnerschaftsabkommen – EPAs). Afrikanische Staaten sollen ihre Märkte öffnen, erlangen aber kaum Vorteile, da sie theoretisch meist schon freien Zugang zum EU Markt haben (hier). Durch die Marktöffnung drohen afrikanische Unternehmen und Kleinbauern durch Importe noch weiter marginalisiert zu werden. Denn afrikanische Staaten sind Studien zufolge nur bei 15 – 35 Prozent aller Produkte wettbewerbsfähig genug, um auf dem Weltmarkt bestehen zu können.
Das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) fordert in einem von Entwicklungsminister Müller angefragten Papier, dass es den afrikanischen Staaten möglich sein müsse, »Teile der eigenen Wirtschaft vorübergehend vor dem übermächtigen internationalem Wettbewerb zu schützen« (hier). Damit würden die afrikanischen Staaten keinen Sonderweg einschlagen, sondern sich ein Beispiel an den erfolgreichen Industrialisierungsprozessen in den USA, Deutschland, Japan, Südkorea oder jüngst China nehmen. Alle diese Staaten konnten erst einheimische Industrien aufbauen, bevor sie ihre Wirtschaft für den Weltmarkt geöffnet haben.
Die EPAs zementieren hingegen das Freihandelssystem, welches mit der Schaffung der Welthandelsorganisation (WTO) institutionalisiert wurde. Und sie gehen über WTO-Bestimmungen hinaus. So schränken die EPAs beispielsweise industriepolitische Maßnahmen wie Exportsteuern und Bedingungen für ausländische Investitionen zur Förderung der einheimischen Wertschöpfung (local content clauses) weiter ein (hier).
Dabei gibt es Alternativen. Statt der Freihandelspolitik sollte Europa die regionale Integration Afrikas, also den Aufbau regionaler Märkte, unterstützen. Daneben könnten Beratungsleistungen – wie das vom DIE vorgeschlagene »Zukunftsprogramm afrikanischer Strukturwandel« – angeboten werden, damit afrikanische Industrien von handelspolitischen Schutzmaßnahmen profitieren anstatt dass diese auf politisch gut vernetzte »Unternehmer« zugeschnitten werden (hier mehr Details). Spannend ist, dass selbst Vertreter deutscher Wirtschaftsverbände auf ihren privaten Twitteraccounts schreiben, dass es eine starke afrikanische Wirtschaft brauche, da ohne lokale Partner und Kunden kaum von außen investiert werde.
Entwicklungsfinanzierung
Auch bei der Entwicklungsfinanzierung greift die Diskussion in Deutschland häufig viel zu kurz. Meist wird das Ziel in den Vordergrund gerückt, 0,7 Prozent des deutschen Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit aufzuwenden. Während dieses Ziel löblich ist, verringert es nicht die Abhängigkeit Afrikas von externen Mittelgebern. Weitaus nachhaltiger wäre es, den illegalen Abfluss von Finanzmitteln und die Ausbeutung afrikanischer Reichtümer zu beenden. So verlieren die afrikanischen Staaten jährlich eine geschätzte Summe zwischen 30 und 100 Milliarden Euro an potenziellen Staatseinnahmen infolge von Steuerflucht zumeist multinationaler Konzerne. Hinzu kommen Abflüsse durch die Ausbeutung afrikanischer Fischbestände oder für den Schuldendienst infolge verantwortungsloser Kredite, die mitunter von korrupten Staatschefs aufgenommen wurden (hier).
Zusätzlich zu alljährlichen Versprechungen (Regierung) und Forderungen (Opposition) der Erhöhung der ODA-Quote (= Anteil der öffentlichen Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit am Bruttonationaleinkommen, BNE) sollte sich die Politik ehrlich machen und helfen, den Abfluss illegaler Finanzströme einzudämmen. Auf internationaler Ebene dürfte Deutschland nicht mehr bei der Bekämpfung der Steuerflucht bremsen (hier). Vielmehr sollte sich die deutsche Politik für eine Einbeziehung der Länder des Südens im Kampf gegen die Steuerflucht – also einer Verlagerung dieses Themas von der OECD hin zu UN – einsetzen. Auf nationaler Ebene könnte Deutschland endlich anfangen, auch afrikanische Länder am Informationsaustausch über Steuerdaten teilhaben zu lassen, statt die Steuerbehörden Afrikas weiter im Dunkeln tappen zu lassen und es Steuerflüchtlingen noch leichter zu machen (hier).
Marktgläubigkeit statt Anerkennung des Entwicklungsstaates
Obwohl der »Marshallplan mit Afrika«, der zentrale Entwicklungsplan von Entwicklungsminister Müller, einige progressive Passagen enthält, ist die deutsche Entwicklungspolitik noch immer zu marktbasiert ausgerichtet. Der vom damaligen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ins Leben gerufene »G20 Compact with Africa« fußt darauf, die Rahmenbedingungen für private Investitionen in Afrika zu verbessern. Afrikanische Staaten mussten sich beim G20-Treffen in Hamburg wie in einer Casting-Show mit ihren geplanten Reformbemühungen zur Verbesserung des Investitionsklimas bei Investoren und Partnerländern aus dem globalen Norden bewerben.
Ähnlich wie in der Wirtschaftspolitik für Europa, steht beim Compact die Wettbewerbsfähigkeit afrikanischer Staaten im Vordergrund. Durch beispielsweise schlanke Regulierungen, ein investitionsfreundliches Steuersystem, makroökonomische Stabilität, Investitionsschutz und Garantien zur Verringerung von Investitionsrisiken sollen ausländische Investoren nach Afrika gelockt werden (hier Details).
Der Fokus auf die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und Investitionsbedingungen beißt sich selbst in den Schwanz. Denn ein Land, welches seine Investitionsbedingungen verbessert, lockt nur so lange Unternehmen an, bis ein anderes Land noch bessere Investitionsbedingungen aufweisen kann. Es besteht also die Gefahr, dass die afrikanischen Staaten miteinander um die kargen Investitionen ausländischer Unternehmen konkurrieren, dass sich also mittelfristig Kosten und Ertrag nicht mehr die Waage halten. Es zeigt sich, wie wichtig es ist, die einheimische Wirtschaft zu fördern. Lokale Unternehmen haben ein genuines Interesse an der Entwicklung ihres Landes und sind dort viel stärker verwurzelt. Im Gegensatz zu internationalen Firmen werden sie ihr Land nicht verlassen, wenn es in einem Nachbarland vermeintlich bessere Investitionsbedingungen gibt.
Die deutsche Entwicklungspolitik muss sich endlich vom neoliberalen Dogma freier Märkte und des schlanken Staates lösen. Die Entwicklungserfolge der asiatischen Tigerstaaten und später Chinas zeigen die Bedeutung eines starken Staates, denn sie beruhten nicht auf freien Marktkräften. Der Schutz für einheimische Produzenten, die Bereitstellung von Krediten für produktive Unternehmen und strategisch wichtige Industriesektoren, die Förderung der Ausbildung und später von Innovationen und technologischem Fortschritt waren essentielle staatliche Leistungen, ohne die den asiatischen Staaten kein so erfolgreicher Aufholprozess gelungen wäre (hier).
Fazit
Abschließend ist festzuhalten, dass die deutsche Entwicklungspolitik nicht im leeren Raum stattfindet. Sie wird von deutschen Wirtschaftsinteressen und wirtschaftspolitischen Überzeugungen beeinflusst. So ist Deutschland mit seinem exportlastigen Wirtschaftsmodell vom freien Zugang zu Exportmärkten abhängig. In Regierungskreisen wird wahrscheinlich befürchtet, dass protektionistische Maßnahmen wieder an Attraktivität gewinnen könnten, wenn sie Entwicklungsländern erlaubt wären. Befürchtet wird scheinbar, dass sich auch größere Handelspartner dieser Maßnahmen bedienen und Deutschland Exportmärkte verlieren würde.
Zudem setzt Deutschland sowohl im Inland als auch bei europäischen »Krisenländern« komplett auf die Verbesserung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit, also auf ein neoliberales Wirtschaftsmodell, in dem Staaten wie Unternehmen angesehen werden und es hauptsächlich um die Senkung von Kosten geht. Diese wirtschaftspolitischen Überzeugungen werden sich letztendlich immer auf die Entwicklungspolitik übertragen. Dementsprechend ist nicht absehbar, dass Deutschland sich in der Entwicklungspolitik für eine stärkere Rolle des Staates oder eine Abkehr vom Dogma der Wettbewerbsfähigkeit einsetzen wird.
Das deutsche Wirtschaftsmodell steht somit einem Paradigmenwechsel in der Entwicklungspolitik im Weg. Deutschland wird weiter versuchen, die Herausforderungen der Länder des globalen Südens von außen zu lösen und dazu weiter die neoliberale »Medizin« freier Märkte und der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit verschreiben. Der Aufbau oder vielmehr die Rekonstruktion eines Weltwirtschaftssystems, in dem wirtschaftlich schwächere Länder politisch ausreichend Handlungsspielräume haben, um eigene Entwicklungspfade zu bestreiten – wie es Südkorea, Taiwan und Co. in den 1960er und 1970er Jahren taten (hier) – wird somit auch von Deutschland verbaut.
Wer Freihandelsinteressen verficht, kämpft auch gegen Rechts? Ganz im Gegenteil. Der neoliberale Mainstream der vergangenen Dekaden bildete die Brutstätte der Neuen Rechten, die sich nun anschickt, diesen als dominierende Ideologie zu beerben.
Noch immer sind die Quellen unbekannt, aus denen die AfD ihre üppige Finanzierung während des Bundestagswahlkampfes bezog. Millionenbeträge kamen der Partei über einen dubiosen, formell unabhängigen "Verein zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und bürgerlichen Freiheiten" zugute, der den Wahlkampf der Rechtsextremisten durch groß angelegte Plakataktionen und den massenhaften Vertrieb von Gratiszeitungen (Kontext berichtete) unterstützte. Professionell Lücken in den Gesetzen zur Parteifinanzierung ausnutzend, deuteten viele Spuren der finanzkräftigen Hintermänner des Vereins in die Schweiz, insbesondere zu dem dort lebenden, erzreaktionären deutschen Mövenpick-Milliardär August von Finck. Seinen formellen Sitz hat der AfD-nahe Verein, der gerne im Hintergrund operiert, ausgerechnet in Stuttgart.
Es scheint auf den ersten Blick absurd, dass gerade in Stuttgart, der Kernregion der deutschen Exportwirtschaft, ein dubioses Finanzvehikel einer Partei seinen Stammsitz hat, die mit ihrer xenophoben Rhetorik den Freihandelsinteressen der Exporteure zuwiderläuft. Kürzlich etwa, nach einer ressentimentgeladenen Bundestagsrede der AfD-Frontfrau Alice Weidel, platzte Siemens-Chef Joe Kaeser der Kragen: Ihm seien die von Weidel verteufelten "Kopftuch-Mädel" lieber als der "Bund Deutscher Mädel", so der Vorstandsvorsitzende des Großkonzerns. Die AfD sei dabei, "mit ihrem Nationalismus dem Ansehen unseres Landes in der Welt" zu schaden, gerade dort, "wo die Haupt-Quelle des deutschen Wohlstands" liege.
Die liberale Welt scheint hier noch in Ordnung: Der weltoffene, global denkende Manager, dessen Unternehmen von der neoliberalen Globalisierung profitierte, stellt sich gegen den dumpfen Neo-Nationalismus der Rechtspopulisten, die daran gehen, die "Haupt-Quelle des deutschen Wohlstands" zu untergraben. Indes verdecken diese aktuellen Konflikte nur die tiefen ideologischen Kontinuitätslinien: Denn der rechtspopulistische Neonationalismus ist ein Produkt des neoliberalen Zeitalters mit seinen krisenbedingt zunehmenden sozioökonomischen Widersprüchen. Was am Beispiel der Bundesrepublik kurz skizziert werden soll.
Vom kranken Mann Europas zur Deutschland AG
Charakteristisch für den Neoliberalismus sind dessen sogenannte Reformen, die als Reaktion auf wirtschaftliche Stagnationstendenzen implementiert werden. So war es in der Bundesrepublik als dem vormals "kranken Mann Europas" ("Economist", 1999) die Agenda 2010 samt den Hartz-IV-Arbeitsgesetzen, mit denen das Nachkriegsmodell der sozialen Marktwirtschaft endgültig zu Grabe getragen wurde – und die zur Ausrichtung der Gesamtgesellschaft als "Deutschland AG" entlang des betriebswirtschaftlichen Kalküls führte. Die mit drakonischen Einschnitten bei Sozialleistungen, breiter Prekarisierung und krasser sozialer Spaltung einhergehende Hebung der Konkurrenzfähigkeit Deutschlands schien tatsächlich erfolgreich, sie führte ja zur Erringung von Exportweltmeisterschaften, von denen gerade Konzerne wie Siemens profitierten.
Doch zugleich lastet Hartz IV wie ein Alb über der deutschen Arbeitsgesellschaft. Die beständig mitschwingende Drohung mit totaler Verelendung hat die Machtverhältnisse endgültig zugunsten der Unternehmer verschoben. Die zunehmende Verdichtung und Entgrenzung des Arbeitslebens ließ nicht nur die Zahl der arbeitsbedingten psychischen Erkrankungen explodieren, sie verfestigte auch autoritäre Tendenzen bei vielen Lohnabhängigen, wie etwa der Sozialpsychologe Oliver Decker ausführt: "Die ständige Orientierung auf wirtschaftliche Ziele – präziser: die Forderung nach Unterwerfung unter ihre Prämissen – verstärkt einen autoritären Kreislauf." Sie führe zu einer "Identifikation mit der Ökonomie", so Decker, "wobei die Verzichtsforderungen zu ihren Gunsten in jene autoritäre Aggression münden, die sich gegen Schwächere Bahn bricht". Je stärker der zunehmende Druck auf den autoritär fixierten Lohnabhängigen lastet, desto größer sein Bedürfnis, schwächere Menschen genauso ausgepresst und ausgebeutet zu sehen.
Die neoliberale Verzichtspolitik fördert somit die autoritäre Aggression gegen die Krisenopfer, auf der rechtspopulistische wie rechtsextremistische Ideologien gleichermaßen beruhen. Evident wurde dies während der Sarrazin-Debatte, dem irren Urknall der Neuen Deutschen Rechten, als die mit der Agenda-Politik gerechtfertigte neoliberale Hetze gegen sozial marginalisierte Bevölkerungsschichten erstmals erfolgreich öffentlich mit rassistischen und sozialdarwinistischen Ressentiments angereichert wurde. Das neoliberale Feindbild des schmarotzenden, faulen Arbeitslosen verschmolz hierbei mit dem rechten Wahnbild des ausländischen, islamischen Schmarotzers, dessen ökonomische Unterlegenheit quasi genetisch kodiert sei.
Träger dieser ersten großen neurechten Hasswelle im Rahmen der "Sarrazin-Debatte" waren nicht etwa verarmte Bevölkerungsschichten, sondern die Mittelklasse als "Mitte" der Gesellschaft, die hier ihre Abstiegsängste nach dem Krisenausbruch in den Jahren 2007 und 2008 in Hass und Ausgrenzungsreflexe transformierte. Die Begriffe des Extremismus der Mitte und der konformistischen Rebellion sind folglich unabdingbar, um den Erfolg der Neuen Rechten und des Neo-Nationalismus als die ungeliebten Erben des Neoliberalismus zu verstehen.
Die Neue Rechte wähnt sich ja tatsächlich im Aufstand, während sie die schwächsten Gesellschaftsmitglieder angreift. Sie verschafft ihrer Anhängerschaft somit ein Gefühl von Rebellion, ohne sie den Gefahren der Rebellion – die sich immer gegen Herrschaft richtet – auszusetzen. Der Extremismus der Mitte ist das Geheimnis des Erfolgs der Rechten: Man verbleibt im eingefahrenen weltanschaulichen Gleis. Es findet hier kein ideologischer Bruch statt, sondern ein Ins-Extrem-Treiben der bestehenden Ideologie; der latent immer mitschwingende, barbarische Kern kapitalistischer Vergesellschaftung wird nun krisenbedingt manifest.
Zuallererst ist hier das Konkurrenzdenken mitsamt Sozialdarwinismus zu nennen, das der Neoliberalismus forcierte und gesamtgesellschaftlich entgrenzte – und das von der Neuen Rechten mit einem kulturalistischen oder rassistischen Überbau versehen wird. Das Survival of the Fittest findet nun nicht nur zwischen den Marktsubjekten statt, sondern auch zwischen Kulturen und Religionen. Aufbauen kann die AfD dabei auf den Hetzkampagnen der Massenmedien, die etwa während der Eurokrise daran arbeiteten, die Krisenursachen zu personalisieren (Faule Griechen/Italiener). Es findet faktisch eine Verselbstständigung dieser medial geschürten Ressentiments statt, die in den unkontrollierbaren Wahnräumen des Internets eine Eigendynamik entwickelten. Die Neue Rechte fordert Hetze in Permanenz. Die Krise scheint immer von außen durch bösartig agierende Gruppen in die anscheinend widerspruchslose Arbeitsgesellschaft hineingetragen zu werden.
Schon die frühere britische Premierministerin Margret Thatcher begründete ihre neoliberalen Reformen mit der Macht des Faktischen: "There is no Alternative". Die Personalisierung der Ursachen der gegenwärtigen Systemkrise baut folglich auf der Naturalisierung der spätkapitalistischen Gesellschaften auf: Diese erscheinen dem Neoliberalismus (Markt) und Neonationalismus (Nation) – mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung – als natürlicher Ausdruck der menschlichen Natur. Die zunehmenden Krisentendenzen können folglich nicht auf innere Widersprüche der natürlichen spätkapitalistischen Gesellschaften zurückgeführt werden, wie etwa die Krise der Arbeitsgesellschaft, sondern werden im schädlichen Wirken der Krisenopfer verortet. Die negativen Folgen der widersprüchlichen kapitalistischen Vergesellschaftung können so vom Neoliberalismus und Neonationalismus externalisiert werden: Sie erscheinen als negatives Wesensmerkmal einer Gruppe (Sozialschmarotzer, Flüchtlinge, etc.), mit der entsprechend zu verfahren ist.
Dabei bediente sich der Neoliberalismus schon immer gerne des Nationalismus, um seine gesellschaftliche Legitimität zu erhöhen. In der Bundesrepublik wurde im Gefolge der Agenda-Politik ebenfalls ein anscheinend unverkrampfter Patriotismus forciert, der seinen Durchbruch während der Fußball-Weltmeistersaft erlebte. Die nationale Identitätsproduktion diente auch als ideologischer Kleister, der die zunehmenden sozialen Gegensätze in der neoliberalen Krisenperiode überdecken soll. Eine zentrale Rolle spielte hierbei der Standortnationalismus: Die globalisierte Weltwirtschaft als eine Art Kampfschauplatz der nationalen Standorte, wobei die Exporterfolge der Deutschland AG als Ausweis der nationalen Überlegenheit begriffen wurden – und als Quelle von Ressentiments dienten.
Hieran, an das neoliberale Bild des im globalen Kampf stehenden nationalen Standortes, kann der Neo-Nationalismus nahtlos anknüpfen – und den einen Schritt weitergehen, der zum Bruch führt. Der qualitative ideologische Umbruch zwischen Neoliberalismus und Neo-Nationalismus vollzieht sich vor allem entlang der Haltung zur Globalisierung, die von der Neuen Rechten als Urquell aller krisenbedingten Übel, als Werk einer Verschwörerclique von "Globalisten" imaginiert wird.
Neonationaler Protektionismus wird neue Krisen auslösen
Dabei verwechselt die Neue Rechte einfach den historischen Krisenverlauf mit den systemischen Ursachen der Krise. Die Globalisierung mit ihren globalen Handelsungleichgewichten und dem globalen Schuldenturmbau bildete eine Systemreaktion auf eben jene zunehmenden inneren Widersprüche der kapitalistischen Warenproduktion, die weder Neoliberale noch die Neue Rechte wahrnehmen wollen: Der Spätkapitalismus ist längst zu produktiv für sich selbst geworden. Nur noch durch Kreditaufnahme kann die Massennachfrage für eine Weltwirtschaft aufrecht erhalten werden, die mit immer weniger Arbeitskräften immer größere Warenberge fabriziert. Deswegen stieg in den vergangenen Jahrzehnten die globale Verschuldung, mit Schwerpunkt USA, stärker an als die Weltwirtschaftsleistung.
Diesen Schuldenturmbau, der die entsprechenden Handelsdefizite zur Folge hat, wollen die USA unter Trump nun nicht mehr aufrecht erhalten. Dem qualitativen Umbruch in der Ideologie entspricht somit ein Umbruch im Krisenprozess: von der neoliberalen Globalisierung zum neonationalen Protektionismus, der einen neuen Krisenschub auslösen wird. Die Ideologie der neuen Rechten legitimiert diese neue, verschärfte Krisenphase, indem sie diese mit einer irren Binnenlogik auflädt: Als nationale Befreiung der Völkerschaften vom Joch der Globalisten-Verschwörung.
Der Neo-Nationalismus ist somit ideologischer Ausfluss der krisenbedingten Zuspitzung der sozioökonomischen Widersprüche im Spätkapitalismus, die der Neoliberalismus nicht mehr unter Kontrolle halten kann. Es ist mittlerweile eine Massenbewegung mit einer organisatorischen und ideologischen Eigendynamik. An die Macht kommt diese konformistische Rebellion aber nur dann, wenn nennenswerte Teile der Funktionseliten sie unterstützen. Und dies ist – noch – nicht der Fall, wie es die eingangs erwähnte Kritik von Joe Kaeser an Weidel illustriert. Entscheidend ist hier die Begründung des Siemens-Managers, der die Quellen des deutschen Wohlstands im globalisierten Ausland sieht. Doch was passiert, wenn der Protektionismus diese Quellen versiegen lässt? Dann dürfte die Ideologie der Neuen Rechten auch für weite Teile der deutschen Funktionseliten an Attraktivität gewinnen. Siemens-Chef Joe Kaeser repräsentiert somit die neoliberale Vergangenheit, AfD-Frau Weidel samt dem neurechten Abschottungswahn die Zukunft. Sie symbolisieren keine Gegensätze, sondern zwei Phasen in der voranschreitenden Barbarisierung des spätkapitalistischen Weltsystems.
Handelskrieg Eröffnet der Rückbau der globalen Güterketten Handlungsspielraum für ökosozialen Umbau? Andrea Komlosy | aus FREITAG Ausgabe 13/2018
In der Geschichte des globalen Kapitalismus setzte Protektionismus dann ein, als sich westeuropäische Staaten, allen voran Großbritannien, im 18. Jahrhundert vom Freihandel abwandten und begannen, die einheimische Industrieproduktion gegenüber der damals den Weltmarkt beherrschenden asiatischen Konkurrenz zu schützen. Mit Zöllen, Import- und Konsumverboten ging die Sicherung der Absatzmärkte einher. Waffengewalt tat ein Übriges. Einmal an der Spitze, erfolgte der Wechsel zum Freihandel, um damit Bezugs- und Absatzmärkte zu sichern. Schutzmaßnahmen wurden nun von jenen ergriffen, die den Aufbau industrieller Kapazitäten auf ihrem Staatsgebiet fördern wollten: im 19. Jahrhundert vor allem Deutschland und die USA, im 20. Jahrhundert jene postkolonialen Staaten, die in Osteuropa und im globalen Süden aus den (Kolonial-)Reichen hervorgegangen waren. Aus der Perspektive der Marktführer, die Öffnung einforderten, wurde Protektionismus nun als Störung des freien Handels diffamiert.
Aus der Perspektive der Entwicklung, die mit der Entkolonisierung zum beherrschenden Topos der postkolonialen Staaten wurde, war der Schutz vor der übermächtigen Marktmacht der westlichen Großmächte eine zentrale Voraussetzung für die Überwindung ihrer Abhängigkeit. Die Strategien traten unter unterschiedlichen Leitideen auf: Abkoppelung, Dissoziation, Delinking, Dependencia, Autozentrierung. Sie ordneten sich unterschiedlichen Weltanschauungen von sozialistisch, national bis kapitalistisch zu, waren in der Praxis jedoch meist durch Pragmatismus geprägt, um die auf der Konferenz von Bandung im Jahr 1955 gefassten Vorstellungen eines selbstbestimmten Dritten Weges durch Ausnützen der Widersprüche des Kalten Kriegs am besten in die Tat umzusetzen.
Um ausländische Investitionen, Kredit, Technologie und Know-how zu erhalten, waren die Entwicklungsländer gezwungen, ihre Märkte für westliche Waren zu öffnen – insbesondere, seit von den 1970er Jahren an die Umwandlung der zentralisierten Fabrik am Konzernsitz in eine Kette von Produktionsstandorten einsetzte, an die einzelne Arbeitsschritte ausgelagert wurden. Diese sogenannten globalen Güterketten erforderten die bedingungslose Freiheit des Waren- und Kapitalverkehrs, um Komponenten just in time an die jeweils kostengünstigsten Standorte zu transferieren.
Einigen größeren Schwellenländern gelang es dabei, die untergeordnete Rolle als „verlängerte Werkbank“ am untersten Ende zum Aufstieg in wertschöpfungsintensivere Positionen in der Güterkette zu nutzen. Am erfolgreichsten dabei waren China und Indien. Beide konnten auf einer alten industriellen Tradition aufbauen, bis sie mit Kolonisierung (Indien) und „ungleichen Verträgen“ im Gefolge der Opiumkriege (China) im 19. Jahrhundert in die Knie gezwungen wurden. Nun stellten sie wieder ernsthafte Konkurrenten für die alten Industrieländer dar.
Chinas Handelsüberschuss beunruhigt die westlichen Märkte; noch beunruhigender sind die US-Staatsanleihen von über 1,2 Billionen Dollar in chinesischen Händen. Was unter Deng Xiaoping als Kontraktfertigung mit billigen und rechtlosen Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeitern begann, hat sich in der Zwischenzeit zu einem aufstrebenden Industrieland emanzipiert, das die Arbeiter und Arbeiterinnen seit der Wirtschaftskrise 2008 durch Lohnerhöhung und soziale Absicherung zunehmend mit Kaufkraft ausstattet. Im Westen wird oft herablassend bis feindlich über die unlauteren Wettbewerbspraktiken Pekings gesprochen, ohne zu bedenken, dass die Kombination von Öffnung und Protektion, Staat und Privatunternehmen, Innovation und Technologiespionage, Bündnispolitik und militärischem Säbelrasseln gerade jene Ingredienzien umfasst, die den westlichen Industrieländern zu ihrem Höhenflug verholfen haben.
Schwellenländer im Aufwind
Während die USA und Europa den Zenit ihrer Wirtschaftsmacht überschritten haben, befinden sich heute China, Indien, Vietnam und andere Schwellenländer im Aufstieg. Sie nutzen die Spielregeln des freien Wettbewerbs, welche die Welthandelsorganisation als unumstößlich aufgestellt hat, im eigenen Interesse und verbinden ihre neue Rolle in der Welt mit einheimischen kulturellen Werten und Traditionen.
Die alten Industriestaaten sehen sich von dieser Entwicklung aus ihrer Hegemonie gedrängt. Die Bastionen aus Vermögen, Know-how und Macht über Institutionen, die sie immer noch innehaben, können ihre Privilegien nicht mehr schützen. Es setzen Verteilungskämpfe nach innen – die Reichen werden immer reicher – und nach außen hin ein. Der viel geschmähte Protektionismus kehrt auf die Tagesordnung zurück: Die Rede ist von Reindustrialisierung und von Strafzöllen; auch die Formierung von Wirtschaftsblöcken zur Verbesserung der einzelstaatlichen Konkurrenzfähigkeit ist Ausdruck dieses Machtverlusts. Die Europäische Union schiebt den Schwarzen Peter gerne den USA und ihrem Präsidenten Donald Trump zu, agiert aber im Grunde mit den gleichen Mitteln: Auge um Auge, Zahn um Zahn, jedoch vereint in der Abwehr der aufsteigenden Schwellenländer.
Was wollen die Protektionismen im Abstieg bewirken? Industrie und Arbeitsplätze sollen an die alten Standorte zurückgebracht werden. Zölle verteuern dieImporte und sollen à la longue zur Importsubstitution führen. Importverbote schützen die einheimische Produktion vor billigerer ausländischer Konkurrenz. US-Zölle und Importbarrieren werden Unternehmen motivieren, Produktionsstätten in die USA zu verlagern. Ein Rückbau der Güter- und Standortketten zugunsten einer Lokalisierung der Produktion ist denkbar. Es wäre der Beginn einer weltwirtschaftlichen Trendwende in Richtung Regionalisierung.
Sollen Kritiker der globalen Ungleichheit angesichts der vollmundigen „Great“- und „First“-Ansagen alter Industrieländer in den Chor der liberalen Freihandelsapologetik einstimmen und von den Protektionisten Marktoffenheit einfordern?
Ich plädiere dafür, diese Ansagen trotz des präpotenten Muskelspiels, welches sie begleitet, als Chance zu begreifen. Erstens öffnen sie Denkraum dafür, die Mär der wohlstandsfördernden Effekte eines ungehinderten Kapital- und Warenverkehrs zu hinterfragen. Die neomerkantilistische Selbststärkungsstrategie der alten Zentren öffnet einen Spielraum. Aus ökologischer, sozialer und entwicklungspolitischer Perspektive könnte daran angeknüpft werden, um der krisenhaften Zuspitzung der Verhältnisse zu entkommen.
Ich bin mir bewusst, dass die Protektionismen der alten Industriemächte eine solche Alternative nicht im Auge haben. Ob ihre Kehrtwende in Sachen Deglobalisierung tatsächlich den Handlungsspielraum für sozialökologische Alternativen öffnet oder auf Krieg zusteuert, hängt nicht von den Zöllen ab, sondern davon, ob die Waffen, die sich trotz des Verlusts ökonomischer Führung in ihren Arsenalen konzentrieren, zum Einsatz gebracht werden.
Andrea Komlosy lehrt Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Sie hat gerade das Buch "Grenzen. Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf" (Promedia 2018, 248 S., 19,90 €) veröffentlicht
Zum Vortrag von Markus Wissen am 12. März 3028 in Flensburg, Aktivitetshuset
Wissen sprach am Montag über sein Buch und seine Thesen für eine "solidarische Lebensweise". Er liegt auf einer Linie etwa mit Stephan Lessenich, dem Nachfolger von Ulrich Beck. Prof. Dr. Markus Wissen machte klar, warum er sich zunächst auf die Un-Logik westlicher Lebensweisen kapriziert: Zusammen mit Ulrich Brand möchte er genauer analysieren, ehe er und sein Mitautor Lösungen und Alternativen entwerfen. Warum etwa werden die hochmotorisierten Diesel-SUVs (Special-Purpose-Vehicles) gekauft, warum die vielen Geschäfts- und Ferienreisen? Warum, wo doch die Belastung für Gesundheit, Umwelt und Ressourcenverbrauch bekannt sein dürften? Der Hungerlohn für die in den armen Länder herstellte Bekleidungsartikel macht nur ein Prozent des Verkaufspreises aus. Discounter und Supermärkte bieten ein Angebot an, das unabhängig von Anbaubedingungen, Saison und Transportkosten verfügbar ist. Der Transport auf Straßen, über See oder gar per Luftfracht ist alles andere als nachhaltig. Wissen machte das am Beispiel der „SUV“-Autos fest. Es mag Menschen geben, das wurde auch in der lebhaften Diskussion geäußerst, denen die CO2-Frage, die Belastung durch Stickoxyde und die Billiglöhne schlicht egal sind. Aber die meisten denken doch auch an ihre Kinder und Enkel? Wissen machte an Beispielen deutlich, dass subtile SUV-Werbung damit spiele, dass robuste Ausstattung und hohe Sitzposionen Sicherheit gegen die Gefahren der Straße und der Umweltkrisen (Trockenheit, Überflutung, u.ä.) bieten: Mit dem SUV den insinuierten Fluten, Stürmen und Erwärmungen trotzen... Warum läßt die westliche Welt immer größere globale Unternehmen zu, während Genossenschaften als Organisationsform zurückgehen? [Gerade wird diskutiert, daß EDEKA, ALDI und Lidl eine übergröße Nachfrageposition über den kleiner strukturierten Lebensmittelprodutzenten einnehmen. Selbst die Oligopole der Molkereien und der Fleischindustrie können über Importe ausgehebelt werden.] Zum „grünen Kapitalismus” grenzen sich Brand und Wissen ab: Die Idee, man könne Trends umkehren, indem man allein die Effizienz, Motoren etc. verbessert, Umwelt-freundlicher macht, den Verkehrsfluß durch Digitalisierung optimiert, intelligente Kreisläufe entwirft etc. trägt grundsätzlich nicht, so sinnvoll die Ansätze im Einzelnen sein mögen. Wissen will nicht moralisieren. Eine genaue Analyse scheint ihm der beste Weg zu einer Umkehr zu sein. Ein neu austariertes Verhältnis zwischen Wirtschaft und Demokratie ist eine Voraussetzungen für das angestrebte Ziel: die solidarische Lebensweise. Im Zusammenhand mit der Digitalisierung – das Thema wurde nur kurz gestreift – stellen sich alle die genannten Fragen neu. Die zunehmende Kommunikation ist ja nicht umsonst: Der Betrieb riesiger Serverparks und großer Internetknotenpukte sowie Herstellung und Betrieb der Millionen Endgeräte erfordern enormen Verbrauch an Ressourcen. In Frankfurt befinden sich fast 20 große Rechenzentren, über die die Internetkommunikation mit über 50 Ländern und insbesondere mit den USA läuft. Ähnlich wie bei der geplanten Umstellung auf Elektrofahrzeuge rechnet man dafür ein weiteres Drittel an zusätzlicher Stromerzeugung. Gerhard Schroeder, März 2018
Ulrich Brand und Markus Wissen analysieren in ihrem Buch die imperiale Lebensweise und ihre Konsequenzen. Sie beruht darauf, dass ihre zerstörerischen Folgen auf andere Regionen der Welt verlagert werden.
Eine markante Ausdrucksform dessen, was Ulrich Brand und Markus Wissen „imperiale Lebensweise“ nennen, offenbart sich, wenn Mann oder Frau im Rohstoffe und Sprit fressenden SUV (Sports- and Utility-Vehicle) zum Biobauern fährt und zugleich ein gediegenes Umwelt- und Gesundheitsbewusstsein zeigt. Der Begriff verweist darauf, dass das alltägliche Leben in den kapitalistischen Zentren nur durch den unbegrenzten Zugriff auf die Rohstoffe, das Arbeitsvermögen und die Ökosysteme in der Peripherie ermöglicht wird – mit der Folge, dass sich dort Gewalt, Entwurzelung, Hunger, Seuchen, Epidemien, ökologische Zerstörung und politisch-gesellschaftliches Chaos ausbreiten.
Die „imperiale Lebensweise“ beruht auf einer Art gesellschaftsstabilisierendem Kompromiss zwischen den Interessen der Herrschenden und breiteren Schichten der Bevölkerung. Die sie kennzeichnende Art des Produzierens und Konsumierens ist tief in das allgemeine Bewusstsein, die alltäglichen Verhaltensweisen und die Subjektprägungen eingeschrieben. Sie beruht darauf, dass ihre zerstörerischen Folgen auf andere Regionen der Welt verlagert werden.
Diesen Zusammenhang anzusprechen ist zwar nicht ganz neu, in der politischen Debatte und im allgemeinen Bewusstsein spielt er allerdings bestenfalls eine Nebenrolle. Das Verdienst der Autoren besteht darin, die damit verbundene Problematik weit ausgreifend, theoretisch gut begründet und mit empirischem Material unterlegt aufzuzeigen.
Das beginnt mit einer Kritik der aktuellen Debatte, in der oft von der Notwendigkeit einer „großen Transformation“ die Rede ist, das zugrundeliegende Problem, nämlich die kapitalistische Vergesellschaftungsweise aber überhaupt nicht thematisiert wird. Es folgt eine ausführliche Skizze der historischen Entwicklung vom frühen Kapitalismus und Kolonialismus bis zum Fordismus in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und zur als „Globalisierung“ bezeichneten neoliberalen Offensive. Dabei setzen die Autoren die umwälzende Dynamik des Kapitalismus in Verbindung mit den sozialen Kämpfen um eine Verbesserung der Lebensbedingungen.
Einen Höhepunkt erreicht dies laut Brand und Wissen im Fordismus, der durch eine Verbindung von Massenproduktion und Massenkonsum gekennzeichnet ist und zu einer Ausbreitung der „imperialen Lebensweise“ in breitere Schichten der Bevölkerung hinein geführt habe. Dies habe zunächst kritischen sozialen Richtungen wie der Ökologiebewegung und Drittweltinitiativen Auftrieb gegeben. Im Zuge der neoliberalen Offensive gab es stattdessen eine gewisse Verallgemeinerung der „imperialen Lebensweise“ im globalen Maßstab, vor allem in einigen Schwellenländern wie etwa in Lateinamerika oder China. Damit – wegen der sich verschärfenden Konkurrenz um Rohstoffe und Externalisierungsmöglichkeiten – wuchsen zugleich die Spannungen.
Die Autoren erläutern die Dimensionen der „imperialen Lebensweise“ am Beispiel des Autos. Insbesondere das SUV gilt ihnen als hervorstechender Ausdruck neoliberaler Subjektivität, in der die imperiale Lebensweise eingeschrieben ist. Soziale Polarisierung und marktförmiger Konkurrenz in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein drücken sich hier in besonderer Weise aus. Zugleich betonen sie, dass die als Ausweg aus den zerstörerischen Folgen des Automobilverkehrs gehandelte Einführung von Elektroautos eine nur scheinbare Lösung darstellt, wenn man nicht nur den Energieverbrauch beim Fahren, sondern die Rohstoffe und Energien berücksichtigt, die zu ihrer Produktion gebraucht werden.
Bei dieser „Ökologisierung“ des Automobilverkehrs handle es sich um den Versuch, durch „selektive Modernisierung“ die imperiale Lebensweise auf Dauer zu stellen. Von einer Eindämmung des Autoverkehrs zugunsten des öffentlichen Nahverkehrs, von einer Verkürzung und Vermeidung von Verkehrswegen und entsprechenden stadt- und raumplanerischen Maßnahmen sei dabei kaum die Rede.
Ein Anfang wäre es, seine Lebensweise zu hinterfragen
Insgesamt erteilen die Autoren den Vorstellungen von einem „grünen“ Kapitalismus eine deutliche Absage, und zwar deshalb, weil dabei die kapitalistischen Dynamiken und Herrschaftsverhältnisse ausgeblendet bleiben, die Grundlage der sich vervielfachenden Krisenerscheinungen seien. Die imperiale Lebensweise werde in ihren Grundzügen überhaupt nicht in Frage gestellt. Dies gelte auch dann, wenn die Kompensation ökologischer Zerstörungen selbst zu einem Vehikel der Kapitalverwertung gemacht wird. Es handle sich dabei vielmehr um eine neue Phase der kapitalistischen Naturaneignung. Dies wird am Beispiel des „land grabbing“ erläutert, der Übernahme von Ackerflächen durch große Investoren, die z.B. zum Anbau energieliefernder Pflanzen dienen und was zur Vertreibung der dort ansässigen Bevölkerung führt.
Das „Grünen“ des Kapitalismus“ verweise darauf, dass dieser durchaus über Möglichkeiten verfüge, seine Krisen zu bearbeiten. Er habe keine notwendige Naturgrenze. Vielmehr seien es „die über eine imperiale Naturaneignung vermittelte soziale Ungleichheit, an der sich zentrale sozial-ökologische Konflikte entzünden und demokratische Alternativen entwickelt werden können“.
Was dies heißen könnte, deuten Brand und Wissen im letzten Kapitel an. Sie gehen davon aus, dass die herrschende „multiple Krise“ (sozial, ökonomisch, ökologisch und politisch) einen Wendepunkt darstellen und gesellschaftsverändernde Initiativen vorantreiben könnte. Das wachsende Unbehagen an den bestehenden Verhältnissen deute darauf hin. Es komme vor allem darauf an, die eigene Lebensweise zu hinterfragen und praktische Ansätze einer solidarischen Gesellschaftsordnung zu entwickeln. Solche seien bereits in vielen Teilen der Welt anzutreffen. Ein Ziel müsse ein grundlegender institutioneller Umbau des Staates und eine umfassende Demokratisierung sein.
Die von den Autoren vorgelegte Analyse ist überzeugend. Recht vage bleiben allerdings die Überlegungen in Bezug auf mögliche gesellschaftliche Veränderungen. Dass sich aus einer Krise heraus emanzipative Bewegungen bilden, muss nach allen Erfahrungen mit einem Fragezeichen versehen werden. Möglich ist auch eine noch aggressivere Verteidigung der herrschenden Lebensweise, verbunden mit einer Verhärtung autoritärer Herrschaftsformen. Dass dabei die Waffenproduktion als Quelle des Kapitalprofits eine zunehmende Rolle spielen könnte, zeichnet sich bereits deutlich ab. Wenig ausgeführt sind auch die Überlegungen, wie ein institutioneller Umbau des Staates konkret aussehen sollte und vor allem wie eine „solidarische Lebensweise“, d.h. eine andere Ökonomie praktisch zu regulieren wäre. Wenn es um die Veränderung von Bewusstsein und die Entwicklung einer alternativen Hegemonie gehen soll, müsste das deutlicher ausbuchstabiert werden.
Es ist den Autoren nicht vorzuwerfen, dass sie keinen Masterplan für eine ökonomisch und politisch andere Gesellschaft vorstellen. Dazu braucht es praktische Erfahrungen und ihre Reflexion ebenso wie weiter gehende theoretische Diskussionen. Dazu genügend Anlass gegeben zu haben, ist das Verdienst dieses äußerst lesenswerten Buches.
„Unsere imperiale Lebensweise muss verändert werden“
Ulrich Brand, Professor an der Universität Wien, ist seit vielen Jahren in der globalisierungskritischen Bewegung aktiv. Im Rahmen einer interdisziplinären Gruppe untersucht er in Lateinamerika „Alternativen zur Entwicklung“. Auch zum extraktivistischen Entwicklungsmodell. Mit ihm sprach Südwind-Redakteur Werner Hörtner.
Südwind-Magazin: Die Ausbeutung von Rohstoffen gilt immer noch als unentbehrliche Grundlage für die industrielle Entwicklung und den Wohlstand des globalen Nordens. Und obwohl nur ein geringer Teil der Wertschöpfung im Ursprungsland selbst bleibt, betrachten die exportierenden Staaten des Südens den Extraktivismus als Rettung für ihre Budgets. Wie kann man diesen Ländern eine post-extraktivistische Lösung schmackhaft machen? Ulrich Brand: Da gibt es verschiedene Ansatzpunkte, man muss aber auch sehen, wo die Hindernisse liegen. In den Extraktionsländern ist es schwer, den herrschenden Eliten eine post-extraktivistische Lösung schmackhaft zu machen, weil sie gut daran verdienen. Wenn wir über Post-Extraktivismus reden – und das ist auch der Ansatz unserer Arbeitsgruppe –, so reden wir in erster Linie über kritische politische Kräfte, über soziale Bewegungen. Also wären erst einmal die Vorschläge und Erfahrungen von alternativen Akteuren ernst zu nehmen. Etwa die der Landlosenbewegung in Brasilien hinsichtlich einer ökologischen kleinbäuerlichen Landwirtschaft oder die der indigenen Bewegungen in den Andenländern. Die Erfahrung der Bewegungen ist: Industrielle Landwirtschaft ist nicht für die lokale Bevölkerung, die Förderung von Öl macht alles kaputt, Goldabbau zerstört alles. Deren Vorschläge zu kennen, ist ein wichtiger Teil der Arbeit unserer Gruppe. Wir sehen rasch: Es gibt genügend Alternativen, von lokaler Ökonomie wie etwa ökologischem Tourismus oder ökologischem Landbau. Das wäre einmal die lokale Ebene.
Welche anderen Auswege oder Alternativen gibt es? Auf der nationalen Ebene steht in Lateinamerika die alte Frage nach einer Landreform auf dem Tapet. Wir können nur wegkommen vom extraktivistischen Modell, wenn es eine andere ökonomische Struktur gibt. Auf dieser Ebene geht es darum, alternative Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle voranzutreiben, also wegzukommen von dieser großen Abhängigkeit der Staatsbudgets, der damit einhergehenden Verteilungsspielräume vom Verkauf der agrarischen, mineralischen und fossilen Rohstoffe auf dem Weltmarkt. Das beinhaltet die Frage nach nachhaltigen Formen der Industrialisierung in den Ländern und ganz zentral die der Landreform, die Frage der nachhaltigen Nutzung von Ressourcen.
Die dritte Ebene, wo wir noch nicht viele Antworten haben, ist sicherlich die internationale Ebene. Wie wird den Ländern, und zwar sowohl den Regierungen und Eliten als auch den Bevölkerungen, garantiert, dass durch ein deutliches Herunterfahren dieses gierigen, zerstörerischen Extraktivismus für sie keine großen Verluste entstehen? Da sind wir bei der Frage einer solidarischen internationalen Wirtschaftspolitik, bei der Frage der Preisregulierung, der Einschränkung der Macht der transnationalen Unternehmen. Wie wird z.B. in Ecuador Wohlstand geschaffen und werden dafür vielleicht Mittelzuflüsse von außen gesichert, wenn in zehn Jahren das Land nur mehr ein Viertel des Erdöls – verglichen mit heute – exportiert?
Sind wir in den reichen Ländern nicht auch in diese Problematik eingebunden? Das würde ich als eine vierte Dimension bezeichnen, nämlich dass die Produktions- und Lebensweisen – unsere imperiale Lebensweise, wie ich es gemeinsam mit Markus Wissen nenne – unbedingt verändert werden muss. Sie ist es ja, die diesen Extraktivismus erzwingt. Also die Frage nach dem Post-Extraktivismus muss auch hier bei uns, auch in Österreich gestellt werden und nicht nur in Ecuador und außereuropäischen Regionen.
Gibt es Regierungen oder Politiker im Süden, die ernsthaft einen Ausweg aus dieser Rohstofffalle suchen? Die Politiker, die am ehesten dazu gedrängt werden und die eigentlich auf Grund ihrer Verfassung dazu verpflichtet wären, sind natürlich Correa, Morales und Chávez. Sie verpflichten sich auch in ihren Diskursen immer wieder dazu. Wir von der Arbeitsgruppe haben nun eine Studie zu diesem Thema erstellt, mit dem Ergebnis, dass dieser Versuch in allen drei Ländern misslingt. Die politischen und ökonomischen Kräfte, die eine Fortführung des Extraktivismus aufgrund der erhöhten Rohstoff-Renten wollen, sind einfach zu stark. Und die Frage einer Agrarreform wird überhaupt nicht aufgenommen. In Brasilien und Argentinien gibt es sogar einen begeisterten Pro-Extraktivismus, auch wenn die brasilianische Regierung dauernd von „grüner Ökonomie“ spricht – was in Argentinien übrigens kaum jemand macht.
Ein interessantes Phänomen gibt es in Thailand. Dort hat der König nach der Krise 1997 das Konzept einer „Suffizienz-Ökonomie“ ausgerufen, die im öffentlichen Diskurs ziemlich stark ist und die teilweise auf der lokalen Ebene auch umgesetzt wird, die aber in einem ähnlichen Dilemma steckt. Dennoch sind Thailand und noch stärker Bhutan wichtige Beiträge zum Post-Extraktivismus. Es ist ganz wichtig, in Bhutan, wo ein buddhistisches Gesellschaftsverständnis stark im Alltag verankert ist, sich anzuschauen, was bedeutet da Leben, was bedeutet Gesellschaft, soziales Verhalten. Das kann nicht eins zu eins übertragen werden. Der Horizont des Guten Lebens aus den Andenländern ja auch nicht. Und dennoch bieten diese Erfahrungen viele Anknüpfungspunkte.
Hat Ihre Arbeitsgruppe schon praktikable Modelle von „Alternativen zur Entwicklung“ gefunden? Wir sind bald nach der Konstitutierung unserer Gruppe aufs Land im nördlichen Ecuador gefahren und haben uns Widerstände gegen Bergbauprojekte angesehen. Als eine Untersuchungsperspektive geht es uns darum, über die aktuellen Konflikte im Extraktivismus herauszubekommen, wie Alternativen entstehen, was ihr Stellenwert ist. Bis jetzt sind wir stark mit mineralischen Rohstoffen und fossilen Energieträgern befasst, weniger mit agrarischen Rohstoffen.
Wir verfolgen mit unserer Arbeit eine kritische Wissensproduktion, die in der Bewegung, aber auch in staatlichen Apparaten in den Medien eine Rolle spielt. Wir machen keine Strategiepapiere, keine Aufrufe, sondern wir wollen über Erfahrungsaustausch und Reflexion in der Analyse weiterkommen. Die soll dann unterschiedlichen Akteuren bei ihren Positionsbestimmungen und Strategieentwicklungen durchaus helfen.
Ulrich Brand studierte Tourismus mit dem Schwerpunkt Hotellerie an der Berufsakademie Ravensburg und anschließend Politikwissenschaft in Frankfurt/M., Berlin und Buenos Aires. Ab 2007 Professor für Internationale Politik an der Universität Wien, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac Deutschland und in der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO). Seine Arbeitschwerpunkte sind kritische Staats- und Gesellschaftstheorie, Ressourcen- und Umweltpolitik, Lateinamerika.