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Das Chaos verstehen!
Eine Zeitdiagnose aus der Perspektive kritischer Gesellschaftstheorie
1. Einleitung
Zeitdiagnosen werden heute von Krisenbewusstsein, Pessimismus, düsteren
Prognosen und apokalyptischen Untergangsszenarien beherrscht – und
das in fast allen politischen Lagern. Einer internationalen Umfrage des
renommierten Instituts IFOP zufolge glauben in den USA 52% der Bevölkerung,
dass »die Zivilisation, wie wir sie kennen« in den nächsten Jahren zusammenbrechen
wird. In Frankreich sind es sogar 65% und in Deutschland
immerhin noch 39% (IFOP 2019). »Europa und die ganze Welt stehen derzeit
am Scheideweg«, hieß es schon 2011 im Bericht des Wissenschaftlichen
Beirats der Bundesregierung zu Globalen Umweltfragen (WBGU 2011).
Und selbst führende Politiker und Politikerinnen, die sich sonst gerne als
Macher präsentieren, die alles unter Kontrolle haben, äußern sich einschlä-
gig. So spricht z.B. der französische Präsident Macron von »einer Welt am
Rand eines Abgrunds« (The Economist, 7.11.2019) und Ursula von der
Leyen sorgt sich um die »Zukunft unseres fragilen Planeten« (Von der Leyen
2020). Der Corona-Schock hat all dem noch einmal einen neuen Schub
verliehen. Das Gefühl der Verwundbarkeit durch einen Problemtypus, den man
lange überwunden glaubte, ist eine Erfahrung, die die heute lebenden
Generationen nicht kannten.
Freilich gilt das apokalyptische Epochengefühl vorwiegend für die alten
kapitalistischen Zentren Europas und Nordamerikas. Für viele Länder des
Südens – vor allem Subsahara-Afrika, Teile Asiens und die ärmeren Regionen
Lateinamerikas – ist die Katastrophe für große Bevölkerungsgruppen
schon lange bedrückende Normalität. Darunter sind auch Epidemien. Das
Ebola-Virus, das um Größenordnungen tödlicher ist als COVID-19, hat 2014-
2016 in Afrika gewütet. Ein Vorläufer des SARS-Virus grassierte in Asien.
Demgegenüber dürfte in China, Vietnam, Malaysia und anderen südost-
asiatischen Ländern das gesellschaftliche Klima eher positiv gestimmt
sein. Der wirtschaftliche Aufstieg, beträchtliche Erfolge bei der Überwindung
von Armut und die Entstehung breiter Mittelschichten aus einer noch
nicht weit zurückliegenden Vergangenheit als »Entwicklungsland« dürften
dort eine kollektives Lebensgefühl verbreiten, das eher Ähnlichkeit mit dem
im Westeuropa der Nachkriegszeit aufweist, als damals die Konsumgesellschaft
und ein gewisser Massenwohlstand ihren Siegeszug angetreten hatten.
Da das Corona-Management in den meisten ostasiatischen Ländern effizienter
war als im Westen, wird auch dies die kollektive Stimmungslage in der Region
weiter aufhellen.
Dennoch lässt sich nicht bestreiten, dass es die Menschheit insgesamt mit
außergewöhnlichen mehrdimensionalen Krisenprozessen zu tun hat, die sich
eigensinnig entwickeln, die aber als Momente der kapitalistischen
Produktionsweise miteinander verbunden sind und die sich mehr
und mehr zu einem großen Krisenzusammenhang (Stichworte: große
Krise, Vielfachkrise, Zangenkrise) verdichten, und das bereits vor Corona:
+ In allererster Linie ist an die große Klima- und Umweltkrise zu denken.
Das Klimagleichgewicht, das sich über ca. 1,2 Millionen Jahre ausgebildet
hat, gerät aus der Balance. Alles deutet darauf hin, dass die Existenzbedingungen
für die meisten Lebewesen in der nahen und ferneren
Zukunft auch nicht annähernd so angenehm sein werden wie in dem zu
Ende gegangenen geologischen Zeitalter des wohltemperierten Holozäns.
Kaum weniger bedrohlich, aber weitaus seltener Anlass zur Sorge
ist eine andere Dimension der Krise: Getrieben von der Rationalität der
kapitalistischen Welteroberung, die heute bis in die Stratosphäre reicht,
wird sukzessive und manchmal sprunghaft das Netz des Lebens zerstört,
das im Verlauf von Milliarden Jahren entstanden ist. Durch den dadurch
beschleunigten und bereits heute dramatisch zu nennenden Verlust von
Biodiversität werden die Pfade zukünftiger Evolution auf dem Planeten
irreversibel verengt.
+ Zu befürchten ist, dass bis zum Ende des Jahrhunderts die Lebensgrundlagen
für große Teile der Weltbevölkerung zerstört werden und viele Menschen in andere,
oft nicht weniger gefährdete Regionen wandern müssen.
Doch auch in den reichen Staaten der OECD-Welt ist mit Verwerfungen
und harten Konflikten zu rechnen, weil die Krisendynamiken im gesellschaftlichen
Naturverhältnis Bevölkerungsgruppen in unterschiedlichem
Ausmaß treffen, weil es Konflikte um Hilfsmaßnahmen geben wird und
weil Produktionsstrukturen, Siedlungs- und Wohnformen, Mobilitätspraktiken,
Ernährungs- und Lebensweise geändert werden müssen.
+ Die Finanzkrise 2008 brachte die größte Erschütterung des finanzmarkt-
getriebenen Kapitalismus seit seinem Aufstieg in den 1980er Jahren. Mit
staatlichen Finanzspritzen in Billionenhöhe wurden zwar die Banken gerettet
und ein völliger Kollaps verhindert. Reformen, die mehr Regulierung und
Stabilität bringen sollten, gerieten aber bald ins Stocken und
wurden nur noch bruchstückhaft umgesetzt. Das Kasino lief bald wieder
auf Hochtouren. Da der Vulkan derzeit kein Feuer speit, macht sich die
Illusion breit, die Lage sei unter Kontrolle. Tatsächlich jedoch ist eine
Eruption jederzeit wieder möglich. In der Eurozone wuchs die Finanzkrise
zudem ab 2010 in die Euro-Krise hinüber. Die Währungskrise wurde zum
einen in Griechenland und anderen Krisenländern mit brachialer
Austeritätspolitik, zum anderen durch gigantische Aufkaufprogramme für
Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) eingedämmt.
Seither hängt die Stabilität des Euro am Tropf der EZB. Deren Notprogramme
nähren aber gleichzeitig eine stetig wachsende Blase, die dem
DAX & Co. spekulative Höhenflüge ermöglicht.
+ Soziale Krisen gibt es in fast allen Ländern des kapitalistischen Zentrums,
zunehmend auch in Schwellenländern, in den armen Ländern sowieso.
Befeuert werden sie durch die sozialen Verwüstungen, die seit nunmehr fast
vier Jahrzehnten durch den Neoliberalismus angerichtet werden. Durch
Corona verschärfen sich die sozialen Probleme noch einmal mehr. Arme
und Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind, sind besonders
hart von den ökonomischen Folgen der Krise betroffen. Bis zum Ausbruch
der Pandemie wurden trotz aller Proteste großer Bevölkerungsgruppen
von den herrschenden Klassen nach wie vor neoliberale Strategien verfolgt:
Sie drängten auf Absenkung der Löhne und Arbeitsstandards oder
Schwächung der Gewerkschaften, auf die Privatisierung der Güter und
Dienstleistungen der Daseinsvorsorge und zum Abbau sozialstaatlicher
Transferleistungen bei der Altersvorsorge, dem Gesundheitswesen oder
der Bildung. Die fatalen Auswirkungen dieser Politik zeigten sich drastisch
bei Ausbruch der Pandemie an den Defiziten im Gesundheitswesen, in der
Altenpflege, bei medizinischen Gütern oder am Zustand der
Gesundheitsbehörden, die durch die Politik des »schlanken Staats« herunter-
gekommen sind.
+ Die Krisendynamik wird dadurch verstärkt, dass der Staat und die politischen
Systeme selbst in eine Krise ihrer Problemlösungs- und Steuerungsfähigkeit
sowie ihrer Legitimation geraten sind. Vor aller Augen deutlich
wurde dies durch Chaos und Versagen vieler Regierungen im Management
der Corona-Krise. Der Raum der Unverfügbarkeit erweitert sich.
Das trifft auch die Interessen der Herrschenden, die zunehmend mit Kontroll-
erlusten konfrontiert sind. In vielen Ländern kommt es zu politischen
Pattsituationen, erweisen sich Entscheidungen oder Regierungsbildungen
als schwierig. Mächtige Unternehmen und Wirtschaftsverbände bestimmen
Entscheidungsprozesse bis in die unmittelbare Gesetzgebung hinein.
Vielerorts sehen sich die Bevölkerungen von den Parteien und Parlamen-
ten nicht mehr repräsentiert. In vielen Ländern kommt es zu Protestbewegungen.
Doch auch ein internationaler Trend zum Autoritarismus ist
darin unübersehbar; er richtet sich vordergründig gegen die herrschenden
Eliten, vor allem aber gegen Migranten, die Linke und emanzipatorische Bewegungen.
+ So wie Demokratie gilt auch Öffentlichkeit als ein wesentlicher Mechanismus
zur Bewältigung von Krisen. Doch erfüllen die klassischen Medien, also
Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen, ihre Funktion der Berichterstattung
und demokratischen Willensbildung oft nicht mehr – weil ihre
Abhängigkeit von Werbeeinnahmen, ihre Ausrichtung an den Vorgaben
von Politik und Wirtschaft, aber auch schlichtweg betriebswirtschaftliche
Sparmaßnahmen dies verhindern. Vor allem aber haben sie ihre einstige
Monopolstellung als Informationsquelle und Raum öffentlicher Debatte
verloren und finden sich gegenüber den Social Media zunehmend in der
Defensive. Die Generation der Digital Natives hat sich schon sehr weit-
gehend von ihnen abgewandt. Die neuen Medien vergesellschaften auf der
einen Seite die weltweite Kommunikation. Anders als früher kann heute
jeder nicht nur Empfänger, sondern auch Sender von Nachrichten sein,
was durchaus Chancen für mehr Demokratie eröffnet. Gleichzeitig schlie-
ßen die neuen Medien die Menschen vielfach in Filterblasen ein und
verstärken selektive und irrationale Weltsichten. Indem auch der Stammtisch
jetzt jederzeit Zugang zum weltweiten Web hat, verändert sich der Charakter
von Öffentlichkeit, schafft veränderte Rahmenbedingungen für Politik.
Das Internet wird zur Plattform überhitzter Debatten und gesteigerter Erregung.
Maßstäbe öffentlicher Willensbildung – Vernunft, Wahrheit,
Transparenz, Zurechenbarkeit, gleichberechtigte Teilnahme – werden au-
ßer Kraft gesetzt. Empirisch kontrolliertes Wissen oder wissenschaftliche
Argumentationen werden auf bloße Meinung reduziert. Wissen wird zum
Machtinstrument und deswegen auch durch beliebiges Nicht-Wissen ersetzbar.
Dadurch verschwimmen die Grenzen zwischen rationaler Argumentation und
Kommunikation als Machtinstrument. Auch hier hat Corona einmal mehr
als Brandbeschleuniger gewirkt.
+ Zugleich haben sich vor allem in Westeuropa und Nordamerika im vermeintlich
privaten Bereich die Geschlechterverhältnisse tiefgreifend ver-
ändert, heterosexuelle Orientierungen und die Ehe werden, obwohl sie
weiterhin von der Mehrheit gelebt werden, durch andere sexuelle Orientierungen
und unkonventionelle Lebensformen relativiert. Geschlechtsspezifische Diskriminierung,
sexistische Übergriffe und (sexuelle) Gewalt kommen weiterhin verbreitet vor.
Doch sie werden immer öfter öffentlich skandalisiert, es bilden sich soziale Bewegungen,
Gesetze werden geän dert, die Behörden sensibilisiert. Gleichzeitig aber entstehen
Gegenreaktionen und -bewegungen, mitunter sogar gewalttätige. All das führt auch
auf diesem Feld zu einer stärkeren Polarisierung in der Gesellschaft.
+ Gravierende Umbrüche resultieren aber auch aus den Veränderungen in
den Wirtschafts- und Bevölkerungsstrukturen sowohl des Globalen Nordens
wie auch des Globalen Südens. Die Schaffung neuer Märkte und
entsprechende Veränderung rechtlicher und politischer Rahmenbedingungen,
die Verlagerung von Produktion und Dienstleistung und eine exorbitante
Verbilligung von Kommunikation und Transportleistungen beschleunigen
die Herausbildung einer transnationalen Ökonomie. Damit einher gehen neue
Formen kurz- und langfristiger Mobilität und Migration.
Dies geschieht zwar vornehmlich als Süd-Süd-Migration, doch reicht
der gewachsene Strom der Süd-Nord-Migration aus, dass in den reichen
Ländern des Nordens nicht nur die politischen Verwaltungen herausgefordert
werden, sondern auch zunehmend Ressentiments, Fremdenfeindlichkeit
und Rassismus zutage treten.
+ Parallel dazu vollzieht sich bei den Produktivkräften ein tief greifender
Wandel, gemeinhin mit den Schlagworten Dekarbonisierung und Digitalisierung
umschrieben. Klassische Industriebranchen verlieren ihre bisherige Bedeutung
oder stehen vor drastischen Veränderungen. Die Digitalisierung wird in einigen
Ländern (am stärksten im Globalen Süden) zuerheblichen Arbeitsplatzverlusten
führen, in anderen – etwa in Deutschland – eher eine weitere Spaltung der
Lohnabhängigen befördern und die Prekarisierung der Lohnarbeit noch weiter
ausbreiten. Entwicklungen in der Gentechnik und in der Biotechnologie, von
denen sich viele u.a. eine Lösung der Ernährungsprobleme versprechen,
könnten jedoch die Ernährungswirtschaft in hochproblematische Bahnen lenken,
weil sie die Subsistenzlandwirtschaft vor allem im Globalen Süden verdrängen,
Schuldenabhängigkeit schaffen, die Qualität der Lebensmittel mindern und in
Prozesse mit weitgehend unbekannten Risiken führen. Folgenreich können auch
die Gentechnologie und ihre Verbindung mit Informations- und
Kommunikationstechnologien werden. Fortschritte in der Gentechnik wie
die CRISPR/Cas-Methode erleichtern die Erzeugung gentechnisch ver-
änderter Organismen. Genmanipulationen auch am Menschen rücken in
greifbare Nähe. Veränderungen führen indes nicht nur zu Veränderungen
in den gesellschaftlichen Beziehungen, in Arbeitswelt, Kultur und
Lebensweise, sondern auch dazu, dass die Karten im Konkurrenzkampf
des globalisierten Kapitalismus um Märkte, Rohstoffe, Einflusssphären
neu gemischt werden (siehe dazu auch den Beitrag von Birgit Mahnkopf
in diesem Band).
+ Im Bereich der internationalen Politik gab es innerhalb eines historisch
kurzen Zeitraums eine enorme Dynamik. Nach dem Fall der Mauer war
eine Friedensperiode erwartet worden. Doch schnell zeigte sich, dass die
USA und mit ihr die NATO ihren Machtbereich ausweiteten, bis an die
Grenzen Russlands. Mit dem »Krieg gegen den Terror« nahm der Westen
in Anspruch, den Nahen und Mittleren Osten politisch und militärisch
kontrollieren zu können. Der Kampf um politischen und wirtschaftlichen
Einfluss führt vermehrt zu Konflikten um die Kontrolle von Meeren, Territorien,
Rohstoffen. Geopolitische Machtpolitik wird zum dominanten
Faktor im internationalen System, Rivalität und Konfrontation erhöhen
die Kriegsgefahr. Waren nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus
die USA als einzige Weltmacht übrig geblieben, so wird mittlerweile
deren globale Vormachtstellung durch Multipolarität komplex überlagert.
Die 500-jährige Epoche der Dominanz Westeuropas und seines nordamerikanischen
Ablegers über den Rest der Welt geht zu Ende. Gleichzeitig
lassen sich erhebliche Anstrengungen der USA erkennen, die Entwestlichung
der Welt zu verhindern und ihre Vormachtstellung zu behaupten. Wir werden
gegenwärtig Zeuge, wie auch die neue US-Administration Joe Bidens versucht,
sich mit aller Macht gegen diesen Wandel zu stemmen. Dazu wird der schon in
der Trump-Ära begonnene neue Kalte Krieg gegen China und Russland
systematisch und auf breiter Front verschärft. Im Unterschied zu Trump
sieht Bidens Strategie vor, auch die EU und im indopazifischen Raum Japan,
Australien u.a. zu einem geopolitischen Lager unter Führung Washingtons
zusammenzufügen.
+ Auch die EU kann heute nicht mehr als progressives Projekt bezeichnet
werden, was 1990 selbst noch viele Linke taten. Seit dem Finanzcrash
2008 befindet sie sich in der Dauerkrise. Längst triumphieren auch hier
geopolitische Interessen, während Erosionserscheinungen und zentrifugale
Tendenzen, von denen der BREXIT nur die Spitze des Eisbergs ist,
stärker werden. Auch hier hinterlässt Corona tiefe Spuren. Die Europäische
Kommission und die Regierungen der EU-Staaten haben sich als
unfähig erwiesen, zügig eine ausreichende Versorgung mit Impfstoffen
zu gewährleisten. Sie sind nicht in der Lage, rasch neue Produktionskapazitäten
aufzubauen, weil sie die Interessen der privaten Pharmakonzerne nicht antasten
wollen. Besonders gravierend und von langfristiger Wirkung dürften aber die
Unterschiede in der ökonomischen Betroffenheit durch die Krise sein. Die
Wachstumseinbrüche in Italien, Spanien, Frankreich sind weitaus größer als
in Deutschland und anderen Nordstaaten. Auch bei der Verfügbarkeit von
finanziellen Reserven für Rettungsaktionen gibt es eine große Nord-Süd-
und Ost-West-Kluft. Die öffentliche Verschuldung ist zwar überall gewachsen,
aber im Süden nimmt sie schwindelerregende und unbezahlbare Ausmaße an.
Die ökonomische Zerklüftung wird sich als langfristige Belastung erweisen, an der
auch das hoch gehypte Programm Next Generation EU nur wenig ändern
kann. Schon bei der Finanzkrise hat sich gezeigt: Wenn es ernst wird, ist
der Nationalstaat trotz all seiner Defizite dann doch »the only game in
town«, weil er noch immer über die wirksamsten ökonomischen, institutionellen,
rechtlichen Instrumente sowie weitaus mehr demokratische Legitimität verfügt.
1.1 Verunsicherung und Zukunftsangst
Es kommt also zu tiefgreifenden Veränderungen in den gesellschaftlichen
Strukturen und Gewohnheiten. Vieles verläuft chaotisch, weil Entscheidungen
nicht getroffen werden und auch gar nicht klar ist, in welche Richtung
diese gehen müssten. In dieser Situation neigen die Herrschenden dazu,
Probleme zu verbergen, sie unsachlich zu diskutieren oder falsche Ursachen zu
nennen. Denn sie wissen zwar, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher,
haben aber keine angemessenen Lösungsstrategien, können diese zumindest
nicht umsetzen. Sie agieren selbst vielfach hysterisch und irrational und unter
Rückgriff auf autoritäre Mittel, um ihre Machtpositionen zu erhalten.
Weil sie selbst kaum Orientierung bieten, sondern entweder reaktionär
oder auf kurze Sicht handeln und Zukunftsperspektiven blockieren, ist es
nicht verwunderlich, dass auch in großen Teilen der Bevölkerung Verunsicherung
und oft auch Ängste um sich greifen. Viele Menschen sind ratlos
und suchen nach Orientierung, die sie in der Politik einer populistischen und
nationalistischen Rechten zu finden hoffen, die viele Probleme leugnet und
alles, was »anders« ist, also die Identität des vermeintlichen Kollektivs bedroht,
dafür verantwortlich macht. In dieser Orientierungskrise läge durchaus auch eine
Chance für die gesellschaftliche Linke, wenn es ihr gelänge, ihre Alternativen
hegemoniefähig zu machen.
1.2 Der Globale Süden – besonders hart von den Krisen betroffen
In den Ländern des Globalen Südens, wo inzwischen die große Mehrheit
der Menschen lebt, kommen alle diese Tendenzen in besonderer Brutalität
zum Tragen, werden aber durch besondere Problemlagen noch einmal verstärkt:
Die Folgen des Klimawandels treffen die tropischen Länder mit einer größeren
Frequenz und Intensität von Extremwetterereignissen als jene in den gemäßigten Breiten.
Es fehlen die materiellen und finanziellen Ressourcen, um auf Umweltdegradation und
Nahrungsmittelmangel (u.a. verursacht von biblischen Heuschreckenschwärmen)
adäquat reagieren zu können.
Die ohnehin größere Ungleichheit der Einkommen, Armut, Unterversorgung mit
sauberem Wasser und Defizite an menschlicher Sicherheit, die eigentlich im Rahmen
der Sustainable Development Goals bis 2030 ausgeglichen werden sollten,
werden sich aller Voraussicht nach vertiefen und erweitern.
Gleichzeitig müssen die meisten Länder Afrikas und Süd-Ost-Asiens damit
rechnen, Arbeitsplätze (ergo Einkommensmöglichkeiten und Steuereinnahmen),
die im Rahmen des von den internationalen Institutionen erzwungenen »export-led-
growth« in den letzten Jahrzehnten entstanden waren, durch
die technologischen Entwicklungen der Digitalisierung, d.h. Automatisierung
von Produktions- und Dienstleistungsprozessen wieder zu verlieren. Diagnose-
und Behandlungsfortschritte, die in Biotechnologie und Medizin erwartet
werden, werden mit Sicherheit nicht den Armen in den Low/Middle-Income-Countries
zugutekommen. Die Ungleichheit innerhalb dieser Länder wie gegenüber dem
»reichen Norden« wird sich eher noch vertiefen.
Es ist damit zu rechnen, dass das für die nächsten Jahrzehnte erwartete
Bevölkerungswachstum nahezu ausschließlich in den großen Städten des
Globalen Südens stattfinden wird. Diese aber sind im Vergleich zu den ländlichen
Regionen von noch größerer sozialer Ungleichheit gekennzeichnet und weisen
neben den hochmodernen »Vierteln der Reichen« immer größere Slums auf,
ohne zureichende Infrastruktur für die wachsende »ÜberflussBevölkerung«.
Das dürfte vermehrt zu Aufständen und Revolten, insgesamt zu mehr Konflikten
und Gewalt führen und die grenzüberschreitenden Migrationsbewegungen verstärken.
Corona hat auf die Länder des Südens sehr unterschiedliche Effekte. Die
unmittelbaren gesundheitlichen Folgen waren in Subsahara-Afrika geringer
als zunächst befürchtet. Der hohe Anteil junger Menschen an der Bevölkerung,
die im Durchschnitt geringere Siedlungsdichte sowie Erfahrungen aus
früheren Epidemien hielt die Zahl der Opfer in Grenzen. Umso schlimmer war
die Situation in einigen lateinamerikanischen Ländern, vorneweg im Schwellenland
Brasilien. Die Verharmlosung durch die Bolsonaro-Regierung hat zu
einem Verlust der Kontrolle über das Pandemiegeschehen und zu hohen
Todesraten geführt. Auch in Ecuador, Chile und Argentinien war das
Krisenmanagement über weite Strecken von eklatantem Staatsversagen geprägt.
Die wirtschaftlichen Konsequenzen für arme Länder sind besonders gravierend
und dürften noch jahrelange Nachwirkungen haben. Der globale
Konjunktureinbruch hat zu einem generellen Schrumpfen des Handelsvolumens
und damit zu einem Rückgang der wichtigen Nachfrage bei Rohstoffen geführt.
Die Transferzahlungen von Migrantinnen und Migranten in ihre Heimatländer,
die für einige Länder inzwischen eine größere Rolle spielen als die Entwicklungshilfe,
brachen ein. Die Zahl der Länder mit kritischer Verschuldungshöhe ist
pandemiebedingt gestiegen und beläuft sich jetzt auf 132 (Misereor 2021).
Zwar haben die G-20 ein Schuldenmoratorium gewährt, das verschiebt
aber das Problem nur in die Zukunft. Notwendig wäre ein umfassender Schuldenerlass.
Gleichzeitig stieß die Forderung der Weltgesundheitsorganisation (WHO),
vorübergehend die Patente auf Impfstoffe auszusetzen, um allen Ländern
schnellen und massenhaften Zugang zu Impfungen zu ermöglichen, in der
dafür zuständigen WTO auf den geschlossenen Widerstand von EU, Japan und
der Schweiz. Das entsprechende Abkommen (TRIPS) sieht solche
Ausnahmeregeln vor, die von der WTO jederzeit autorisiert werden könnten.
Doch die »Wertegemeinschaft«, die derzeit in Berlin und Brüssel unentwegt
beschworen wird, hat einmal mehr demonstriert, dass noch immer
die Wertpapiere und der Mehrwert – in diesem Fall die Profite der Pharmakonzerne
– Vorrang vor Werten wie Solidarität haben.
1.3 Corona – Brandbeschleuniger für bereits bestehende Krisen
Die geschilderten Krisenzusammenhänge sind lange vor Corona entstanden.
Die Pandemie wirkt noch einmal wie ein Brandbeschleuniger. Die einzelnen
Krisensymptome treten noch schärfer hervor, bestehende Probleme vertiefen
sich, Abwärtsspiralen beschleunigen sich. Insofern ist das Virus nicht der Game
Changer und die Zäsur, die alles verändert und jetzt mehr Solidarität befördert
oder gar zu einem neuen Lebensstil führt, wie auch viele Linke anfangs gehofft
hatten. Zumal eine Folge von Corona auch ihr Absorptionseffekt ist, d.h. dass
die Aufmerksamkeit von Politik und Öffentlichkeit auf die Pandemie fokussiert,
und Ressourcen und Problemlösungskapazitäten auf das Virus konzentriert sind.
Vor allem für die Klima-und Umweltpolitik entsteht dadurch ein weiterer Verlust
an kostbarer Zeit.
So stellen sich viele Probleme durch und nach Corona noch schärfer als
vorher. Die allgemeine Verunsicherung hat zugenommen. Die Erfahrung
der Verwundbarkeit durch scheinbar längst überwundene Gefahren und die
durch Corona einem breiten Publikum bewusst gewordenen Grenzen von
Medizin und Naturwissenschaften verstärken Ohnmachtsgefühle und
Orientierungslosigkeit. Umso stärker ist die Sehnsucht nach einer Rückkehr
zum Status quo ante, den man für »die Normalität« hält. Sosehr dies menschlich
verständlich ist, so problematisch ist es aber auch. Denn business as usual ist die
beste Garantie dafür, dass Ausnahmezustände zukünftig immer häufiger und heftiger
auftreten werden. Im Grunde erfordert die demokratische Lösung all der
beschriebenen Krisen eine permanente kollektive Anspannung der ganzen
Gesellschaft, um die erforderlichen Veränderungen zu meistern. Selbst wenn
man nicht so weit gehen will, Parallelen zu Epochen revolutionären Umbaus,
wie z.B. in Russland nach der Oktoberrevolution, zum Wiederaufbau nach
dem Krieg oder gar zu Kriegszeiten selbst zu ziehen, so ist doch klar, dass
ein erfolgreiches Umsteuern beträchtliche und ungewohnte Anforderungen
an die Anpassungsfähigkeit jedes Einzelnen wie an die Gesellschaft stellt.
Allerdings treibt der Problemdruck der Krisen an verschiedenen Stellen
auch Ansätze zu Veränderungen hervor, die gezielt vertieft und erweitert
werden können. Diese Ansätze sind noch bescheiden, und es ist klar, dass sich
solche Gelegenheitsfenster auch wieder schnell schließen können. Aber bei
aller Skepsis gegenüber künstlich erzeugtem Optimismus ist auch bei
nüchterner Analyse festzustellen:
+ das neoliberale Modell ist endgültig entzaubert und musste schon in der
Pandemie wieder an mehreren Stellen den Rückzug antreten;
+ mehr noch als in der Finanzkrise hat sich gezeigt, dass sich der Staat in
großen Krisen letztlich doch als Retter of last resort erweist;
+ ein Leitmotiv des Globalisierungsdiskurses, das auch bis in linke Milieus
hinein geteilt wurde, war die Annahme, dass einzelne Nationalstaaten
der Macht transnationaler Konzerne nichts mehr entgegensetzen könnten.
Das ist zumindest in dieser absoluten Sichtweise widerlegt worden.
Die Rigorosität, mit der die USA auf der Grundlage von Kriegsrecht die
Impfstoffproduktion der Pharma-Multis organisiert haben, die Exportverbote
für Impfstoff durch einzelne Länder – z.B. Italiens gegen AstraZeneca – oder
die Auflagen für die Luftfahrt zeigen, dass die Spielräume staatlicher Politik
gegenüber der schrankenlosen Durchsetzung von Konzerninteressen größer
sind, als gerne behauptet wird – vorausgesetzt, es ist der politische Wille dazu da;
+ tragende Säulen des Neoliberalismus wie die »Schwarze Null« und der
»Stabilitätspakt« der EU sind am Zerbröseln und werden bis weit in den
Mainstream hinein infrage gestellt. Es ist unwahrscheinlich, dass sie in
alter Form einfach wieder in Kraft gesetzt werden können;
+ stattdessen ist – ebenfalls bis in den Mainstream hinein – eine Diskussion
um neue Wege beim Umgang mit öffentlichen Schulden entstanden.
Die Debatten um die Modern Monetary Theory und den Aufkauf von
Staatsschulden (sogenannte Monetarisierung) durch die Zentralbanken
sind nicht nur in Hinblick auf die Finanzierung der Billionensummen zur
Corona-Bekämpfung von Interesse, sondern haben auch zukünftige
Bedeutung für die Finanzierung der sozial-ökologischen Transformation;
+ die Probleme bei der Beschaffung von Masken und Beatmungsgeräten
und danach von Impfstoff haben die Frage nach mehr Vorsorge, öffentlicher
Planung und Steuerung von wichtigen Märkten aufgeworfen. In einigen
Ländern (unter anderem Frankreich) wurden Finanzhilfen an die
Airlines an Konditionen geknüpft, wie die Beendigung von Kurzstreckenflügen.
Das kann zum Türöffner werden, um auch in anderen Schlüsselsektoren wie
Energie oder Mobilität gesellschaftlichen Interessen Geltung zu verschaffen,
auch in den Branchen, die zu den Krisengewinnern gehören, wie die digitale
und die Plattformindustrie. Wie gesagt, das sind nur die Breschen, die in den
Festungsanlagen des neoliberalen Kapitalismus entstanden sind. Sie können
aber Ansatzpunkte für weitergehende Veränderungen sein (ausführlicher zu
Corona siehe den Beitrag von Alex Demirović in diesem Band).
2. Zivilisationskrise und Krise(n) des Kapitalismus
Besonders bedrohlich sind die planetarischen Veränderungen in der Geound
Biosphäre, die mit dem Begriff des Anthropozäns bezeichnet werden.
Elmar Altvater, Jason Moore und Andreas Malm haben zeitgleich und
unabhängig voneinander darauf hingewiesen, dass der Begriff Kapitalozän
adäquater als der Begriff Anthropozän ist. Denn wir haben es nicht mit
einem ahistorisch allgemeinen Menschheitsproblem zu tun, sondern mit
Prozessen, die erst durch die kapitalistische Produktionsweise in den letzten
Jahrhunderten ihre destruktive Wucht gewonnen haben. Die Natur wurde
und wird auf eine Weise angeeignet und transformiert, welche die Zivilisation
selbst infrage stellt. Naturbeherrschung schlägt in die unkontrollierbare
Zerstörung der Lebensgrundlagen um. Die menschengemachte Klimaerwärmung
wird zur existenziellen Bedrohung allen Lebens, wenn es nicht zu einer Wende kommt.
Ein singuläres Charakteristikum dieser Bedrohungen besteht in der besonderen
Qualität des Zeitfaktors und in ihrer weltumspannenden Reichweite. Zwar
gab es auch schon früher Umwelt- und Naturkatastrophen,wie der Untergang
der Maya-Kultur oder die Pest im Mittelalter. Aber sie waren regional
begrenzt und es gab trotz entsetzlicher Opfer ein besseres Danach.
Das gilt auch für die politischen Katastrophen im »Schlachthaus
der Geschichte« (Heiner Müller): Kriege, Massaker, Völkermord,
Faschismus. Wenn sich nach solchen Niederlagen für Humanität
und Zivilisiertheit noch sagen ließ »Die Enkel fechten’s besser aus!«,
so gilt das für die physikalischen, chemischen und biologischen
Vorgänge in der Biosphäre nicht mehr. Mit beschleunigtem Tempo
näher wir uns Kipppunkten der biophysischen Systeme, die die
Stabilität des Planeten über Jahrmillionen garantiert haben. Sind
diese Kipppunkte erreicht – teilweise ist das schon der Fall
oder könnte tatsächlich in wenigen Jahren der Fall sein – finden
irreversible, das heißt durch Menschen nicht mehr aufhaltbare
Veränderungen statt.
Nach dem Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sind einige
dieser Prozesse schon so weit fortgeschritten, dass sie sich nicht mehr
stoppen lassen, die Möglichkeiten dazu wurden vertan. Für die Zukunft
kann es nur darum gehen, für eine Gestaltung einzutreten, die demokratisch
erfolgt und langfristige Perspektiven einer ökologisch-nachhaltigen
Umlenkung der Prozesse verfolgt.
2.1 Eine singuläre Zivilisationskrise
Seit den 1970er Jahren weiß man von zunehmend desaströsen ökologischen
Entwicklungen. Dennoch folgte daraus bisher kein angemessenes Handeln.
Auch heute, da der Handlungsdruck und die Kosten exorbitant gestiegen sind,
stehen die gesellschaftlichen Verhältnisse einer raschen und vor allem problem-
adäquaten Reaktion auf das Desaster entgegen, denn sie erlauben es nicht,
eine gesamtgesellschaftliche Rationalität auszubilden. Die Erwartung,
dass sich aus dem Streit und der Konkurrenz der Einzelinteressen hinter
dem Rücken der Akteure oder durch Vermittlung des Staates am
Ende und noch zur rechten Zeit so etwas wie ein vernünftiges Gesamtinteresse
herausbilden könnte, halten wir für unrealistisch.
Dies erlaubt uns die Annahme, dass unsere Situation nicht durch eine
Krise unter vielen anderen gekennzeichnet ist, wie sie der Kapitalismus immer
wieder durchlief. Wir haben es mit einer Krise zu tun, die unserer Gegenwart
einen singulären Charakter verleiht: Es geht um menschheitsgeschichtliche
Weichenstellungen, die in einer kurzen Frist von wenigen Jahrzehnten
vorgenommen werden müssen – und das zu einem Zeitpunkt, in dem die Welt
durch Interessen und Spaltungslinien im Konflikt liegt.
Als handlungsfähiger Akteur existiert die Menschheit trotz einiger – und
durchaus umstrittener und von mächtigen Akteuren bekämpfter – Ansätze,
wie der UNO, bislang nicht. Um die Krise zu überwinden, reichen die
herkömmlichen Instrumentarien, die traditionellen Verfahren Politik zu machen,
nicht aus. Das gilt auch für Strategien, die nur nationalstaatlich oder sozial begrenzt sind.
Singuläre Zivilisationskrise heißt:
+ Sie ist global und trifft die ganze Menschheit, wenn auch zunächst sozial, zeitlich und
regional unterschiedlich und mit unterschiedlicher Intensität;
+ ihre Destruktivkraft nimmt bis auf Weiteres progressiv zu und ist gattungsbedrohend.
Auch in den frühen Hochkulturen wurde der Stoffwechsel zwischen Natur
und Gesellschaft gestört. Doch erst mit der kapitalistischen Produktionsweise und
der europäischen Eroberung der Welt kam es zu einer exponentiellen Beschleunigung
und Verstärkung dieser Entwicklung. Wie schon oft und ausführlich dargelegt, hat
die strukturell grenzenlose Dynamik der Kapitalakkumulation eine stoffliche Seite,
die sich in wachsendem Ressourcenverbrauch, Abfall und Emissionen äußert –
und sie hat vor allem eine energetische Basis: Sie ist und bleibt »fossilistischer
Kapitalismus« (Elmar Altvater). Insofern ist die Bezeichnung Zivilisationskrise aufs
Engste mit der Krise der kapitalistischen Produktionsweise verbunden. Aber da diese
heute in planetarischem Maßstab herrscht, bestimmt sie die zivilisatorischen Prozesse
und mithin auch deren Krise.
Das bedeutet auch, dass eine Priorisierung oder zeitliche Abfolge im Sinne von »erst
die Klimakrise lösen, dann sich um den Kapitalismus kümmern« – oder umgekehrt –
in der Praxis scheitert. Umweltkrise und Kapitalismus stellen eine Einheit dar.
2.2 Ist ein »grüner Kapitalismus« möglich?
Eine der entscheidenden Kontroversen in der Debatte um die ökologische
Krise dreht sich darum, ob ein grüner Kapitalismus möglich ist. Dessen Anhänger
sind überzeugt, durch eine Kombination aus marktwirtschaftlichen
Instrumenten, kohlenstoffarmer Energie, intelligenter makroökonomischer
Politik, einer (digitalen) Modernisierung der Infrastrukturen, neuen Recycling-
Techniken und einer Bepreisung und Kommodifizierung von bislang
nicht monetär bewerteten »Dienstleistungen der Natur« (richtiger: »free gifts
of nature«, so Karl Marx) könnte eine sozial-ökologische Wende eingeleitet
werden. Zusammen mit einer Beschleunigung technischen Fortschritts
und freiwilliger Veränderungen im privaten Konsumverhalten soll dieser
Instrumentenmix die Wirtschaft durch öffentliche Nachfrage stimulieren
und Arbeitsplätze in den sogenannten Umweltindustrien sowie im Bereich
der (freilich nicht C02-freien, wohl aber C02-ärmeren) öffentlichen Dienstleistungen
schaffen. Im »Industriestandort Deutschland« besteht auch die Erwartung,
damit einen internationalen Wettbewerbsvorteil durch Technologieführerschaft
erzielen zu können, insbesondere bei der Wasserstofftechnologie sowie
beim Einsatz von Industrierobotern.
Etwas verkürzt lautet die Zauberformel des grünen Kapitalismus, dessen
Anhänger sich je nach parteipolitischer Couleur auf »grünes« oder »qualitatives«
Wachstum berufen: Da die unheilige Allianz von Profitmaximierung und
Konsumsteigerung ohne konfliktträchtige Eingriffe in die Eigentumsrechte
nicht aufgebrochen werden kann oder nicht aufgebrochen werden
soll, müssen unbedingt Win-win-Konstellationen angestrebt werden.
Einheimische Unternehmen (allen voran die Automobilindustrie und ihre
Zulieferer), von denen der »Wohlstand der Nation« bislang in erheblichem
Maße abhing, sollen auch in Zukunft die Quellen von Profit, Arbeitseinkommen,
Steuereinnahmen und Konsumfreude sein.
Allerdings ist die Diskussion auf wenige Branchen oder Technologien
verengt. Doch alle großen Sektoren der kapitalistischen Volkswirtschaft sind
klima- und umweltrelevant: Rohstoffgewinnung, Landwirtschaft, Bau, Produktion,
Handel, Dienstleistungen und der Finanzsektor. Auch vermeintlich
immaterielle Prozesse wie die Internetkommunikation tragen erheblich zur
Umweltzerstörung bei, da sie große Mengen Rohstoffe benötigen und sowohl
bei der Herstellung ihrer »hardware« als auch beim Betrieb einen erheblichen
Energiebedarf erzeugen, der aus heimischen erneuerbaren Quellen
nicht gedeckt werden kann. So frisst z.B. allein das Blockchain-Verfahren der
privaten Digitalwährungen so viel Strom wie ein mittelgroßes Industrieland.
Auffällig ist zudem, dass die scheinbar parteiübergreifende Bereitschaft
zu einer »grünen Wende« systemische Zwänge ausblendet, die die Hoffnung
auf »grünes Wachstum« infrage stellen. Ganz zu schweigen davon, dass
Umfang und Zeitrahmen der avisierten Maßnahmen der doppelten Herausforderung
von Umwelt- und Klimaschutz nicht gerecht werden:
+ Auf der Ebene der technologischen Entwicklungen sind dies die verschiedenen
Re-bound- und Back-fire-Effekte. Hinzu kommt, dass der technologische Fortschritt
um vieles schneller ablaufen müsste als dies in der Vergangenheit geschehen ist.
Besonders riskant aber sind bei allen technischen Lösungen die nicht-intendierten
Folgen und die vielfältigen Trade-offs – also Zielkonflikte zwischen sich einander
ausschließenden Ansätzen, die nur durch politische Entscheidungen gelöst werden
können. Zu diesen Trade-offs gehören u.a. der im Vergleich zu fossilen Energieträgern
ungleich niedrigere »energy return on energy invested« von erneuerbarer Energie,
aber ebenso der erhöhte Verbrauch an metallischen Rohstoffen und zum Teil auch
an Wasser, der für kohlenstoffarme Energie- und Wärmeerzeugung, für Mobilität
und Produktionsprozesse aufzubringen wäre. Hinzu kommt, dass »grüne« Energieträger
im Wettbewerb mit »braunen« strukturell insofern unterlegen sind, als die Infrastrukturen
für Letztere bereits existieren, für die »grünen« Hoffnungsträger aber erst kostenträchtig
errichtet werden müssen. Allerdings folgt daraus keine grundsätzliche Weigerung,
auch (neue) Technologien im Kampf um eine sozial-ökologische Transformation
zu nutzen. Nötig ist allerdings eine öffentliche Diskussion, die alle Zielkonflikte und
zumindest die absehbaren »nicht-intendierten Nebeneffekte« der Entwicklung und
des Einsatzes neuer Technologien einbezieht, sodass politisch darüber entschieden
werden kann, welche Technologien gesellschaftlich erwünscht sind und welche nicht.
+ Auch auf den Märkten herrschen systemische Zwänge, die in einem grü-
nen Kapitalismus nicht überwunden werden können: Es gibt die ungebrochene
Dominanz der großen Energieunternehmen und der von diesen
abhängigen Industrieunternehmen. Kosten, die diesen durch eine »grüne
Wende« entstehen, lassen sich leicht »externalisieren«, etwa durch eine
Verlagerung der Produktion. Daher müsste nicht nur der sogenannte Ökostrom
weit schneller ausgebaut werden als bislang geplant, es müssten schon aus rein
wirtschaftlichen Gründen zugleich alle Kohlekraftwerke abgeschaltet und der Export
von (subventionierter) Kohlefördertechnologie (aus Deutschland und aus Frankreich)
gestoppt werden. Zudem ist auch weiterhin damit zu rechnen, dass es im Rahmen
des ZertifikateHandels mit Emissionsrechten wieder zu »windfall profits«, d.h. zu
Mitnahmeeffekten für die Verschmutzer kommt.
+ Die Finanzmärkte erzeugen einen hohen Druck auf das realwirtschaftliche Kapital,
einen akzeptablen Profit zu generieren. Das geht nur durch eine Ausweitung der
Produktion – egal welcher Güter. Zudem erzwingen die unregulierten Finanzmärkte
eine Orientierung an kurzfristiger Profitabilität. Auch sind sie in aller Regel risikoscheu
und bevorzugen den langsamen Wandel; sie werden daher eine entscheidende Bremserrolle
bei der ökologischen Restrukturierung der Volkswirtschaften spielen und auch den
Ausbau arbeitsintensiver Dienstleistungen behindern. Bescheidene Ansätze, die
Finanzierung von fossilen Rohstoffen zurückzufahren, gibt es zwar. Doch nichts
spricht dafür, dass gerade von den Finanzmärkten eine grundsätzliche Wende zu
erwarten wäre. Hinzu kommt das Problem, dass die Regierungen in aller Welt
budgetären Zwängen unterworfen sind und daher entweder nicht bereit oder nicht
in der Lage sind, einen ökonomisch hinreichend großen Stimulus im Sinne des
geforderten Green Deal zu erzeugen.
2.3 Systemische Grenzen des Kapitalismus
Als letztlich entscheidendes Hindernis für einen grünen Kapitalismus aber
dürften sich die systemischen Grenzen des Kapitalismus erweisen: der Zwang
zur Akkumulation, das Einsaugen von immer mehr lebendiger Arbeitskraft
und – aufgrund wachsender Produktivität – die Erzeugung von immer größerem
Output. Die Akkumulation von Kapital muss sich notwendig vergrößern.
Wächst die Wirtschaft nicht, wird dies als Rezession und Krise wahrgenommen
und es werden entsprechende Maßnahmen zur Stimulation des Wachstums ergriffen.
Es ist daher nur konsequent, wenn Ursula von der Leyen in Davos die Spitzen des
globalen Kapitalismus beruhigt: »Der europäische Green Deal ist unsere neue
Wachstumsstrategie.« (Europäische Kommission 2020)
Außerdem sind alle ökonomischen Akteure gezwungen, die Kosten der
Konkurrenten zu unterbieten oder aber neue Märkte zu erobern – und dies
geschieht in der Regel durch mehr und nicht weniger physische Produktion
und den darauf folgenden Konsum. Andere Wohlfahrtsparameter werden
zwar seit vielen Jahren diskutiert, sind aber bislang nicht durchsetzungsfähig.
Daher lässt sich mit einem grünen Kapitalismus bestenfalls noch ein wenig
Zeit gewinnen – gesetzt den Fall, dass die Wende tatsächlich sehr schnell
(und nicht erst in den 2030er Jahren!) eingeleitet wird.
Die Erfahrungen mit der Umwelt- und Klimapolitik in der EU stimmen nicht gerade
optimistisch. Zwar sehen wir gegenwärtig einen breiten Konsens, der von Industrieverbänden
über alle Parteien (mit Ausnahme der Hardcore-Leugner des Klimawandels) bis zu
Greenpeace und Greta Thunberg, vom US-Präsidenten über die EU bis zur KP
Chinas reicht, zur Jahrhundertmitte Klimaneutralität zu erreichen, ohne auf neueste
Technologie, boomende Industrie, nachhaltigen Verkehr und ebensolches Wohnen
zu verzichten – alles ganz ohne fossile Brennstoffe! Doch kaum jemand spricht über den
exorbitant steigenden Rohstoffeinsatz, den all dies erfordert, und über die
riesigen Mengen an erneuerbarer Energie, die dafür nötig wären. Dabei ist
vor allem ein Thema tabu: Solange Natur, Arbeit und Geld dem Marktmechanismus
nicht entzogen werden, bleiben die auf Akkumulation gepolten Kräfte des Kapitalismus
intakt, und damit auch die fortschreitende Inwertsetzung und Zerstörung der
»Geschenke der Natur«, von denen Marx sprach.
Veränderungen im Lebensstil der »fliegenden« und anderweitig massiv CO2-emittierenden
und »flächenaufzehrenden« Klassen, zu denen in den reichen Industrieländern auch
große Teile der Arbeiterschaft und noch größere Teile der für Nachhaltigkeit
streitenden Zivilgesellschaft gehören, bleiben widerrufbar – sofern es sich dabei
um freiwillige individuelle Entscheidungen handelt. Auch weisen zahlreiche
Praktiken einer nachhaltiger Lebensweise, beispielsweise die vegane Ernährungspraxis,
ebenfalls Trade-offs auf: Wenn Kuhmilch in großem Stil durch Milch auf der Basis
von Mandeln, Soja, Kokos oder Hafer ersetzt wird, so hat auch dies unerwünschte
»Nebeneffekte«, etwa das Bienensterben auf kalifornischen Mandelplantagen,
die Rodung von Urwäldern in Indonesien und Brasilien für den Anbau von Kokospalmen
und Soja oder den enormen Flächenbedarf für den Anbau von Hafer in europäischen Breiten.
Um eine tatsächlich nachhaltige Lebensweise in den reichen Industrieländern
zu realisieren, wäre bis Mitte des Jahrhunderts dort eine Rückführung des Ressourcen-,
Flächen- und Energieverbrauchs pro Kopf der Bevölkerung auf das Niveau der 1970er
und danach auf das der 1960er und 1950er Jahre notwendig. Das aber lässt sich
als individuell zu verantwortende Lebensstiländerung nicht bewerkstelligen, sondern
erfordert massive regulative Eingriffe und ja, auch Planung und Verbote. Es
ist schwer vorstellbar, wie derartige Maßnahmen durchgesetzt werden könnten –
wo wir doch gerade erleben, dass bereits eine mehrmonatige Einschränkung von
individuellen Freiheitsrechten im Rahmen der Pandemiebekämpfung auf den
erbitterten Widerstand vieler Menschen stößt.
2.4 Gesellschaftliche Planung
Ohne einschneidende Eingriffe in den Marktmechanismus, das heißt, die
Steuerung von Angebot und Nachfrage einzig über den Preis und insbesondere
in den strategischen Schlüsselbereichen der Wirtschaft, kann eine sozial-ökologische
Transformation nicht gelingen. Unumgänglich sind gesamtgesellschaftliche
Steuerung und Planung, bei denen demokratische Prozesse von unten und
demokratisch legitimierte Entscheidungen von oben miteinander verzahnt werden.
Die nüchterne Wahrheit ist, dass die kapitalistische Produktionsweise
trotz ihrer Erfolge nun ein Stadium erreicht hat, in dem sie das Leben vieler
Menschen nicht mehr erhält und verbessert, sondern zerstört. Daher stellt ein
Kampf gegen Klima- und Umweltkatastrophen, der deren inneren Zusammenhang
mit der kapitalistischen Form der Reichtumserzeugung meint ausblenden zu können,
eine Reduktion von Komplexität dar, an der ein solcher Kampf notwendigerweise
scheitern muss. Es wäre schön, wenn die Dinge einfacher lägen, aber wer vom Klima
redet, kann vom Kapitalismus nicht schweigen. Aufgabe kritischer Gesellschaftsanalyse
ist es, diese Zusammenhänge sichtbar zu machen und für die gesellschaftlichen Debatten
zu popularisieren. Gefragt ist eine politische Ökonomie einer sozial-ökologischen
Transformation, die zugleich auf die Überwindung des Kapitalismus zielt.
3. Klima, Krieg und die Transformation des internationalen Systems
Es ist eine triviale Feststellung, dass die ökologische Krise nur durch internationale
Kooperation zu bewältigen ist. Gegenwärtig aber geht der Trend in
die entgegengesetzte Richtung. Geopolitische Rivalität, Sanktionspolitiken,
Konfrontation und Konflikte nehmen zu und führen zu systemischer Instabilität in der
internationalen Ordnung. Ein neuer Kalter Krieg bahnt sich an, und selbst die Brisanz
der Atomkriegsgefahr, die in den letzten Jahrzehnten unter Kontrolle schien, hat
wieder zugenommen. Auch hier hat Corona nichts zum Positiven verändert. Im Gegenteil,
trotz der Anrufung der Menschheit als kosmopolitisches Wir, das angesichts einer globalen
Gefahr doch zusammenstehen müsse, geriet das Thema von Anfang an in die Mühlen
geopolitischer Rivalitäten und eines knallharten Propagandakrieges. Nachdem
anfangs mit dem üblichen amerikano- und eurozentristischen Dünkel auf China
herabgesehen worden war, kamen schnell Missgunst, Neid und Aggressivität auf,
als die Menschen in New York und der Lombardei wie die Fliegen starben. Dass dann
China im Sommer 2020 fast zur Normalität zurückkehrte und anders als die
Konkurrenz noch Wachstum verzeichnete und gar Russland mit Sputnik V einen
wirksamen und kostengünstigen Impfstoff in zahlreiche Länder des Globalen Südens
exportieren konnte, ist symbolträchtiger Ausdruck für die sich anbahnende neue Welt.
Es ist eine schwere Kränkung für das kollektive Selbstverständnis des Westens und
sein seit 500 Jahren eingeübtes Überlegenheitsdenken.
Angetrieben wird diese Entwicklung von der Transformation des internationalen Systems.
Bis in die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts dominierten die USA als Hegemonialmacht
im imperialen Kapitalismus. Zwar werden sie weiterhin militärisch, ökonomisch und
politisch eine Supermacht bleiben. Aber mit dem Aufstieg Chinas (und mittelfristig
wohl auch Indiens) und der Renaissance Russlands als Großmacht gehört ihre
Monopolstellung der Vergangenheit an. Auch die EU formuliert Ambitionen auf eine
Weltmachtrolle, wobei allerdings fraglich ist, wie realistisch die Aussichten dafür sind
(s.u.). Machtpolitisch in der zweiten Reihe stehen Länder, die als Regionalmächte
agieren, so z.B. die Türkei, Saudi Arabien, der Iran, oder neuerdings auch
Großbritannien, das glaubt, als »Global Britain« eine weltpolitische Rolle spielen zu
können. London plant dazu, die Zahl seiner Atomsprengköpfe von 160 auf 280 zu
erhöhen. Diese neue Weltordnung ist ungleich komplexer und zugleich instabiler als
das bipolare System des Kalten Krieges oder die kurze Ära unipolarer US-Hegemonie.
Eigentlich läge in diesem Umbruch auch eine Chance zu einer gewissen Demokratisierung
des internationalen Systems. Andererseits waren Aufund Abstiegsprozesse im
internationalen System aber immer auch besonders gefährliche Zeiten. Die
Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs ist dafür exemplarisch. Die alten Führungsmächte
verteidigen ihre Position mit Zähnen und Klauen. Die US-Außenpolitik wird davon
schon seit Obamas Präsidentschaft geprägt. Die Biden-Administration setzt diesen
Kurs planvoller und entschlossener durch als ihre Vorgänger. Die Aufsteiger wollen sich
dagegen der etablierten Macht nicht länger unterwerfen. Es entstehen neue
Allianzen, die sich aber auch wieder schnell verändern können. Reibungsflächen
und Konflikte nehmen zu, die internationalen Beziehungen werden spannungsgeladen,
konfrontativ und unberechenbarer.
Auch die ökonomische Seite der Globalisierung ist insofern davon betroffen, als es
in einigen Sektoren zu einer geopolitisch motivierten Deglobalisierung kommt. Wie
die US-Sanktionen gegen Huawei und andere High-Tech-Konzerne Chinas zeigen,
entsteht eine Spaltung im Technologiebereich. Gleichzeitig wird eine Umgruppierung
der Lieferketten angestrebt. Sowohl die USA als auch China wollen erklärtermaßen
die Verwundbarkeit ihrer Volkswirtschaften verringern. China und Russland arbeiten an
einer Abkopplung vom Dollar als Weltwährung und entwickeln Alternativen zu globalen
Infrastrukturen wie z.B. dem elektronischen Informationssystem des Finanzsektors SWIFT.
Es geht also nicht nur um eine Neujustierung militärischer Macht und bekannter
Einflusszonen. Es werden Rohstoffe für neue Technologien und Agrarflächen benötigt;
es finden Konflikte um die Freiheit der Meere und Rohstoffe auf dem Meeresboden
statt. Der Weltraum hat an Bedeutung gewonnen, weil die Kontrolle über die dort
stationierten Kommunikationsund Überwachungssatelliten für die ökonomische,
politische und militärische Überlegenheit notwendig ist. Absehbar ist auch Weltraumbergbau
und Konflikte um Rohstoffabbau auf Mond und Mars – mit unübersehbaren ökologischen
Folgen für das Ökosystem Erde durch eine industrielle Raumfahrt und die Zufuhr von
extraterrestrischen Rohstoffen.
3.1 Neue Brisanz der Atomkriegsgefahr
Die einseitige Kündigung der Rüstungskontrollverträge (ABM = Anti-Ballistic Missile.
Der Vertrag verbietet Abwehrsysteme gegen Atomraketen, weil damit die Zweitschlagskapazität
neutralisiert werden kann. INF = Intermediate Range Nuclear Forces (Mittelstreckenraketen
und Cruise Missiles). Der Vertrag verbietet die landgestützte Stationierung in Europa. New Start
= (Strategic Arms Reduction Treaty), begrenzt Zahl der Langstreckenraketen und Sprengköpfe.
Treaty on Open Skies = Vertrauensbildende Maßnahme; erlaubt vereinbarte Aufklärungsflüge
über dem Territorium Russlands und von NATO-Ländern.) zuerst des ABMVertrags durch
die Bush-Administration 2002, die Kündigung des INF-Vertrags und des Open Skies-
Abkommens durch die Trump-Administration 2019 schaffen im Verein mit
technologischen Innovationen – militärischer Einsatz von Künstlicher Intelligenz,
Militarisierung des Weltraums, Hyperschallträ- gersysteme u.a. – eine explosive
Situation. Es entsteht das Risiko, dass das strategische Gleichgewicht, d.h. die
Fähigkeit, auch nach einem atomaren Angriff mit einem Zweitschlag den Gegner
noch vernichten zu können, an einen Kipppunkt geraten könnte. So abstrus und prekär
dieses Gleichgewicht einerseits ist – mehrfach stand die Welt durch Krisen oder technische
Pannen vor dem Abgrund –, hat es auf der anderen Seite durch den gesamten Kalten
Krieg hindurch einen Krieg zwischen den Nuklearmächten verhindert.
Ein Ende des Gleichgewichts würde die Atomkriegsgefahr drastisch erhöhen. Die
Erfahrung mit Trump führt das Risiko vor Augen, was es bedeuten könnte, wenn
ein unberechenbarer Psychopath mit Überlegenheitsfantasien über den Roten
Knopf verfügt. Neben der Klimaerwärmung wird der Nukleare Winter wieder zur
akuten Gefahr. Selbst ein regionaler Atomkrieg würde mit seinen Auswirkungen
auf Klima, Umwelt, Landwirtschaft, Ernährung usw. in wenigen Monaten eine planetarische
Katastrophe hervorrufen. Bei einem Atomkrieg in der nördlichen Hemisphäre
könnte die globale Durchschnittstemperatur für mindestens zehn Jahre sogar um
sechs bis acht Grad sinken. Zum Vergleich: In der letzten Eiszeit lag die tiefste
Temperatur um fünf Grad unter der im 20. Jahrhundert.
Immerhin hat die neue US-Administration das russische Angebot zur Verlängerung
des New Start-Abkommens, das im Februar 2021 abgelaufen wäre, angenommen.
Allerdings reicht das nicht einmal aus, um wenigstens wieder auf das Stabilitätsniveau
der atomaren Rüstungskontrolle von 1990 zu kommen. Neue Verhandlungen und neue
Abkommen sind dringend notwendig, schon allein um den Ausbruch eines Krieges
durch Irrtum oder technisches Versagen auszuschließen.
Zumal sich auch bei der konventionellen Rüstung durch neue Technologien neuartige
Risiken ergeben. Vor allem die Digitalisierung führt zur Beschleunigung in allen militärischen
Bereichen. Der Trend geht zur Automatisierung aller Abläufe. Technisch möglich sind
vollkommen autonome Systeme und Killerroboter. Schon schlägt das US Air Force
Institute of Technology ein automatisiertes strategisches System auf der Basis von Künstlicher
Intelligenz vor. Damit würden die Vorwarnzeiten bei einem nuklearen Angriff, die schon
jetzt nur 30 bis 45 Minuten betragen, auf unter zehn Minuten schrumpfen. Auch Innovationen,
wie Hyperschall-Trägersysteme, die in den USA, China und Russland entwickelt werden,
haben das Potenzial, das strategische Gleichgewicht zu verschieben. Zudem nimmt
die Militarisierung des Weltraums eine neue Qualität an. So hat Trump die US-
Weltraumstreitmacht neben Army, Navy und Air Force zur eigenen Waffengattung
erhoben. Hinzu kommen Cyberattacken auf kritische Infrastrukturen,
auf öffentliche Diskussionsforen und Institutionen (wie Verwaltungsvorgänge,
Personaldaten, Wahlprozesse, Forschungseinrichtungen), nicht zu vergessen die
völkerrechtswidrige Drohnenkriegführung der USA im »Krieg gegen den Terror«. All das
führt dazu, dass die Grenzen zwischen konventioneller Kriegführung, Aufstandsbekämpfung
und Mord verschwimmen.
3.2 Nicht nur die Hardware
Neue Sicherheitsrisiken entstehen nicht nur aus den Veränderungen bei der
militärischen Hardware. Eine fundamentale Rolle in konfliktiven Beziehungen
spielen immer Vertrauen bzw. Misstrauen. Weil man dem Rivalen und Gegner
alles Bösartige zutraut, erzeugt man bei sich selbst ein entsprechend
großes Sicherheitsbedürfnis – und das geschieht spiegelbildlich auch auf der
Gegenseite. Militärisches Denken ist daher immer von Worst-Case-Szenarien geprägt.
Die Ungewissheit auf beiden Seiten steigt. Diplomatie und andere Formen der
zwischenstaatlichen Kommunikation verlieren an Wert. Sicherheit schrumpft auf
militärische Sicherheit zusammen. Es kommt eine Spirale in Gang, in der sich die
verschiedenen Seiten immer weiter hochschaukeln. Das schlägt sich irgendwann
dann auch in entsprechenden Militärdoktrinen nieder. Beispielsweise gehört ein
atomarer Erstschlag bisher nicht zur Militärdoktrin des Kreml. Sollte sich aber das
strategische Gleichgewicht zuungunsten Russlands verschlechtern, könnte sich das ändern.
In diesen Kontext gehört auch die Produktion von Feindbildern und das
dazu passende Selbstbild. Der potenzielle Feind wird in düstersten Farben
dargestellt, während das eigene Lager als der lichte Hort edler Werte
beweihräuchert wird. Solche manichäischen und moralinsauren Weltbilder
können dann bei Verschärfung eines Konflikts abgerufen werden, um die
Massenloyalität im eigenen Lager zu sichern. Der Missbrauch von Auschwitz zur
Rechtfertigung des völkerrechtswidrigen NATO-Kriegs 1999 gegen Jugoslawien
durch den damaligen Außenminister Joschka Fischer ist ein Beispiel aus der jüngeren
Geschichte. Auch Joe Biden nutzt diese Methode, wenn er, wie bei der (virtuellen)
Münchener Sicherheitskonferenz 2021, seine Konfrontationspolitik gegenüber
China und Russland mit einer Schwarz-Weiß-Konstruktion vom weltweiten Kampf
zwischen Demokratie und Autokratie legitimiert. Der britische Premier Johnson bringt
das dann auf die Formel, Großbritannien müsse »seine historische Mission erfüllen,
eine Kraft des Guten zu sein« (FAZ, 17.3.2021), während Biden sich nicht
scheut, den russischen Staatschef als Killer zu bezeichnen. Ganz so primitiv
ist die Rhetorik der Bundesregierung und der EU nicht. Bei ihnen ist dann
eher von »wertebasierter Außenpolitik« die Rede. In der Sache geht es aber
ebenfalls um die Konstruktion eines Feindes und der eigenen Überlegenheit.
3.3 Die Rolle der EU
Auch die EU, die sich bisher im Windschatten der US-Hegemonie bewegte, ist von
dem Umbruch massiv betroffen. Die Antwort, die die herrschenden Klassen darauf
formuliert haben, ist der Rückgriff auf überkommene Konzepte, nämlich der Versuch,
selbst Weltmacht zu werden, inklusive des Aufbaus militärischer Kapazitäten für
den weltweiten Einsatz. Ursula von der Leyen spricht von einer »geopolitischen
Kommission«, der sie vorsteht und meint, die »Sprache der Macht lernen« zu müssen.
Da in der Ära Trump die Erosion in den transatlantischen Beziehungen ein spektakulärer
Teil des geopolitischen Wandels war, führte das zur Diskussion um »strategische
Autonomie« der EU, und es wurden Maßnahmen zur Militarisierung der EU-Außenpolitik
eingeleitet. Darunter sind milliardenschwere Rüstungsprojekte, wie ein Kampflugzeug
oder ein neuer Panzer. Vor allem die deutsche und die französische Rüstungsindustrie
werden von den Projekten profitieren. Die Globalstrategie der Biden-Administration
sieht für die EU wieder stärker die Rolle eines Juniorpartners vor, was die Bestrebungen
nach strategischer Autonomie wohl wieder etwas dämpfen dürfte. So will
Biden eine Arbeits- und Lastenteilung: Strategisch sollen die europäischen
NATO-Mitglieder vor allem noch schärfer gegen Russland in Stellung gebracht werden,
während die USA primär die Konfrontation mit China anführen. Gleichzeitig bedeutet
dies, dass auch die finanziellen Lasten für die Militarisierung steigen.
Ungeachtet der Frage, ob die Sehnsucht der EU nach Großmachtstatus
überhaupt eine realistische Perspektive hat, kann man schon jetzt konstatieren,
dass damit auf keinen Fall ein Beitrag zur Lösung internationaler Konflikte geleistet
wird. Im Gegenteil, Großmachtgehabe verschärft Spannungen und blockiert Kooperation.
Gleichzeitig absorbieren die internationalen Spannungen einen großen
Teil der Problemlösungskapazitäten der Politik und die Aufmerksamkeit der
Öffentlichkeit und relativieren so die großen Herausforderungen von Klima- und
Umweltschutz, Gerechtigkeit und Demokratie. Außerdem führt es
zu einer weltpolitischen Marginalisierung all jener Regionen, die nicht in
der Lage sind, sich an den globalen Hegemonialauseinandersetzungen zu
beteiligen. Besonders drastisch wird dies an Subsahara-Afrika sichtbar, das
auf der internationalen Agenda kaum eine Rolle spielt.
3.4 Herausforderungen an emanzipatorischen Internationalismus
Die Transformation des internationalen Systems zwingt dazu, sich in der
neuen Welt-Un-Ordnung orientieren und verhalten zu können. Im Gegensatz
zur relativen Übersichtlichkeit im bipolaren System des Kalten Krieges ist
die Situation weitaus komplexer. Sie stellt erhöhte Anforderungen an Analyse
und Strategie. Mit einfachen Maximen kommt man nicht mehr weit.
Sich prinzipiell und dauerhaft auf die eine oder andere Seite zu schlagen,
wie dies im Kalten Krieg üblich war, ist genauso problematisch geworden.
Aber auch Äquidistanz ist keine Lösung. Damit entzieht man sich der konkreten
Analyse von Ursachen, Wirkungen und Wechselwirkungen, Kräfteverhältnissen,
ungewöhnlichen Interessenskonfigurationen etc. und verschanzt sich stattdessen
hinter einem abstrakten Prinzip. Die gegenwärtige Verschärfung der Spannungen
in den internationalen Beziehungen geht aber eindeutig von den USA und ihren
Verbündeten aus. Wenn man das verkennt, vergibt man Eingriffsfähigkeit in die
konkreten Auseinandersetzungen, gibt sich als eigenständiger Akteur auf und ist
nur noch unbeteiligter Zaungast bei existenziellen Konflikten unserer Zeit.
Besonders schwierig für eine progressive Außenpolitik ist dabei das Spannungs-
verhältnis zwischen emanzipatorischen Wertvorstellungen wie Menschenrechten
und Demokratie auf der einen Seite und auf der anderen Seite Frieden, Kooperation,
Völkerrechtsprinzipien wie Souveränität, Nichteinmischung in die inneren Verhältnisse
anderer Länder und Multilateralismus.
Das betrifft auch die Klimabewegung. Hier liegen ungelöste Fragen, wenn nicht
sogar Dilemmata. Dennoch führt kein Weg daran vorbei, sich mit ihnen
auseinanderzusetzen (siehe ausführlicher dazu den Beitrag »Krieg und Frieden
in der multipolaren Welt-Un-ordnung« von Peter Wahl in diesem Band).
Fazit: Der Kampf gegen die Klima- und Umweltkatastrophen ist nicht zu trennen
von den Problemen von Konflikt, Krieg, Militär und der Dynamik des internationalen
Systems. Eine realistische Umweltpolitik kommt nicht darum herum, für Kooperation,
Multilateralismus, Entspannung, Rüstungskontrolle und Abrüstung einzutreten.
Dies erhöht die Komplexität einer angemessenen Strategie um eine weitere Dimension.
Aber die Zeit einfacher Lösungen, so es sie denn je gab, ist vorbei.
4. Krise der Demokratie
Die politischen Umbrüche in vielen OECD-Staaten seit der Finanzkrise 2008 – Aufstieg
rechter Parteien, Krise der Sozialdemokratie und zunehmend auch der Konservativen,
Stagnation der Linken – werden als Verfallserscheinungen einer Demokratie gedeutet,
die davor angeblich funktioniert habe. Tatsächlich aber wird die Krise der Demokratie
schon seit Johannes Agnolis und Peter Brückners Schlüsselwerk über die »Transformation
der Demokratie« diskutiert (Agnoli/Brückner 1968). Prägend für die Diagnose
einer erneuten Krise der Demokratie wurde der Begriff der Postdemokratie von
Jacques Rancière (1995) und dann von Colin Crouch (Crouch 2008). Doch es handelt
sich nicht um einen linearen Verfallsprozess, sondern eher um unterschiedliche
Krisen in verschiedenen Konjunkturen der kapitalistischen Entwicklung.
Nach der Jahrhundertwende hat sich offenbar wieder etwas verschoben. Die Linke
versucht, diese Verschiebungen mit Begriffen aus früheren Phasen zu erfassen,
von autoritärem Etatismus, autoritärem Staat oder auch Faschismus ist die Rede.
Allerdings unterscheiden sich die heutigen Formen der Staatlichkeit von früheren.
Die autoritären, kapitalistischen Staaten der fordistischen Periode (vom Franco-
Regime über Pinochet bis Marcos) gleichen dem gegenwärtigen Nationalchauvinismus
von den USA über Orbán bis Modi kaum.
4.1 Repressive Toleranz im Rechtsstaat
Zu konstatieren ist, dass Polizeien seit den 1970er Jahren umfassend aufgerüstet und
miteinander verzahnt wurden. Vielfach wurden sie beinahe militärisch ausgerüstet und
diese Ausrüstung wird auch bei friedlichen Demonstrationen eingesetzt. Das polizeiliche
Ausspionieren von Bürgern, Überwachung des öffentlichen Raums und prädiktives
polizeiliches Handeln nehmen zu. Die informationelle Aufrüstung, die materiellen
Strafverschärfungen wurden mal mit der organisierten Kriminalität, mal mit der
Terrorbekämpfung begründet.
Gleichzeitig kam es auch zu Liberalisierungen im Bereich »leichterer« Straftaten
wie Diebstahl oder Körperverletzung und zu deutlichen Strafverschärfungen bei
sexistischen Übergriffen oder Gewalt. Die Sicherheitsverwahrung nahm in den
vergangenen Jahren zu und wurde vom Bundesverfassungsgericht abgesegnet,
das einstmals beschlossen hatte, dass lebenslange Haft gegen die Menschenwürde
verstößt. Daneben gab es - und das ist für den Rechtsstaat viel gefährlicher als
einzelne Verschärfungen - Tendenzen der Sicherheitsbehörden, sich über geltendes
Recht oder richterliche Urteile hinwegzusetzen, etwa bei dem Einsatz der Bundeswehr
beim G-8-Gipfel in Heiligendamm, der Kollaboration des Verfassungsschutzes mit dem
NSU und des BND mit der NSA.
Zusammenfassend könnte man von einer repressiven Toleranz sprechen, die das
herrschende Bild prägte.
Perspektive: Halbierter Rechtsstaat?
Verformungen des Rechtsstaates sind in vielen Staaten zu beobachten. Auch in
anderen Mitgliedstaaten der EU finden Angriffe auf die Gewaltenteilung statt.
Richter werden nach politischen Gesichtspunkten ausgewählt, politisch kontrolliert,
Gerichtsprozesse nach politischen Kriterien durchgeführt. Sehr weit ist die Entwicklung
in Polen und Ungarn fortgeschritten, aber fast alle osteuropäischen Staaten der
EU befinden sich in einem rechtsstaatlichen Abwärts. Die Datensammlung, die
automatische Gesichtserkennung, die Zusammenführung von Daten, die den
Sicherheitsbehörden auf der ganzen Welt zur Verfügung stehen, stellen die
klassischen Formen staatlicher Akten und Überwachung, wie perfide sie auch in
autoritären Staaten betrieben werden konnte (etwa durch die Stasi), weit in den
Schatten. Sie können damit zu Instrumenten für eine Verfolgung und Diskriminierung
werden, wie sie in der bisherigen Geschichte staatlicher Regierungstechnik unbekannt
waren.
Die Türkei unter Erdoğan hat sich zu einem autoritären Staat entwickelt, in dem Parteien,
Wahlen und Parlament mit Notstandsverwaltung, polizeilicher und justizieller Willkür und
massiver Einschränkung der Meinungsfreiheit einhergehen. Das Regime zeigt
Züge einer Präsidialdiktatur. So weit sind die Regime in Ungarn oder Polen bisher
nicht gegangen. Man kann dort dennoch von einem halbierten Rechtsstaat sprechen.
Orbán bezeichnet das System selbst als »illiberale Demokratie«. Den Kampf um die
Justiz führte auch Trump, indem er auf der Ebene der obersten Gerichtsinstanzen
gezielt konservative Richter einsetzt, um seine diskriminierende Politik gegenüber
ethnischen Gruppen fortsetzen zu können, etwa die Einreiseverbote für Menschen
aus muslimischen Ländern.
In allen europäischen Staaten konnten in den vergangenen Jahren nationalchauvinistische
Parteien beachtliche Erfolge verzeichnen (auch wenn sie – wie die FPÖ, der Front
National (Rassemblement National), die Lega mit ihrem Vorsitzenden Matteo Salvini, die
Freiheitspartei von Geert Wilders – durchaus Niederlagen erfahren haben und
nicht derart auf dem Durchmarsch sind, wie sie selbst behaupten). Es ist zu befürchten,
dass ein Gewöhnungseffekt eintritt und diese Parteien als Teil des demokratischen
Meinungsspektrums angesehen und als »regierungsfähig« anerkannt werden.
4.2 Zwischen marktkonformer Demokratie, autoritärer Wirtschaftsregierung
und gelenkter Demokratie
Demokratie ohne die »Unteren«
Die Demokratie des Fordismus war anders als die neoliberale Variante am
Kompromiss der Klassen orientiert. Das kontinuierliche Wirtschaftswachstum ermöglichte
die - natürlich nicht proportionale - Beteiligung der unteren Klassen am Wohlstand.
Damit wurde auch deren Zustimmung zum »sozialen Kapitalismus« erreicht. So hatten
Gewerkschaften einen vergleichsweise großen gesellschaftlichen und politischen Einfluss.
Der sozialstaatlichen Integration entsprachen eine politische Kooperation und gesellschaftliche
Teilhabe auch der unteren Klassen.
Mit dem Neoliberalismus wurde dieses Arrangement aufgekündigt. Der Herrschaftsmodus
wird umgestellt, die Spaltungen der Lohnabhängigen werden durch die zunehmend ungleiche
Entlohnung und Beschäftigungsverhältnisse vertieft. Demokratie wird zur Demokratie der
herrschenden Klassen und der Mittelklassen. Die Gewerkschaften verlieren durch
die Umstellung der Produktionsweise, durch neue Unternehmensstrategien, durch
Auslagerung, Finanzialisierung und das Vordringen des Dienstleistungssektors an
Einfluss. Tarifvertragsbindungen zu unterlaufen, Gewerkschaften und Betriebsräte
auszugrenzen oder Bemühungen, sie zu zerschlagen oder ihre Aktivitäten zu behindern,
sind verbreitete Praxis. Die »Großen« des Neoliberalismus, die »digitalen« Konzerne
wie Amazon sowieso, aber auch viele kleine Unternehmen der New Economy verweigern
die betriebliche Mitbestimmung. In Kauf genommen wurde, dass das untere Drittel der
Gesellschaft nicht mehr beteiligt wird, beispielsweise nicht mehr zur Wahl geht.
Damit wurde aber auch das Potenzial für eine Eruption geschaffen, die mit dem Aufstieg
der national-chauvinistischen Parteien stattfand.
Substanzverlust der Demokratie durch supranationale Einbindung
Gleichzeitig wird die Demokratie konstitutionell gegen Systemveränderungen abgeschottet,
indem nämlich mit den EU-Verträgen die neoliberale Marktwirtschaft Verfassungsrang erhält.
Die Demokratie verlor an Substanz, weil politische Richtungsänderungen kaum möglich
sind. Sie scheitern an den Vorgaben der Europäischen Union, in der ein Wettbewerbsstaat
institutionalisiert wurde. Die EU ist gekennzeichnet durch konstitutionell organisierte
strukturelle Zwänge, Unternehmenssteuern zu senken und Sozialausgaben zu kürzen,
bzw. über den Abbau der Sozialleistungen indirekt das Lohnniveau zu senken. Die
nationale Politik wird in ihren Entscheidungsspielräumen beschränkt, sie unterliegt
den rechtlichen Vorgaben der EU und den mittelbaren Sachzwängen, welche über die
EU implementiert wurden. Sie wird damit in weiten Bereichen zur Symbolpolitik,
wenngleich der Spielraum der Mitgliedstaaten unterschiedlich groß ist. Die starken
Staaten wie die BRD können ihre Politik über die EU auch den anderen bis zu einem
gewissen Maß verordnen. Das geschieht jedoch oft durch exekutivische Absprachen
neben den Verträgen oder durch die Dominanz der Regierungsvertreter im Rat der
EU. Am Ende lässt sich eine Machtverschiebung von der Legislative auf die Exekutive
konstatieren. Der Verlust an sozialer Integration der Gesellschaft wird ausgeglichen
zunächst durch die konstitutionelle Absicherung einer neoliberalen Ökonomie. Es
entstand eine marktkonforme Demokratie.
Auf die Finanz- und anschließende Währungskrise der Jahre 2008ff. reagierte die
EU mit einer autoritären Wirtschaftsregierung. Die Troika diktierte insbesondere
Griechenland große Teile der Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialpolitik, und zwar
neben den Verträgen der EU und nur auf der Grundlage von Kreditverträgen, die
durch zwischenstaatliche Abkommen geschaffen wurden. Darin war die Durchsetzung
der Austeritätspolitik vorgegeben. Die EU arbeitet auch auf anderen Wegen
daran, eine Kontrolle über die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten zu erlangen.
Das Europäische Semester ist ein wichtiger Baustein in diesem Bestreben.
Damit werden die Parlamente direkt und indirekt weiter entmachtet.Da inzwischen
verschiedene Spaltungslinien durch die EU laufen: Nord gegen Süd und Ost gegen
West, und weil Deutschland und Frankreich wegen unterschiedlicher Leistungsbilanzen
unterschiedliche Interessen haben, funktioniert die zentralisierte Kontrolle der
Haushaltspolitik jedoch nur begrenzt. Es gibt schlicht zu viele Interessenkonflikte,
als dass die EU noch wirklich funktionieren würde. Viele Entscheidungen fallen in informellen
Verhandlungen und auf administrativer Ebene.
Das gilt auch für die »Flüchtlingspolitik«, die vor allem als Abbau des
Rechtsstaates zu werten ist. Das universelle Asylrecht und das universelle
Recht auf Leben und Menschenwürde werden mit der Flüchtlingsabwehr
eingeschränkt und Todesopfer in Kauf genommen. Auch hier unterscheiden
sich aber die Staaten in der Rigorosität der Abwehr. Die Einigung über die
Formen der Flüchtlingspolitik wie z.B. der Deal mit der Türkei laufen neben
den Parlamenten und markieren so deren Entmachtung.
4.3 Green Deal oder illiberale Demokratie?
Die national-chauvinistischen Gruppierungen polarisieren die Gesellschaft,
sodass Kompromisse nicht mehr möglich sind und der politische Konkurrent
als Feind angesehen wird. Wenn Kompromisse und die Beteiligung der
Opposition an Entscheidungen ausbleiben und diese gleichzeitig im politischen
Wettbewerb diskriminiert wird, entwickelt sich das parlamentarische
System weit weg von dem bisherigen Bild parlamentarischer Systeme in
Europa. Man kann deshalb die Entwicklungen in den meisten der östlichen
Mitgliedstaaten der EU als gelenkte oder illiberale Demokratie bezeichnen
– Begriffe, mit denen die politischen Systeme in Russland bzw. Ungarn sich
selbst bezeichnet haben.
Trump verwendete auch das Mittel der Polarisierung und tendierte zur
Verweigerung von Kompromissen. Die Resistenzen des US-amerikanischen
Systems der »checks and balances« waren zwar größer als die der politischen
Institutionen in den jungen parlamentarischen Systemen des europäischen Ostens.
Doch machen die Erfahrungen mit Donald Trump deutlich, wie schnell auch in einer
etablierten parlamentarischen Demokratie die Verfassungsinstitutionen untergraben
werden können, wenn es entsprechende Bestrebungen mächtiger Gruppen gibt.
Wo der Nationalchauvinismus noch nicht in Regierungsämter aufgerückt ist, stellt
er doch die parlamentarischen Systeme vor neue Probleme, Mehrheiten jenseits
der überkommenen Lager oder Blöcke zu organisieren. Auf der einen Seite stehen
national-chauvinistische Gruppierungen mit ihrem Konzept des selektiven, aber
imperialen Protektionismus, das vergleichsweise scharfe Konturen angenommen
hat. Neoliberale und Konservative schwanken zwischen dem Bündnis mit dieser
Strömung (ÖVP/FPÖ-Regierung) und einem alternativen Weg über einen (Europe)
Green Deal.
Der ökologische Umbau des Kapitalismus skizziert einen Entwicklungsweg, der unter
Beibehaltung der kapitalistischen Marktherrschaft und rechtsstaatlichen und
parlamentarischen Institutionen den Weg in ein neues Akkumulationsregime eröffnen
könnte. Der Green Deal stellt somit die Alternative zum Umbau der staatlichen
Institutionen in Richtung halbierter Rechtsstaat und illiberale Demokratie innerhalb
des Kapitalismus dar. Aber dieser ökologische Umbau wird nicht ausreichen, um den
Klimawandel und die weitere Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen aufzuhalten.
»System Change« und ein linker Green New Deal, der die kapitalistischen Marktgesetze
nicht unangetastet lässt, wird zwar propagiert und findet Unterstützung, ist aber
wohl weit davon entfernt, als politisches Projekt mehrheitsfähig zu werden.
In pessimistischen Szenarien ist deshalb vorstellbar, dass Klimawandel
und Umweltzerstörung die Lebensbedingungen der Menschen so verändern,
dass ein unbarmherziger Kampf um Ressourcen zwischen den Staaten und
auch innerhalb der Staaten stattfindet. Beim Kampf um Wasser hat diese
Entwicklung schon begonnen. Nach außen haben sich einige Staaten – allen
voran die USA – schon auf den Weg der Entrechtlichung der zwischenstaatlichen
Beziehungen gemacht. Wenn sich in zehn Jahren herausstellt, dass
die Reduktions- und Umbauziele, die gegenwärtig gesetzt werden, nicht erreicht worden
sind, wächst die Versuchung, Probleme im Notstandsmodus bearbeiten zu wollen.
Ob in solch einer Situation Demokratie und Rechtsstaat im Inneren aufrecht zu
erhalten sind, erscheint ausgesprochen fraglich. Es besteht dann auch
die Gefahr, dass einige Gruppen auf brutale Repression zurückgreifen, um für
sich Privilegien und Ressourcen zu erhalten – Anzeichen sind erkennbar, aber bisher
ist das Dystopie. Schließlich kommt es auf die gesellschaftlichen Kämpfe an, die
bestimmen, wie mit der Umwelt umgegangen wird und Ressourcen verteilt werden.
5. Subjekte der Transformation
Die gesellschaftliche Linke verfügt zwar in vielen Bereichen über mehr oder
minder ausgearbeitete Zielvorstellungen und Programme, diskutiert aber
nicht mit der gleichen Intensität darüber, wie diese Ziele erreicht werden
können bzw. wer die Programme umsetzen kann. Die Träger gesellschaftlicher
Veränderungen und Fragen der Strategie und Taktik bleiben häufig
im Dunkeln – dies ist zumindest unser Eindruck hinsichtlich der Lage in Deutschland.
Über die Lage der emanzipatorischen Kräfte in anderen Ländern maßen wir uns hier kein Urteil an.
5.1 Klassenanalyse – ein alter Hut?
Klar ist, dass eine sozial-ökologische, die kapitalistische Produktionsweise überwindende
Transformation nur durch Massenbewegungen und organisierte politische Kräfte mit der
Unterstützung großer gesellschaftlicher Mehrheiten ins Werk gesetzt werden kann.
Um zu bestimmen, welche Schritte und welche Bündnisse dafür notwendig sind, ist eine
genaue Analyse der gesellschaftlichen Kräfte, der sozialen Gruppen, Klassen und
Klassenfraktionen, der zivilgesellschaftlichen Organisationen und politischen Parteien
notwendig, und zwar für jedes Land. Notwendig ist eine differenzierte Klassenanalyse,
die durch eine Analyse der Geschlechterverhältnisse, der Migrationsbewegungen
und der rassistischen Diskriminierung, der gesellschaftlichen Diskurse und der
sozialen Bewegungen ergänzt werden muss.
5.2 Die Linke und die Arbeiterklasse
Hier liegt eine zentrale Ursache für die seit Langem konstatierte Krise der
Linken. Während die Linke historisch ein Teil der Arbeiterbewegung war,
scheinen heute viele Akteure, die sich im weitesten Sinne als Teil der gesellschaftlichen
Linken verstehen, ein bemerkenswert äußerliches Verhältnis zu gesellschaftlicher
Arbeit und zur Arbeiterbewegung zu haben. In einigen Fällen gelten die Interessen
der Arbeiterklasse heute in der gesellschaftlichen Linken als Interessen einer
Gruppe unter anderen und die Gewerkschaften als eine soziale Bewegung unter
anderen, die man berücksichtigen muss.
Das Kapitalverhältnis wird nicht als spezifische Form eines Klassenverhältnisses
begriffen; an die Stelle der materialistischen Geschichtsauffassung
und der Klassentheorie als Ausbeutungstheorie tritt eine Vorstellung von
»Klassismus« als einer bloßen Diskriminierungsform unter anderen (siehe
dazu auch den Text von Fisahn/Wahl in diesem Band). Verkannt wird dabei,
dass es keinen Kapitalismus ohne Klassen gibt, dass Klassenverhältnisse,
Geschlechterverhältnisse und andere Herrschaftsverhältnisse im Kapitalismus hierarchisch
angeordnet sind und dass die Dynamik des Kapitalverhältnisses maßgeblich für den
Rang und Einfluss der anderen Herrschaftsverhältnisse ist. Der Klassenreduktionismus
in bestimmten Spielarten des traditionellen Marxismus wurde zwar zu Recht kritisiert,
doch wurde teilweise das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, indem die Klassentheorie
ganz fallen gelassen wurde.
Will man die soziale Lage der Arbeiterklasse heute ermitteln, müssen die - nicht zuletzt
im Zuge der Globalisierung – völlig veränderten Verhältnisse in der gesellschaftlichen
Produktion und Reproduktion gesehen werden. Forderungen nach allgemeiner
Arbeitszeitverkürzung oder nach der Einführung eines bedingungslosen
Grundeinkommens reagierten natürlich auf die durch fortschreitende Automatisierung
und Produktionsverlagerungen wachsende Massenarbeitslosigkeit und die
Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse. Aber diese Diskussionen blieben
weitgehend abgekoppelt von der betrieblichen Erfahrungswelt der Lohnabhängigen,
die sich der verschärften Weltmarktkonkurrenz ausgesetzt sehen und auf eine Kette
von Niederlagen und Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen in den letzten
Jahrzehnten zurückblicken.
Der Bezug zur Arbeiterbewegung muss allerdings in Rechnung stellen, dass die
Gewerkschaften in ihrer Mehrheit bis heute keine offensive Antwort auf die veränderten
Produktionsbedingungen gefunden, sondern vor allem mit »concession bargaining«
reagiert haben: Um Vereinbarungen zur Beschäftigungssicherung zu erreichen,
wurden zahlreiche Zugeständnisse bei den Löhnen und Arbeitsbedingungen gemacht.
Gleichzeitig wurden die Flächentarifverträge vonseiten der Unternehmen ausgehöhlt.
Die vielfältigen Spaltungen zwischen Kern- und Randbelegschaften haben sich
durch Outsourcing, die vertikale Desintegration von Unternehmen, die Auslagerung
und Abwertung von Dienstleistungen und die Ausdehnung der verschiedenen Formen
prekärer Beschäftigung vertieft.
5.3 Neue Klassenpolitik
Es bedurfte – absurd genug – erst des Aufstiegs der AfD in Deutschland, um die Linke
auf das Problem ihres gebrochenen Verhältnisses zu Arbeiterinnen und Arbeitern zu
stoßen. Es ist auch kein Zufall, dass Didier Eribons Buch »Rückkehr nach Reims«,
in dem es um dieses Verhältnis geht, 2016, d.h. sieben Jahre nach dem Erscheinen
der französischen Originalausgabe in Deutschland publiziert wurde. Dass ausgerechnet
Menschen, die sich selbst bei Nachwahlbefragungen als Arbeiter oder Arbeitslose
identifizieren, in den letzten Jahren überproportional zur AfD neigen, zeigt auch ein
Scheitern der gesellschaftlichen Linken an.
Die theoretischen Defizite der Linken werden in der Diskussion über die
neue Klassenpolitik deutlich. So werden sehr unterschiedliche Klassenbegriffe
verwendet und Begriffe wie Klasse, Schicht und Milieu werden munter durcheinandergeworfen
bzw. teilweise synonym verwendet. Dagegen kann eine Untersuchung der sozialen
Situation und der unterschiedlichen Gruppen der lohnabhängig Beschäftigten
Anhaltspunkte liefern, wo und wie die gesellschaftliche Linke den Bezug zur Arbeiterklasse
wiederherstellen kann. Das gelingt allerdings sicher nicht durch die bloße Beschwö-
rung alter Begrifflichkeiten, die dem Selbstbild der Angesprochenen nicht unbedingt
entsprechen. Erforderlich ist vielmehr die Organisation gemeinsamer Interessen, die
schon bei sozial homogenen Gruppen nicht automatisch entstehen und erst recht nicht
bei einer ausdifferenzierten Lage der abhängig Beschäftigten.
Oben wurde schon angedeutet, dass auch von »Menschheitsproblemen«
wie der ökologischen Krise nicht alle Menschen in der gleichen Weise betroffen sind.
Grob vereinfacht lässt sich sagen, dass das Klimachaos die Menschen in der
kapitalistischen Peripherie härter und früher trifft als in den kapitalistischen Zentren,
und dass es die beherrschten Klassen härter und früher trifft als die herrschenden
Klassen. Aber es geht nicht nur darum, die Opfer der herrschenden Politik konkreter
und differenzierter zu benennen, es geht auch darum, wer Interesse hat, was und
wie zu verändern. Relevante Teile der Lohnabhängigen in Deutschland haben z.B.
aus finanziellen Gründen kein Auto, oder unternehmen aus finanziellen Gründen keine
Flugreisen, während sie gleichzeitig aufgrund schlechter Wohnlagen besonders unter
Luftverschmutzung, Lärmbelastung, unter mangelnden Naherholungsgebieten, unter
unzulänglichen und teuren öffentlichen Verkehrsmitteln leiden.
Dabei muss man davon ausgehen, dass wir es mit einer Vielfalt von Widersprüchen
zu tun haben, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen, auch
wenn sie alle mit der kapitalistischen Produktionsweise zusammenhängen.
Dies ist auch für die Perspektive einer sozial-ökologischen Transformation
bzw. für emanzipatorische Politik generell relevant. Klimaforschung und die
Klimabewegung verweisen z.B. auf den hohen Zeitdruck, die globale Erwärmung
noch bei 1,5°C oder 2°C zu stoppen – in der Regel ist damit eine
Frist von wenigen Jahren gemeint. Doch viele Millionen Menschen in der
kapitalistischen Peripherie wissen nicht einmal, was sie heute essen sollen.
Und auch in Deutschland gibt es Millionen Menschen, die sich fragen, wie
sie mit dem Geld bis zum Monatsende auskommen sollen. Der Zeitdruck
und die Gründe für grundlegende Veränderungen stellen sich also für verschiedene
Subjekte sehr unterschiedlich dar. Dies muss jede Politik, die auf
eine Transformation der gegenwärtigen Verhältnisse zielt, berücksichtigen.
Auch das Verhältnis der Subjekte zur etablierten Politik – einschließlich der Politik
von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Attac – ist sehr unterschiedlich.
Eine Analyse der Aktiven von Attac würde z.B. ergeben, dass junge Menschen,
Frauen, Arbeiter und Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft stark
unterrepräsentiert sind. So könnte man die Organisationen der Linken oder
des progressiven Lagers der Zivilgesellschaft der Reihe nach durchgehen und
würde sicherlich fast überall auf ähnliche Konstellationen und Probleme stoßen.
Untersucht man den Diskurs und die Praxis dieser Organisationen, so wird man
feststellen, dass sie z.B. Arbeiter auch kaum als Subjekte ansprechen – allenfalls
beanspruchen sie, Politik für diese zu machen.
Etwas vereinfacht und polemisch zugespitzt könnte man vielleicht sagen,
dass die Politik großer Teile der Linken in Deutschland vor allem eine Politik eines
»(neuen) Kleinbürgertums« (Nicos Poulantzas) ist. Das gilt nicht
nur für ihre Träger und deren Habitus, sondern auch für ihre Ausrichtung:
Sie orientiert sich nicht an der Selbsttätigkeit des Proletariats, sondern am
Staat, der es richten soll; sie redet mehr von Umverteilung der Einkommen
als von der Aneignung der Produktionsmittel durch die Lohnabhängigen;
sie spricht nicht die Sprache der »einfachen Leute«; sie ist dort nicht prä-
sent, wo diese leben; sie verwischt die Unterschiede zwischen Kopf- und
Handarbeit, zwischen der Arbeit im privaten Sektor und in den Staatsapparaten usw.
Solange das so bleibt, haben die Rechten leichtes Spiel und die Linke wird die
notwendige sozial-ökologische Transformation nicht durchsetzen können.
6. Die gesellschaftliche Linke und die Krisen
Die gesellschaftliche Linke – nicht nur in Deutschland – diskutiert all diese
Veränderungen. Doch bislang hat sie Probleme, die Situation in ihrer ganzen
Tragweite zu verstehen und eine überzeugende Analyse der gesamtgesellschaftlichen
Entwicklungen vorzulegen (siehe auch den Beitrag »Die Linke – Subjekt der
Transformation?« in diesem Band). Denn Teil des allgemeinen Krisenzusammenhanges
ist, dass auch die Linke in vielen Ländern schon seit geraumer Zeit in der Krise steckt.
Noch immer ist sie damit beschäftigt, den Triumph der »neoliberalen Konterrevolution«
(Milton Friedman) sowie den Zusammenbruch des Staatssozialismus in Osteuropa zu
verdauen und sich in den daraus resultierenden ideologischen Labyrinthen zurechtzufinden.
Doch längst steht sie zugleich vor analytischen und strategischen Herausforderungen,
auf die sie bisher allen falls bruchstückartige Antworten hat. Dass all die anderen Kräfte
auch keine Antwort haben, kann dabei kein Trost sein.
6.1 Renaissance der Massen als geschichtsmächtige Kraft
Dabei gibt es einen regelrechten Tsunami an Protestbewegungen, Revolten
und Eruptionen des Volkszorns, der seit 2011 in immer neuen Wellen über
die Erde rollt – von Algerien, Belarus, Bolivien, Chile, USA über Hongkong,
Türkei, Libanon, Iran, Irak, Bulgarien, Myanmar oder bis zu den Frauenstreiks in
Spanien, den Gilets Jaunes in Frankreich, Ende Gelände und Fridays for Future in
Deutschland und anderen Ländern. Bei aller Heterogenität – und auch nicht immer
einer emanzipatorischen Zielrichtung – lässt sich in diesem Tsunami auch eine
Renaissance der Massen als geschichtsmächtige Kraft erkennen. Die Plätze und
die Straßen erleben eine globale Konjunktur – als Kampfplatz von ansonsten
häufig vereinzelten Individuen, als Orte, an denen sich die Massen (oder in den
Worten von Émile Durkheim: die Gesellschaft) ihrer selbst ansichtig werden.
Mit wenigen Ausnahmen spielt die Linke in diesen Bewegungen keine Rolle
als orientierende und strukturierende Kraft, wie dies in den meisten Emanzipations-
bewegungen des 20. Jahrhunderts der Fall war. Das ist insofern problematisch, als
dadurch Vorschläge für emanzipatorische Alternativen selten vorgebracht werden.
Die Bewegungen schwanken zwischen der Botschaft, dass die Politiker sie nicht
repräsentieren und der pauschalen Aufforderung an die (herrschende) Politik,
doch bitte endlich (irgendwie) zu handeln und (irgendwelche) Lösungen zu finden.
Wir sind überzeugt, dass die Globalisierungskritik, wie sie seit den 1990er
Jahren entwickelt wurde und vielfach mit den altermondialistischen sozialen
Bewegungen verbunden war, vertieft und erweitert werden müsste. Angesichts
einer Linken, die nicht nur von ideologischen und politischen Differenzen durchzogen
ist, sondern auch in vielfache thematische »single issues« und »special interests«
zerfällt, geht es um den Versuch, das Ganze neu zu denken, die Krisenprozesse
in ihrem Gesamtzusammenhang zu erfassen und so zu einer Veränderungsperspektive
der Gesamtgesellschaft beizutragen. Es genügt nicht, die Welt verändern zu wollen,
man muss sie auch richtig interpretieren.
Das wird nicht im akademischen Elfenbeinturm gelingen, sondern nur in einem
kollektiven Prozess, im Austausch zwischen Praxis und Theoriebildung, zwischen
den verschiedenen Strömungen der Linken. Wir können kein Manifest des 21.
Jahrhunderts vorlegen. Wir wissen auch um die Ambivalenz sogenannter Großer
Erzählungen. Sie können einerseits viele Menschen hinter sich versammeln, wie
dies die Vision des Sozialismus im 19.und 20. Jahrhundert tat, und zur politischen
Produktivkraft werden. Aber sie können auch die Neugierde und Lernfähigkeit
begrenzen. Gegenwärtig geht es vor allem darum, die begriffliche Arbeit und
den intellektuellen Suchprozess als Aufgabe zu begreifen, der zielgerichtet organisiert
werden muss. Dafür müssen Räume, Plattformen und andere geeignete Instrumente
geschaffen und Ressourcen bereitgestellt werden. Das meint nicht nur Geld,
sondern auch Zeit, Motivation und Sachkompetenz. Selbstverständlich ist diese
intellektuelle Arbeit kein Selbstzweck, sondern zielt auf praktische Eingriffe.
Um dabei nicht in die sterile Diskussion von Reform und Revolution zurück zu
verfallen scheint uns das Konzept transformativer Eingriffe vielversprechend zu sein.
6.2 Transformative Eingriffe
Transformativ sind Reformprojekte, die in der Lage sind, eine politische Dynamik
zu entfalten, die über den Rahmen des Kapitalismus hinaustreibt. Transformative
Eingriffe haben Demonstrationseffekte, die die Wirkungsweise von Marktgesetzen
einschränkt und stattdessen gesamtgesellschaftliche Interessen handlungsleitend
werden lassen. Transformativ heißt, Pfadabhängigkeiten aufzubrechen und Pfad-
verschiebungen zu ermöglichen, ohne dass gleich die ganz große Umwälzung
damit verbunden sein müsste. Hier exemplarisch einige Ideen in dieser Richtung,
bei denen konkrete Reformprojekte mit der Systemalternative verknüpft werden können:
+ den Zusammenhang von Natur und kapitalistischer Produktionsweise immer wieder
und systematisch an konkreten Fällen und Projekten offenlegen und erklären, z.B.
an den Freihandelsverträgen, wie dem zwischen dem MERCOSUR und der EU, am
Beispiel der klimafeindlichen Effekte des Emissionshandels (So sinken z.B. durch den deutschen
Kohleausstieg getreu den Marktgesetzen die Preise der Zertifikate im Emissionshandel, weil die Aussteiger sie
nicht mehr nachfragen müssen. Die billiger gewordenen Zertifikate, und das sind Verschmutzungsrechte, können
dann von anderen Emittenten, z.B. polnischen Kohlekraftwerken, günstig aufgekauft werden.)
oder am Export von deutscher Anlagentechnik zum Bau von Kohlekraftwerken im Globalen Süden;
+ Alternativprojekte in den im Kapitalismus zentralen Bereichen der Eigentums-, Geld-
und Arbeitsordnung entwickeln und in entsprechenden Kampagnen popularisieren.
Die Initiativen zur Rekommunalisierung der Wasser- oder Energieversorgung und die
Kampagnen zur Enteignung profitorientierter Immobiliengesellschaften, oder die
Forderung nach Aufhebung der Patentrechte für die Impfstoffe gegen Corona sind
hierfür Beispiele;
+ das Lenkungspotenzial des Steuersystems in den Dienst der sozial-ökologischen
Transformation stellen. Durch Steuergerechtigkeit oder soziale Ausgleichsmaßnahmen
können damit zugleich die Verteilungskonflikte, die es unweigerlich geben wird, sozial
abgefedert werden.
Transformative Eingriffe sind auch im sozialen Bereich nötig. Dem Kapitalismus ist
die soziale Polarisierung, die Spaltung der Gesellschaft in oben und unten, in soziale
Klassen immanent, und auch im sozialen Bereich gibt es Kipppunkte: etwa wenn sich
Ernährungsmangel, gesundheitliche Risiken, Arbeitslosigkeit, Bildungsarmut oder
geringe kulturelle Teilnahme intergenerationell verfestigen.
Schließlich geht auch kein Weg vorbei an einer Debatte über bislang wohlstands-
und wachstumsförderliche Industriesektoren, die zu schrumpfen hätten: Neben der
Automobil- und Flugzeugindustrie sind dies Teile der Chemie- und Baustoffindustrie,
selbst Teile des Maschinenbaus, ganz gewiss die chemiebasierte Landwirtschaft und
natürlich die Rüstungsindustrie.
In manchen Bereichen werden vielversprechende Ansätze für transformative Reformen
auch schon heute verfolgt. Die Politisierung der Wohnungsfrage in Berlin ist ein Beispiel
dafür. Allerdings fehlt es an einer auch von den Trägern solcher Reformprojekte subjektiv
erfahrbaren Integration in ein übergreifendes gesellschaftliches Gesamtprojekt und
die damit verbundene Zukunftsperspektive. An mehreren gesellschaftlichen Bereichen
ansetzend und bewusst als Gegenprojekt zum grünen Kapitalismus konzipiert,
könnte es eine kumulative Wirkung entfalten. Ein weiterer positiver Effekt dieses
Ansatzes wäre, dass er linke Kräfte bündelt, Zersplitterung reduziert und Motivation freisetzt.
Vor allem aber würde die Linke wieder als eigenständige und unverwechselbare Kraft
sichtbar. Als Kraft, die in emanzipatorischen Bewegungen präsent ist, ohne einfach
mit dem Strom zu schwimmen, sondern ihr Potenzial an kritischer Gesellschaftstheorie
und historischer Erfahrung als autonomer Akteur einzubringen versteht. Das Problem
ist ja nicht, dass es an Kritik, Protest und dem Wunsch nach Veränderung fehlen würde.
Allein in Berlin gab es 2020 nach Angaben der Polizei 5.360 Demonstrationen,
also 14,6 täglich im statistischen Durchschnitt (Tagesspiegel, 28.13.2020).
Nichts gegen mehr Radwege und schon gar nichts gegen die Energiewende.
Aber dafür braucht es die Linke inzwischen nicht mehr. Die Bündelung
und Orientierung hingegen auf übergreifende, emanzipatorische Ziele würde
die Linke wieder zur unverzichtbaren Kraft machen.
An der Abfassung des Textes waren beteiligt: Alex Demirović, Ulrich Duchrow, Andreas Fisahn, Birgit Mahnkopf, Thomas Sablowski und Peter Wahl. Er wurde in einem Workshop und
mehreren Telefonkonferenzen diskutiert und gibt in seiner Grundtendenz eine gemeinsame
Sichtweise wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass jeder der Beteiligten unbedingt in allen
Einzelpunkten übereinstimmen müsste.