Von Raul Zelik in der WOZ (Schweiz) Nr. 14/2020 vom 02.04.2020

Die Pandemie bedroht das Leben und die wirtschaftliche Existenz von Millionen – und doch verweist die globale Krise auch auf die Möglichkeit einer besseren Zukunft. Über einen historischen Augenblick extremer Offenheit.

Vergangene Woche, als die Krankenhäuser in Madrid bereits kollabierten, ein Vorort von Barcelona wegen der Covid-19-Pandemie komplett abgeriegelt wurde und die ersten Bilder aus den Notkrankenhäusern in der Lombardei um die Welt gingen, eröffnete der katalanische Autor und Philosoph David Fernàndez seine regelmässige Kolumne in der Tageszeitung «Ara» mit merkwürdig utopischen Zeilen: «Das Wasser in Venedig ist klar. Der Mercat de la Boqueria verwandelt sich wieder in einen Stadtteilmarkt. Hotels in Paris öffnen ihre Pforten für Obdachlose. Das Abschiebegefängnis in der Freihandelszone von Barcelona ist geschlossen worden. Zwangsräumungen sind ausgesetzt. In den Kaufhäusern des Corte Inglés herrscht kein Gedränge. Und was normalerweise Profit erwirtschaften soll, wird – per Dekret – in den Dienst der Öffentlichkeit gestellt.»

 

Nach diesen ersten Sätzen hätte man meinen können, es handle sich um einen dieser Beiträge, die uns gerade die Lage schönzureden versuchen. Doch der Artikel verwies im direkten Anschluss daran auch auf die andere Seite: Strafen und Polizeieinsätze gegen Obdachlose, Reiche, die in ihre Ferienhäuser fliehen, der grassierende Rassismus der sozialen Netzwerke und die Wetten der Hedgefonds gegen überschuldete Staaten. Fernàndez wollte die Lage nicht beschönigen, sondern darauf aufmerksam machen, wie einzigartig die Lage ist: Völlig unvermittelt befinden wir uns in einer Situation extremer Offenheit.

 

Bei vielen Texten, die in diesen Tagen erschienen, hat man sich als LeserIn verwundert die Augen gerieben, weil die AutorInnen nur das zu wiederholen schienen, was sie eigentlich immer sagen. Giorgio Agamben sah den biopolitischen Staat am Werk, der das Instrumentarium des Ausnahmezustands an uns erproben will, Slavoj Zizek kam vom Virus auf Hegel zu sprechen, der deutsche Soziologe Heinz Bude proklamierte die Rückkehr des sozialdemokratischen Nationalstaats, und so mancheR Umweltbewegte flüchtete sich in die alte, jetzt allerdings besonders reaktionäre Floskel: «Sind nicht wir Menschen der eigentliche Virus auf der Erde?»

 

Die Pandemie als Krisenbeschleuniger

 

Aber wäre es nicht viel angemessener, sich darüber zu wundern, was sich innerhalb weniger Tage alles geändert hat? Es hat den Anschein, als würde die schon lange heraufziehende grosse ökologisch-ökonomische Krise durch die Pandemie beschleunigt und verdichtet werden. Auf der einen Seite sind die dystopischsten Szenarien auf einmal konkret. Viele Millionen Menschen sind in ihrer Existenz bedroht, weil kaputtgesparte Gesundheitssysteme sie nicht versorgen können, sie kein Geld mehr verdienen und eine Umverteilung der obszönen Privatvermögen nach wie vor undenkbar erscheint. Die Globalisierung ist abrupt ausgesetzt, die Produktionsketten sind unterbrochen, die Finanzmärkte taumeln am Abgrund. Und was eine militärische Supermacht wie die USA tun wird, wenn die Gesellschaft im Inneren aus den Fugen gerät, möchte man sich lieber nicht weiter ausmalen. In Frankreich patrouillieren Militärs auf den Strassen, und Macron kann das Wort «Krieg» gar nicht oft genug in den Mund nehmen. Im eigentlich links regierten Spanien verkündet der Oberkommandierende der Streitkräfte in einer Pressekonferenz mit den MinisterInnen, die Bevölkerung bestehe jetzt nur noch aus Soldaten, und es gebe kein Wochenende mehr (sic!).

 

All das ist real. Doch wahr ist eben auch das Gegenteil. In vielerlei Hinsicht verweist die Reaktion auf die Pandemie auch auf die Möglichkeit einer besseren Zukunft. Davon, dass sich in allen Städten spontan Solidaritätsnetzwerke gründen, um NachbarInnen zu versorgen, ist in den meisten Zeitungen schon die Rede gewesen. Wieder einmal zeigt sich, dass in Krisenmomenten der erste menschliche Reflex nicht der Hobbes’sche Bürgerkrieg aller gegen alle, sondern die Hilfsbereitschaft ist. Doch auch der staatliche Lockdown hat durchaus etwas Utopisches. Die grössten Einschränkungen des Soziallebens werden verordnet und akzeptiert, um die Schwächsten zu schützen, denn der einzige Zweck der Massnahme besteht darin, die medizinische Versorgung derjenigen zu sichern, die wegen ihres Alters und aufgrund von Vorerkrankungen auf die Intensivstation müssen. «Flatten the curve» ist eben nicht das Recht des Stärkeren, sondern Solidarität, denn in der Sprache des Marktes wären diese Risikogruppen nur ein «Kostenfaktor», und die Reichen könnten sich ihren Platz in der Privatklinik sichern. Die Tatsache, dass sich die Gesellschaft dem Markt verweigert und die Prioritäten – zumindest für ein paar Tage – anders setzt, ist keine Kleinigkeit.

 

Es ist nicht das einzige Zeichen dieser Art. Die von den europäischen Regierungen ergriffenen Notmassnahmen sollen zwar in erster Linie die Konzerne und Banken (oder ihre superreichen EigentümerInnen) retten, aber tragen doch immerhin dazu bei, den neoliberal  domestizierten Vorstellungshorizont wieder zu öffnen. Ideen, die zuvor als sozialistisches Teufelszeug galten, werden unter dem Applaus der Medien innerhalb von 48 Stunden durch die Parlamente gepeitscht. BörsenexpertInnen plädieren für die Verstaatlichung von Unternehmen, um sie vor feindlichen, sprich ausländischen Übernahmen zu schützen. Finanzminister setzen entschlossen die verfassungsrechtlich verankerte Austeritätsdoktrin ausser Kraft. In der EU-Kommission halten viele die europäischen Staatsanleihen, die den vermeintlichen «Verschwenderstaaten» des Südens bisher immer verweigert wurden, auf einmal doch für eine mögliche Option. In den USA wird «Helikoptergeld» verteilt – was die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens in ganz anderem Licht erscheinen lässt. In Frankreich werden notleidenden KleinunternehmerInnen per Präsidialdekret Mieten, Strom- und Wasserzahlungen erlassen, was schon allein deshalb erstaunlich ist, weil die Politik doch angeblich gar keine Handhabe bei Privatverträgen hat, und Grossunternehmen und HackerInnen kooperieren bei Experimenten der Industriekonversion: Automobilzulieferer sollen auf die Fertigung von Medizingeräten umstellen, weil die Beatmungsgeräte nicht ausreichen. Zumindest für einen Augenblick ist die bedürfnisorientierte, demokratische Planung der Wirtschaft, die den Kern jedes sozialistischen Projekts ausmacht, eine reale Option.

 

Plötzlich werden die Klimazeile erreicht

 

Auch vieles von dem, was aus klimapolitischen Gründen zwingend notwendig wäre und seit langem gefordert wird, ist plötzlich Realität. Flugzeugflotten bleiben auf dem Boden, Kreuzfahrtschiffe dürfen nicht mehr ablegen, der völlig überdrehte Massentourismus, der Millionen Menschen zum Biertrinken an Orte befördert, an denen es dank der Tourismusindustrie genauso aussieht wie zu Hause, kommt zum Erliegen. Satellitenbilder zeigen, dass die Luftverschmutzung nicht nur in China, sondern auch in Norditalien innerhalb weniger Tage dramatisch zurückgegangen ist. Und in Deutschland werden die klimapolitischen Ziele für 2020 – eine Verringerung der Treibhausgasemissionen um vierzig Prozent gegenüber dem Jahr 1990 – jetzt mit Sicherheit erreicht.

 

Das alles sind natürlich trotzdem keine guten Nachrichten, denn die Covid-19-Pandemie bringt Millionen Menschen fürchterliches Leid. In Teilen Südeuropas ist es schon jetzt so, dass Menschen über 65 auf den Intensivstationen nicht mehr versorgt werden. Die Alten sterben allein und verlassen. Und auch wenn die Pandemie global ist, unterscheidet sie sehr genau zwischen Nationen und Klassen: In Deutschland stehen umgerechnet auf die Bevölkerung vier mal so viele Plätze auf der Intensivstation zur Verfügung wie in Spanien, das im internationalen Vergleich immer noch unvergleichlich viel besser dasteht als die Länder des Globalen Südens. Wer in einer Villa in Hamburg-Blankenese oder Wollerau wohnt, kann Homeoffice im Garten machen und die Entschleunigung geniessen, während die in Wohncontainer eingesperrten Geflüchteten oder die alleinerziehende Mutter mit dem Kind in der dunklen Eineinhalbzimmerwohnung wahrscheinlich gerade durchdrehen.

 

Nichts ist gut, und doch sollten wir erkennen, in welchem Moment wir uns befinden: Die kapitalistische Globalisierung ist für einen Moment ausgesetzt. Es ist, als hätte jemand abrupt die Bremse gezogen, und unweigerlich fällt einem der düstere Satz Walter Benjamins ein: «Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders, vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.» Dass dieser Moment des Stillstands schön oder heiter sein würde, hat niemand behauptet. Aber immerhin zwingt er uns, darüber nachzudenken, was wir eigentlich machen, und zumindest drei Dinge könnten wir erkennen: Erstens, dass das Hamsterrad, in dem wir eingesperrt sind, sehr wohl angehalten werden kann. Was jetzt gefährdet ist, ist nicht die Grundversorgung mit dem Lebensnotwendigen – Wohnung, Strom, Medikamenten, Nahrungsmitteln und so weiter –, die offenbar auch dann noch relativ stabil weiterläuft, wenn grosse Teile der Wirtschaft zum Erliegen gekommen sind. Wer am Rand des Abgrunds taumelt und uns mit hinabzureissen droht, sind die Konzerne, Fonds und Banken, die unablässig ihren Wert vermehren müssen. Das, was gemeinhin als «die Wirtschaft» bezeichnet wird, hat also offenbar gar nicht so viel mit Bedarfen und Bedürfnissen zu tun. Wir leisten uns eine Ökonomie, die sich nicht an den Grundlagen des Lebens, sondern an der Wertschöpfung orientiert.

 

Zweitens erleben wir parallel zur Renaissance von Grenzschliessung und Nationalismus die reale Verbindung unter uns Menschen. Ein Virus, das sich von Körper zu Körper reproduziert, hat sich innerhalb weniger Wochen durch Körper auf dem ganzen Planeten gearbeitet. Das ist unsere reale Distanz zu einer Fabrikarbeiterin in Wuhan: Jene Sequenz Ribonukleinsäure, gegen die ihr Körper noch vor drei Wochen kämpfte, hat nun uns erreicht – nur ein paar Handschläge und Umarmungen weiter.

 

Das dritte allerdings scheint mir das Wichtigste: Schlagartig wird uns bewusst, dass es am Ende immer nur um das Leben geht und jede gesellschaftliche und ökonomische Ordnung eingebettet bleibt in ein «Netz des Lebens», wie es der marxistische Umweltökonom Jason W. Moore genannt hat. Für dieses Netz, das wir niemals völlig kontrollieren werden, tragen wir Sorge – weil es die Grundlage unseres Daseins ist. Wie wäre es, wenn wir unsere Gesellschaft auch dementsprechend organisierten?

 

Die entscheidenden Fragen

 

Es gibt unzählige Gründe, sich Sorgen zu machen. Die Schliessung der Grenzen wird die Konkurrenz befeuern, die Unterbrechung der transnationalen Wertschöpfungsketten die Herausbildung von Regionalblöcken verstärken, die dann schon bald auch militärisch um Rohstoffe kämpfen dürften, und es droht die grösste Wirtschaftskrise der Geschichte. In unserer Nachbarschaft erleben wir, wie Menschen Psychosen entwickeln. Wir beobachten Hamsterkäufe, die – wenn sich der drollige Klopapierfetischismus einmal gelegt hat – schon bald schlimme Konsequenzen haben können. Aber da ist eben auch das Gegenteil: GesundheitsarbeiterInnen, die alles geben, obwohl sie Gefahr  laufen, sich selbst anzustecken und zu sterben; Menschen, die sich zum Spielen und Musizieren auf dem Balkon verabreden; bürgerliche PolitikerInnen, die auf einmal die Verteidigung einer öffentlichen und unentgeltlichen Grundversorgung als Priorität für sich entdecken. Eine ganze Gesellschaft scheint für ein paar Tage den Feminismus und die Sorge umeinander für sich entdeckt zu haben.

 

Wenn es einen Lichtblick gibt, dann sind es die von der Pandemie aufgeworfenen Fragen: Wenn öffentliche Infrastrukturen wie das Gesundheitswesen offenbar die Grundlage unseres Lebens herstellen, warum stehen sie dann nicht im Mittelpunkt jeder ökonomischen Theorie? Wenn Krankenpflegerinnen, Kassierer und TransportarbeiterInnen «systemrelevant» sind, weshalb werden sie dann nicht entsprechend bezahlt? Weshalb halten wir Marktgesellschaften für etwas Gutes, wenn doch der Markt in jeder schwierigen Situation Panikkäufe und Warenknappheit produziert? Warum werden die Börsen, die sich auch diesmal wieder einmal als tickende Zeitbomben erwiesen haben, nicht endlich geschlossen oder zumindest radikal reglementiert? Weshalb ist es normal, dass wir mit Milliarden Euro Steuergeldern Grosskonzerne retten, aber undenkbar, dass wir dann auch demokratisch darüber entscheiden, was, wo und unter welchen Bedingungen diese Unternehmen produzieren? Und warum treiben wir in einer Zeit, in der sich immer mehr Krisen nur global lösen lassen – für den Klimawandel gilt das ja genauso wie für Pandemien –, nicht viel entschlossener den Aufbau globaler Strukturen voran?

 

Die Krise wirft zentrale Fragen auf und lässt die notwendigen Lösungen aufblitzen. Eine Maschine, die nicht der Bewahrung des Lebens, sondern der unbegrenzten Vermehrung des Werts verpflichtet ist, ist zum Stehen gekommen, und nur solidarisch und uns umeinander sorgend werden wir die Situation überstehen.

 

Die Philosophin Marina Garcés, ebenfalls aus Barcelona, weigerte sich im katalanischen Fernsehen dieser Tage, die ganz grossen Fragen zu stellen und zu beantworten. Aber auf die Frage des Moderators, ob wir uns jetzt nicht unserer menschlichen Verletzlichkeit bewusst würden, antwortete sie, die Situation führe uns weniger die menschliche Fragilität als die des Systems vor Augen. Die prekär Beschäftigten, Alleinerziehenden, Kranken und Alten seien sich ihrer Verletzlichkeit eigentlich immer bewusst, doch normalerweise seien das individuelle Probleme. Jetzt hingegen würden wir diese Erfahrung kollektiv und gleichzeitig teilen.

 

Die Pandemie ist ein Scheideweg – entweder wir entscheiden uns für ein Projekt des Lebens und der Sorge umeinander oder für eines der beschleunigten gesellschaftlichen Zerstörung.