Hallo,
z.Zt. diskutiert ATTAC-Flensburg eine Bestandsaufnahme der aktuellen Umbrüche im Welthandel - wovon der auffällige neue US-Präsident nur ein Ausdruck ist.
Zu diesen Themen gehört das Programm der neuen Merz-geführten Bundesregierung, insbesondere ihre industrie- und handelspolitischen Implikationen. Es lohnt ein Blick bis zurück zu TTIP...
Dazu gehört auch ein beispielhafter Blick auf die "UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung" (wobei die taz im Titel nur die USA anprangert, während der Artikel selbst genauso die EU-Regierungen aufs Korn nimmt) sowie die Abkehr vom "Lieferkettengesetz".
Zum Diskussionsabend selbst lädt ATTAC-Flensburg gesondert ein (schaut hier: https://www.initiativkreis-flensburg.de/index.php/ueber-uns ).
Beste Grüsse, hn
Konjunkturpaket für die AfD
Das Programm von Schwarz-Rot schürt industriepolitisch die Illusion, es könne ein Weiter-so geben
Die deutsche Wirtschaft mit ihrer großen Autoindustrie steckt in der Krise. Wenn sich die Lage weiter verschlechtert, werden Wähler »wissen«, gegen wen sich ihr Ärger zu richten hat. Raul Zelik nd, 7 Min.
Friedrich Merz war am vergangenen Dienstag im ersten Wahlgang gerade erst gescheitert, da überschlugen sich Journalisten in Deutschland bereits in Appellen an Vernunft und staatsbürgerliche »Verantwortung« der Parlamentarier. Keine Rede mehr davon, dass Abgeordnete laut Grundgesetz »nur ihrem Gewissen unterworfen« sein sollen. Stattdessen hieß es plötzlich unisono: Wer die AfD stoppen will, muss jede Kritik zurückstellen und jetzt den Kanzler wählen.
Dabei wird in Wirklichkeit umgekehrt ein Schuh draus: Es ist die Wahl von Merz, die der AfD das Feld bereitet. Das kurze Aufbegehren am Dienstagmorgen war wie ein letztes Zucken der politischen Vernunft. Denn das Programm der neuen Bundesregierung liest sich wie ein Konjunkturpaket für die extreme Rechte. Industriepolitisch schürt es die falsche Illusion, es könnte so etwas wie ein Weiter-so für die Automobilnation Deutschland geben. Migrations- und sicherheitspolitisch hingegen macht es sich das AfD-Narrativ zu eigen, wonach die »irreguläre« Armutsmigration für die soziale Krise verantwortlich ist. Wenn sich die Wirtschaftskrise – wie zu erwarten – weiter verschärft, werden die Wähler »wissen«, gegen wen sich ihr Ärger zu richten hat. Besser kann es für die Faschisten kaum laufen.
Politik fürs Kapital
Dabei bemüht sich die Regierung Merz fast schon krampfhaft, Aufbruchstimmung zu verbreiten. Vor allem wirtschaftlich soll es endlich wieder aufwärtsgehen. So kreist das erste Drittel des 146-seitigen Koalitionsvertrags fast ausschließlich um die Frage, wie sich die Bedingungen für das Kapital so verbessern lassen, dass die Exporte wieder ins Rollen kommen. So sollen die Unternehmen durch »Bürokratieabbau«, die Absenkung der Energiekosten im Rahmen eines »Strompreispakets« und Steuersenkungen »entlastet« werden. Strafzahlungen im Rahmen von Flottengrenzwerten für CO2 wird eine Absage erteilt. Das Lieferkettengesetz, das ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in der Dritten Welt einen Riegel vorschieben sollte, soll wieder abgeschafft werden. Zudem legt man ein Bekenntnis zur Automobilproduktion als »Schlüsselindustrie und Arbeitsplatzgarant für unser Land« ab.
Weniger Bedenken gegenüber staatlichen Zwangsmaßnahmen zeigt die Koalition beim unteren Viertel der Gesellschaft. So soll das erst 2023 eingeführte Bürgergeld in eine »neue Grundsicherung für Arbeitssuchende« umgewandelt werden, mit dem man »Arbeitsanreize zu verbessern« sucht. Sprich: Mit bürokratischen Zwangsmaßnahmen will man dafür sorgen, dass Arbeitskräfte dem Niedriglohnsektor schnell wieder zur Verfügung stehen. Und auch in der Innen- und Sicherheitspolitik, in der nicht weniger als eine »Zeitenwende« angekündigt worden ist, gibt sich die Regierung Merz anpackend. Obwohl selbst die umstrittene »polizeiliche Kriminalitätsstatistik« des BKA eine seit 2010 relativ unverändert gebliebene Zahl an Straftaten in Deutschland konstatiert, schließt sich die schwarz-rote Koalition dem AfD-Narrativ an, dem zufolge die Sicherheitslage in Deutschland völlig außer Kontrolle zu geraten droht. Die »Große-Kontroll-Koalition« (wie Mathias Monroy sie in dieser Zeitung genannt hat) plant, die Vollmachten der Polizei zu erweitern, biometrische Fernidentifizierung sowie Staatstrojaner einzuführen und die Kooperation zwischen den Sicherheitsapparaten zu erleichtern.
Im Fadenkreuz der »Sicherheitsoffensive« steht – wie sollte es anders sein – die »irreguläre Migration«. Zwar will die Regierung zur »Sicherung der Fachkräftebasis« auch weiterhin »qualizifizierte Einwanderung« ermöglichen. Doch zur Abwehr ökonomisch weniger nützlicher Menschen werden alle erdenklichen Instrumente gezückt: Der Familiennachzug soll ausgesetzt, die Zurückweisung an Grenzen innerhalb der EU wiedereingeführt und eine »Rückführungsoffensive« gestartet werden, bei der man auf Masseninhaftierungen setzen will.
Die allgemeine Panikmache richtet sich auch gegen deutsche Staatsbürger mit ausländischer Familiengeschichte. So will die Regierung bei der »Clan-Kriminalität« eine »vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen unklarer Herkunft« durchsetzen – was nichts anderes bedeutet als die Aufhebung der Unschuldsvermutung. In eine ähnliche Richtung geht die Ankündigung, dass zukünftig nicht nur Sprengstoff, sondern auch Messer als Gegenstände zur Vorbereitung terroristischer Anschläge betrachtet werden sollen.
Implosion der Mitte-Parteien
Auf diese Weise signalisiert die Regierung Merz den Wähler*innen, wer schuld daran ist, wenn sich die Wirtschaftskrise verschärft. Und letzteres wiederum ist in Anbetracht der strukturellen Probleme des deutschen Modells nur schwer zu vermeiden. Denn erstens wird die Exportorientierung Deutschlands aufgrund des neuen US-Protektionismus und wachsender geopolitischer Konkurrenz zusehends zum Problem. Zweitens haben deutsche Unternehmen bei der Transformation hin zu einem »elektrischen Kapitalismus« (wie die Politikwissenschaftlerin Birgit Mahnkopf das laufende Transformationsprojekt bezeichnet) gegenüber China den Anschluss verloren. Drittens schließlich gibt es eine Umwelt- und Klimakrise, die sich mittlerweile auch in steigenden Preisen und verknappenden Ressourcen niederschlägt. Ein wirtschaftspolitisches Weiter-so kann es hier gar nicht geben.
Man muss deshalb kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die sozialen Abstiegsängste in der Gesellschaft weiter an Bedeutung gewinnen werden. Für die AfD ist das wie ein Geschenk, denn keine andere politische Kraft kann Verunsicherung so für sich nutzen wie sie. Ihr Programm der Realitätsverweigerung deckt sich mit der weitverbreiteten Sehnsucht nach der Bewahrung des Status quo. Schon in den 30er Jahren beruhte der Erfolg des Faschismus auf dem Versprechen, die Gesellschaft radikal zu verändern, ohne die grundlegenden Verhältnisse anzutasten. Ganz ähnlich läuft es auch heute wieder: Solange die politische Mitte alles unternimmt, damit über Kapitalismus und Verteilungsverhältnisse nicht gesprochen wird, kann die Krise nur der extremen Rechten zugutekommen.
Solange in der Bevölkerung die Illusion vorherrscht, mit Kampfjets ließen sich soziale Rechte verteidigen, werden Kürzungen auf breite Akzeptanz stoßen.
Sehr wahrscheinlich ist, dass die Entwicklung schon bald auch die Union selbst in eine Existenzkrise stürzen wird. Dass der besonders lobbyistensnahe CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann mit dem Hinweise, »er könne als Generalsekretär den Politikwechsel besser forcieren«, auf einen Ministerposten verzichtet hat, deutet darauf hin, wie sich die Unions-Rechte die Rollenverteilung der kommenden Jahre vorstellt. Bei jeder schlechten Nachricht wird sie für eine zusätzliche Rechtsverschiebung trommeln. Auch die »Brandmauer« zur AfD dürfte schon bald wieder zur Disposition stehen.
Ob dadurch der Zustimmungsverlust für die Union gestoppt werden kann, darf jedoch bezweifelt werden. Bisher ist die Kooperation mit rechtsextremen Parteien noch keiner bürgerlichen Partei in Europa gut bekommen. Fällt die Union dauerhaft hinter die AfD zurück, wie sich das in ersten Umfragen andeutet, sind erhebliche Absetzbewegungen zu erwarten. In Italien, Frankreich und den Niederlanden hat man in den letzten Jahren beobachten können, wie schnell die christdemokratischen und liberalkonservativen Staatsparteien zerfallen, wenn (neben) ihnen eine regierungsfähige Konkurrenz von rechts entsteht.
Beste Voraussetzungen für eine weitere Radikalisierung der bürgerlichen Mitte – laut Infratest/Dimap liefen bei den vergangenen Bundestagswahlen eine Million Wähler*innen von der Union, 890 000 von der FDP und 720 000 Stimmen von der SPD zur rechtsextremen AfD über.
Kürzungen, Klima, Polizei
Doch wie lässt sich dem Aufstieg der extremen Rechten etwas entgegensetzen, wenn von der politischen Mitte nichts zu erwarten ist? Der Gewerkschaftslinke Michael Ehrhardt (IG Metall) hat das Problem in einem Interview in dieser Zeitung in zwei Sätzen zusammengefasst: Wer die AfD stoppen wolle, müsse »beweisen, dass man sich erfolgreich mit den Reichen und Mächtigen anlegen und für Umverteilung sorgen kann. Das Schlüsselproblem heute ist, dass viele der Beschäftigten uns (den Gewerkschaften, Anm. d. V.) das nicht mehr glauben«.
Wichtigste antifaschistische Strategie in den kommenden Jahren wird deshalb sein, Umverteilungsfragen erfolgreich auf die Agenda zu setzen. Bei der Mietpreisentwicklung, die durch soziale Kämpfe (zuletzt vor allem die Kampagne Deutsche Wohnen & Co. enteignen), aber auch durch den Wahlkampf der Linkspartei thematisiert wurde, ist das in den letzten Jahren durchaus gelungen. Auf einen großen Arbeitskampf im öffentlichen Dienst hingegen, der die verheerende Lage der öffentlichen Daseinsvorsorge problematisieren und fast drei Millionen Beschäftigte mobilisieren hätte können, hat Verdi aus Zweifel an der eigenen Kampffähigkeit verzichtet.
An Anlass für Proteste wird es unter der neuen Regierung sicher nicht mangeln. Friedrich Merz hat schon vor einigen Wochen angekündigt, die »Zeiten des Paradieses« seien vorbei. Weil Steuererhöhungen ausgeschlossen werden, bleibt nur das Kürzungsdiktat. Widerstand dagegen wird sich aber nur entwickeln können, wenn die Proteste auch die Aufrüstungspolitik in den Blick nehmen. Solange in der Bevölkerung die Vorstellung vorherrscht, mit Kampfjets würden soziale Rechte und Freiheiten »von uns allen« verteidigt, werden Kürzungsmaßnahmen auf breite Akzeptanz stoßen. Dass es an der Seite von Rüstungskonzernen und Militärs noch nie irgendwo eine progressive Politik gegeben hat, ist im Augenblick auch in Gewerkschaften und Sozialverbänden leider keine weitverbreitete Erkenntnis.
Als zweites Mobilisierungsthema zurückkehren dürfte – mit den vorhersehbaren Extremwetterereignissen – schon bald auch wieder die ökologische Krise. Die Partei Die Linke wäre gut beraten, sich hier frühzeitig in Stellung zu bringen und die materialistische Dimension der großen Stoffwechselkrise verständlich zu machen. Der Klimawandel wird unter kapitalistischen Vorzeichen nicht gestoppt werden können und hat viel mit globalen Klassenverhältnissen zu tun. Die reichen zehn Prozent der Weltbevölkerung verursachen ihn, für die unteren Klassen stellt er eine existenzielle Bedrohung dar. Übrigens auch in den reichen Industrieländern, denn steigende Lebensmittelpreise werden auch hier die Armen vor Probleme stellen.
Ein drittes Feld schließlich, auf dem sich unter der neuen Regierung Proteste entzünden könnten, ist die Frage der staatlichen Repression. In Deutschland wird bislang eher wenig zur Kenntnis genommen, dass sich einige der wichtigsten Massenbewegungen der vergangenen Jahre gegen die Polizei richteten. Die Black-Lives-Matter-Proteste 2020 in den USA brachten zwischen 15 und 25 Millionen Menschen auf die Straße. In Frankreich kommt es nach Polizeimorden in den Banlieues regelmäßig zu Aufständen. Und auch die Abwahl der neoliberalen Regierungen Chiles und Kolumbiens 2022 war in erster Linie monatelang anhaltenden Anti-Polizei-Protesten geschuldet.
Der Fall des 21-jährigen Schwarzen Lorenz A., der Ende April in Oldenburg von der Polizei hinterrücks erschossen wurde, zeigt, dass das Problem in Deutschland nicht weniger ausgeprägt ist. 22 Personen wurden im vergangenen Jahr hierzulande von der Polizei erschossen – in Frankreich waren es im Skandaljahr 2023, als das ganze Land über die Erschießung des 17-jährigen Nahel Merzouk debattierte, dreizehn Fälle. Eine Studie der Universität Bochum ging 2019 von mehr als 12 000 Verdachtsfällen unrechtmäßiger Polizeigewalt in Deutschland aus.
Abolitionistische und migrantische Gruppen stellen das Phänomen in einen direkten Zusammenhang mit der Grenzpolitik. Die Aufrüstung der Polizeiapparate und die Abschottung der Grenzen seien zwei Seiten einer Medaille. Beide Maßnahmen richteten sich gegen eine Armutsbevölkerung, die häufig migriert ist, und besäßen in diesem Sinne einen klassenpolitischen Kern. Deshalb sei es auch kein Zufall, dass beide Themen im Programm der extremen Rechten eine Schlüsselrolle spielen.
Die 10 000 überwiegend migrantischen Menschen, die nach der Hinrichtung von Lorenz A. in Oldenburg auf die Straße gingen, und eine Reihe von Brandanschlägen, die in der ansonsten eher ruhigen norddeutschen Stadt auf Autos verübt wurden, machen deutlich, dass Polizeigewalt auch in Deutschland zunehmend Widerstand provoziert.
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Kaum gestartet, schon enttäuscht
Niemand findet den Koalitionsvertrag gut. Kein Wunder – denn die Koalition widmet sich einem Problem, das sie nicht lösen kann. Die Exportorientierung der deutschen Wirtschaft war früher eine Stärke, jetzt wird sie zur Last.
Stephan Kaufmann 5 Min.
Der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD wird nicht nur von links kritisiert. Auch Liberale, Rechte und Konservative, Unternehmen und ihre Verbände finden ihn »mutlos«. Tatsächlich wirken die Vorhaben der Koalition eher harmlos angesichts der gigantischen Aufgaben, vor die sie sich gestellt sieht. Die versprochene »Wende« beinhaltet der Vertrag nicht. Das allerdings ist wenig überraschend. Denn die Lösung der Probleme, mit denen der deutsche Standort derzeit konfrontiert ist, liegt zum Großteil außerhalb der Reichweite der Bundesregierung. Von der absehbaren Enttäuschung dürfte vor allem die AfD profitieren.
Die nächsten Jahre, so heißt es im Koalitionsvertrag, werden »maßgeblich darüber entscheiden, ob wir auch in Zukunft in einem freien, sicheren, gerechten und wohlhabenden Deutschland leben«. Denn das Land stehe vor »historischen Herausforderungen«. Gemessen an dieser Diagnose fallen die Bewertungen eindeutig aus: Der Koalitionsvertrag falle »hinter das Notwendige zurück«, kritisiert die Industrieverbands-Chefin Tanja Gönner. »Mehr Mut muss folgen«, fordert die Deutsche Industrie- und Handelskammer. Der Reformstau sei »nicht aufgelöst«, rügt die »Tagesschau«. Der Kommentator des Deutschlandfunks sieht im Koalitionsvertrag schlicht »nichts Neues«, und aus Sicht des Philosophen Jürgen Manemann fehle es der Politik an »Zukunftsvisionen«.
»Nicht genug«, lautet das allgemeine Urteil – nicht genug, um den strategischen Kern des Koalitionsprogramms zu erreichen: mehr Wirtschaftswachstum. Denn davon soll alles abhängen: die Aufrüstung, der Sozialstaat, der Klimaschutz, die Arbeitsplätze, der Wohlstand – und der Koalitionsvertrag selbst. Denn alle in ihm aufgeführten Maßnahmen stehen unter Finanzierungsvorbehalt »und daher unter Wachstumsvorbehalt«, erklärt der Ökonom Rudi Kurz auf dem Portal »Makronom«. Das heißt: Der Vertrag unterstellt das Wachstum, das er herzustellen verspricht.
Zwar dürften laut Ökonomen die kreditfinanzierten Ausgaben für Infrastruktur und Aufrüstung das Wachstum etwas anschieben. Einige geplante Steuer- und Energiepreissenkungen freuen auch die Unternehmen. Insgesamt aber sei der Vertrag »kein Wachstumsprogramm«, so die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer – ebenso wenig wie die vorangegangenen Programme der Ampel-Regierung.
Der globale Investitionsboom ist vorüber, heute herrschen in vielen Branchen Überkapazitäten und Nachfragemangel.
Dass sich die neue ebenso wie die vergangene Bundesregierung bei ihrem Kernziel so hilflos zeigt, liegt auch an der Lage, in der sich der Standort Deutschland befindet. Zum einen ist er besonders industrielastig; der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Wertschöpfung liegt doppelt so hoch wie in Frankreich, Großbritannien oder den USA. Dies war in der Vergangenheit eine Stärke des Standortes, die ihm ab 2010 ein goldenes Jahrzehnt bescherte, während andere Euro-Länder durch die Krise manövrierten. Doch der globale Investitionsboom ist vorüber, heute herrschen in vielen Branchen Überkapazitäten und Nachfragemangel.
Auch die andere Stärke des Standortes wird zur Last: der Export. So werden 80 Prozent der deutschen Autos im Ausland abgesetzt. Eng wird der Weltmarkt zum einen durch die Zollpolitik der USA. »Ein Handelskrieg könnte Deutschland in den nächsten vier Jahren 200 Milliarden Euro kosten«, errechnet das Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Sämtliche Wachstumsprognosen für Deutschland hängen daran, dass US-Präsident Donald Trump seinen Zollkrieg nicht eskalieren lässt.
Dazu kommt der Aufstieg Chinas, das immer stärker zum Konkurrenten auf den Märkten innerhalb der Volksrepublik wie auch auf den deutschen »Heimatmärkten« wird. Chinas Exportpalette habe sich der deutschen weitgehend angeglichen, so eine Studie der Bank KfW. Daher sei »davon auszugehen, dass die Anstrengungen Chinas, sich intensiver in die globalen Wertschöpfungsketten einzubringen und mehr Wertschöpfung im eigenen Land zu generieren, für eine weitere Zunahme des Wettbewerbs mit Unternehmen in Deutschland sorgen« werden.
Gegen diese Entwicklungen hilft es wenig, wenn die Koalition Energie verbilligt, »Gründerschutzzonen« einrichtet, das Lieferkettengesetz kassiert und Arbeitslosen die Unterstützung streicht. Darüber hinaus ist unklar, wie eine laut Koalitionsvertrag notwendige »umfassende Erneuerung unseres Landes« überhaupt zu bewerkstelligen wäre. »Mehr Wachstum schaffen« sagt sich so leicht. Denn sämtliche weitergehenden Maßnahmen sind mit zahlreichen Widersprüchen behaftet.
So könnten die Mittel für staatliche Investitionen drastisch aufgestockt werden – doch woher soll das Geld kommen? Der Haushalt ist schon auf Kante genäht. Mehr Schulden wären eine Option – aber das könnte die Kreditwürdigkeit Deutschlands beschädigen, die bereits durch massive Aufrüstung strapaziert wird. Eine Verbilligung der Arbeit drückt zwar die Kosten für Unternehmen – kostet aber auch Nachfrage.
Steuersenkungen werden gefordert. Doch ihre Wachstumswirkungen sind umstritten, schon allein weil den deutschen Konzernen dank hoher Gewinne kaum Geld fehlt – was fehlt, ist die Nachfrage nach ihren Produkten. »Steuerliche Entlastungen für Unternehmen sind notwendig, aber sie allein werden Deutschland nicht wieder zu mehr Wettbewerbsfähigkeit verhelfen«, so das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Zudem kosten Steuersenkungen den Staat Geld – wo sollte gestrichen werden?
Als eine Art Wundertüte wird der Abbau der »Bürokratie« behandelt, wobei es sich im Koalitionsvertrag zum Großteil um eine Abschwächung des Klimaschutzes handelt. Das erspart den Unternehmen zwar Ausgaben. Gleichzeitig aber wachsen so zum einen die Kosten des Klimawandels. Zum anderen sinkt zum Beispiel durch die Förderung fossiler Industrien wie Verbrennerautos der Anreiz für die Unternehmen, in grüne Technologien und damit in Zukunftsmärkte wie E-Mobilität zu investieren, die zunehmend China erobert. Zölle gegen China wiederum schützen die deutschen Unternehmen zwar vor Konkurrenz, allerdings darf man es sich mit der zweitgrößten Ökonomie der Welt nicht verscherzen.
Sämtliche Wachstumsprognosen für Deutschland hängen daran, dass der US-Präsident seinen Zollkrieg nicht eskaliert.
In ihrem Bestreben, den Weltmarkt für mehr deutsches Wachstum zu nutzen, bleibt der Koalition also zunächst nichts übrig, als an allen verfügbaren Stellen die Bedingungen für Investoren zu verbessern, um so die »Wettbewerbsfähigkeit« des Standortes zu erhöhen. Dass dies automatisch zu mehr Wachstum führt, ist lediglich in den volkswirtschaftlichen Modellen der Fall. In der Realität kann sich zeigen, dass die »Bedingungen für eine wettbewerbsfähige und wachsende Volkswirtschaft« (Koalitionsvertrag) nicht identisch mit einer realen Wachstumsbeschleunigung sind.
Davon lässt sich die Politik allerdings nicht entmutigen. Absehbar ist daher erstens, dass die Bevölkerung künftig nicht nur zu mehr Arbeit und höherer Produktivität angehalten wird, sondern auch zum Verzicht bei Sozialleistungen, die bei den Unternehmen unter »Lohnnebenkosten« firmieren. »Der Koalitionsvertrag lässt leider jegliche Anstrengungen vermissen, das Ausgabenwachstum in der Rentenversicherung zu begrenzen«, sagte der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter. Im Bereich der Kranken- und Pflegeversicherung bestünden »Leerstellen in Bezug auf dringend notwendige Reformen. Die Folge wird sein, dass die Sozialbeiträge weiter steigen. Damit werden die Bruttoarbeitskosten für die Unternehmen weiter steigen.«
Beim Sozialen dürfte also gespart werden. Dagegen ist für Aufrüstung mit der Reform der Schuldenbremse jede Summe verfügbar gemacht worden. Damit reagiert die Koalition nicht nur auf die wahrgenommene Bedrohung durch Russland. Sondern auch auf die Tatsache, dass die materiellen Grundlagen deutscher Macht – das Wachstum – zum Großteil abhängen von Entwicklungen jenseits der deutschen Grenzen, also im Bereich anderer Mächte. »Die Arbeitgeber begrüßen die Investitionen in die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes«, lobt die BDA den Koalitionsvertrag. »Die neuen geopolitischen Herausforderungen erfordern ein robustes Auftreten.«
Von der absehbaren Enttäuschung über die Ergebnisse der »Wirtschaftswende« der Koalition dürfte voraussichtlich vor allem die AfD profitieren. Denn wie alle rechten Parteien beklagt sie seit Langem und am lautesten eine existenzielle Krise der Heimat und verspricht eine radikale Wende. Im Angebot hat die Partei in dieser Hinsicht allerdings nichts – außer unfinanzierbaren Versprechen, einer aus dem »Leistungsprinzip« wachsenden Ungleichheit und der Zusage, die Lage Deutschlands zu verbessern, indem man Migrant*innen und das Ausland schlechterstellt.
Zölle, Freihandel und globale Machtspiele: Warum Trump nur die Oberfläche kratzt
Donald Trump liebt Zölle – das sagt er selbst. Doch so simpel seine Wortwahl auch sein mag, das Thema dahinter ist komplex. Wer heute über Zölle spricht, muss auch über Freihandel, Globalisierung und die Machtverhältnisse in der Weltwirtschaft reden. Denn die Frage ist nicht nur, ob Zölle gut oder schlecht sind – sondern: Für wen eigentlich?
Freihandel in der Theorie: ein Modell für alle?
Freihandel gehört zu den zentralen Vorstellungen der marktwirtschaftlich geprägten Ökonomie. Die Grundidee ist einfach und wirkt einleuchtend: Jeder soll das herstellen, was er oder sie am besten kann. So entsteht insgesamt die effizienteste Produktion – zum Wohl aller. Diese Theorie klingt einleuchtend, ist aber so simpel wie viele andere Glaubenssätze der Marktwirtschaft.
David Ricardo formulierte sie Anfang des 19. Jahrhunderts: Wenn Länder unterschiedliche Voraussetzungen und Fähigkeiten haben, dann sollten sie sich auf das konzentrieren, was sie am besten beherrschen. (isw-spezial 33, 2020) So ließen sich weltweit möglichst viele hochwertige Güter zu möglichst geringen Kosten herstellen und durch freien Handel optimal verteilen. Zölle gelten dabei als ineffizient, weil sie den Wettbewerb verzerren. Sogar moderne Ökonom*innen stimmen in diesem Punkt meist überein. Die Süddeutsche Zeitung etwa schrieb: „Freier Handel erhöht den Wohlstand … Werden Zölle gesenkt, steigt der Wohlstand in allen beteiligten Ländern“ (3.4.2025).
Freihandel in der Praxis: eine naive Annahme
Das Problem der Theorie liegt in einer stillschweigenden Grundannahme: dass alle Arbeitskräfte und Produktionsmittel weltweit vollständig ausgelastet sind. Dahinter steckt die Vorstellung, dass in einer Marktwirtschaft jede*r, der arbeiten will, auch Arbeit findet. Doch in der Realität gibt es in fast allen Ländern – besonders in ärmeren – strukturelle Arbeitslosigkeit.
Fällt diese Annahme weg, verliert auch Ricardos Modell seine Gültigkeit. Dann konzentriert sich Arbeitslosigkeit vor allem in den schwächeren Volkswirtschaften: Wer nicht konkurrenzfähig ist, verliert. Starke Länder bauen ihren Vorsprung weiter aus – durch überlegene Technologie, bessere Bildung, leistungsfähige Infrastruktur. Schwächere Länder geraten ins Hintertreffen, Produktion und Jobs wandern ab, Armut nimmt zu.
Zwar kann Freihandel zu günstigeren Produkten führen – doch für viele Menschen in schwächeren Ländern bedeutet das den Verlust ihrer Arbeitsplätze und damit ihres Einkommens. In der Folge hilft ihnen auch der Zugang zu billigeren Waren nichts. Aus ihrer Perspektive kann Protektionismus – also die gezielte Förderung der eigenen Industrie – sinnvoller sein, auch wenn er teurere Produkte bedeutet.
Ein bekanntes Beispiel: In vielen Entwicklungsländern wurden einfache, handwerklich produzierte Schuhe durch billige Plastiksandalen aus dem Ausland verdrängt. Die lokale Produktion brach ein, Arbeitsplätze verschwanden. Oder: Europäische Fleischkonzerne exportierten Abfallprodukte wie Hühnerflügel oder Innereien zu Spottpreisen nach Afrika – mit dem Effekt, dass lokale Kleinbetriebe in der Geflügelzucht aufgeben mussten. Die Folge: Mehr Arbeitslosigkeit, weniger Einkommen, mehr Armut.
Die zentrale Frage lautet daher: Wohin fließt das Geld in einer globalisierten Welt – in die Konzernzentralen der reichen Länder oder auch in die Regionen, die bislang wenig vom Handel profitiert haben?
Erziehungszölle: Schutz für aufstrebende Industrien
Für viele Länder mit schwacher Wirtschaft war schnell klar: Freihandel hilft vor allem den Starken. Die Idee der sogenannten Erziehungszölle entstand deshalb aus der Notwendigkeit, junge Industrien vor der übermächtigen Konkurrenz zu schützen. Ziel war es, Industrien in Ländern mit Rohstoffen zu fördern – etwa durch Zölle auf importierte Waren, die man auch selbst herstellen könnte: Schuhe, Lederprodukte, verarbeitete Lebensmittel, Textilien, später vielleicht sogar Stahl.
Die Einnahmen aus den Zöllen sollten dabei direkt in den Aufbau der Industrie fließen. Doch in der Praxis verhinderten die reichen Länder, oft unterstützt durch internationale Institutionen, dass dieses Modell konsequent umgesetzt werden konnte. Selbst Staaten mit großem wirtschaftlichem Einfluss, wie Saudi-Arabien, brauchten Jahrzehnte, um ihre Ölwirtschaft auf eine eigene Weiterverarbeitung umzustellen.
Einige Länder – zum Beispiel Indien – setzen dennoch bis heute auf hohe Zölle, etwa im Automobilbereich, um die eigene Produktion zu fördern. Auch im Gründungsvertrag der Welthandelsorganisation (WTO) sind Ausnahmeregeln für solche Schutzmaßnahmen vorgesehen. Doch der große Durchbruch dieses Modells blieb bisher aus – vor allem für die breite Masse ärmerer Länder.
Freihandel als Machtinstrument
Die reichen Länder, besonders exportstarke wie Deutschland, setzten sich nach dem Zweiten Weltkrieg massiv für den Abbau von Handelshemmnissen ein – Zölle, Mengenbeschränkungen, technische Normen oder Patentschutz sollten weltweit reduziert werden. Das Ziel: Zugang zu neuen Märkten, stärkere Marktanteile für die eigene Industrie, Verdrängung der Konkurrenz.
Nach jahrzehntelangen Verhandlungen wurde 1995 die WTO gegründet. Ihr Prinzip: Handelsbarrieren sollten nur noch abgebaut, nicht wieder aufgebaut werden. Doch der sogenannte Freihandel blieb ein komplexes Gefüge voller Sonderregeln und Ausnahmen. Besonders Kuba war – trotz aller Freihandelsrhetorik – weiterhin massiven Sanktionen ausgesetzt. Andere Länder kämpften regelmäßig mit Schuldenkrisen, verursacht durch eine zu schnelle Öffnung ihrer Märkte und den damit einhergehenden Verlust wirtschaftlicher Eigenständigkeit.
TTIP: Der Freihandel als strategische Waffe
Wer erinnert sich noch an TTIP? Das geplante Handelsabkommen zwischen den USA und der EU sollte nicht nur wirtschaftliche Vorteile bringen, sondern auch geopolitisch wirksam sein – vor allem gegenüber dem aufstrebenden China. Ziel war es, globale Standards zu setzen, die für China schwer zu erfüllen wären. (isw-report 97, 2014)
Doch TTIP scheiterte – an inneren Spannungen und am öffentlichen Widerstand. Das Ziel, China zu bremsen, blieb jedoch bestehen. Statt über Handelsabkommen setzt man heute auf Zölle, Exportverbote, Investitionsverbote und andere Maßnahmen, die dem Freihandelsgedanken widersprechen. China ist allerdings kein schwacher Akteur – anders als Kuba kann es Gegenmaßnahmen ergreifen.
Zölle out – Kapitalverkehr in
Während der freie Warenhandel heute weitgehend zur Normalität geworden ist (Zölle sind meist niedrig, innerhalb der EU sogar abgeschafft), hat ein anderer Bereich die Bühne betreten: der freie Kapitalverkehr.
Konzerne und ihre Regierungen fordern zunehmend ungehinderten Zugang zu globalen Investitionsmöglichkeiten – möglichst ohne staatliche Eingriffe. Kapital, Technik und Management sollen dorthin fließen, wo Arbeitslöhne niedrig sind. Für diese Investitionen erwarten die Unternehmen größtmögliche Sicherheit: Sie wollen ihr Kapital bei Bedarf schnell wieder abziehen können, ihre Gewinne ins Heimatland transferieren, ihre Standorte selbst wählen.
In den letzten Jahrzehnten wurde diese Form der Globalisierung stark vorangetrieben. Die Folge: Multinationale Konzerne profitieren, lokale Bevölkerung und Umwelt nicht unbedingt. Ein Beispiel ist Nigeria – reich an Rohstoffen, aber geplagt von Umweltzerstörung und Armut in den Förderregionen.
Weltwirtschaft bedeutet heute: ein globaler Markt mit möglichst einheitlichen Regeln – vor allem im Sinne der großen Unternehmen. Es geht längst nicht mehr nur um den Export von Waren, sondern um Standortkonkurrenz, Subventionen, Deregulierung und maximale Freiheit für Kapital und Konzerne.
https://www.isw-muenchen.de/
Nachhaltige Entwicklungsziele der UN: Die USA blockieren globale Finanzreformen
Im Vorfeld der UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung wollen die USA Wörter wie „Klima“ streichen. Zivilorganisationen kritisieren auch die EU.
BERLIN taz | Handelsbarrieren, niedrige Rohstoffpreise, teure Kredite, hohe Verschuldung: Viele Entwicklungsländer sehen sich von der internationalen Handels- und Finanzarchitektur benachteiligt. Die Regeln dafür werden in Foren gemacht, in denen sie unterrepräsentiert sind oder gar kein Mitspracherecht haben – im Internationalen Währungsfonds oder dem Industriestaatenverbund OECD etwa.
Um das zu ändern, wollen sie bei den Vereinten Nationen verhandeln. Zum Beispiel über den Zugang zu Kapital, gerechte Besteuerung und einen Rahmen für Staatsinsolvenzen. Ende Juni findet das wichtigste Forum dafür in Sevilla, Spanien, statt: die 4. Internationale Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung (FFD4).
Wie sehr die Reformvorhaben vor allem im Globalen Norden auf Widerstand stoßen, zeigte sich auch in dieser Woche bei vorbereitenden Gesprächen in New York. Die USA galten schon lange als Blockierer – auch unter Ex-Präsident Joe Biden. Die Regierung unter Donald Trump setzt nun eins oben drauf. Die US-Amerikaner wollen Begriffe wie „Klima“, „Gleichstellung der Geschlechter“ und „Nachhaltigkeit“ aus dem Reformentwurf streichen, der im Sommer in Spanien diskutiert wird.
So geht es aus einem internen Dokument hervor, über das Reuters berichtete. Demnach wollen die USA auch nicht, dass Unternehmen dort Steuern zahlen, wo sie wirtschaftlich tätig sind, was Entwicklungsländern zugutekäme. Ebenso soll der Abbau ineffizienter Subventionen für fossile Brennstoffe nach Wünschen der USA kein Ziel im Abschlussdokument der FFD4 sein.
UN-Entwicklungsziele stehen auf der Kippe
Um die UN-Ziele zur nachhaltigen Entwicklung zu erreichen, denen sich die Staatengemeinschaft 2015 verpflichtet hat, braucht es neue globale Regeln, fordern viele Entwicklungsländer und Zivilorganisationen. Den Zielen zufolge soll weltweit der Hunger beseitigt werden, sollen alle Menschen Zugang zu Gesundheit und Bildung haben – bis 2030. Laut UN gab es bislang jedoch nur bei 17 Prozent der Ziele überhaupt Fortschritte.
Den Staatskassen der Entwicklungsländer fehlt das Geld. Und die Bereitschaft aus dem Globalen Norden, Ressourcen in Entwicklungsfinanzierung zu stecken, sinkt. Viele Geberstaaten schrumpfen ihre Entwicklungsetats. Umso wichtiger wären nun Zugeständnisse zu zentralen Reformen. Die sollen zum Beispiel den Abfluss von Geldern aus Entwicklungsländern an reiche Länder verringern, der etwa durch hohe Schuldendienste oder Steuervermeidung von multinationalen Konzernen entsteht. Auch wenn UN-Beschlüsse am Ende unverbindliche Empfehlungen sind, gelten sie als wichtiges politisches Signal für strukturelle Reformen.
Bereits im März erteilten die USA den Vereinten Nationen in einem offiziellen Statement jedoch eine klare Absage. Die UN sei nicht die richtige Institution, um Steuern, Schulden und Handel zu besprechen, hieß es. „Einige Empfehlungen greifen in die Souveränität der Staaten und die Unabhängigkeit anderer Organisationen ein, darunter die WTO, die OECD und internationale Finanzinstitutionen.“
EU setzt auf Investitionen statt Reformen
Die EU hat vor Kurzem ihre Unterstützung für die UN-Konferenz wiederholt und dafür geworben, „auf ein ehrgeiziges Ergebnis hinzuarbeiten“. Rund 200 Zivilorganisationen wandten sich vergangene Woche jedoch mit Kritik an europäische Politiker*innen. Diese haben sich bei den Verhandlungen im Vorfeld der Konferenz „bisher jeder sinnvollen Reform widersetzt“, schrieben sie.
„Die EU verteidigt einen ungerechten Status quo“, sagte Jean Saldanha der taz. Sie ist Direktorin von Eurodad, einem europäischen zivilgesellschaftlichen Netzwerk zu Entwicklung und Verschuldung. Die EU wolle etwa weiterhin auf den Internationalen Währungsfonds und den Schuldenrahmen der G20 bestehen, um auf Schuldenkrisen zu reagieren. „Beide haben sich als unzureichend und langsam erwiesen und schützen die Interessen der Gläubiger“, so Seldanha.
Statt Reformen hebe die EU ihre Investitionen in Infrastruktur im Rahmen des Global-Gateway hervor. Das räume den „geopolitischen Interessen der EU Vorrang vor nachhaltigen Entwicklungsergebnissen ein“, kritisiert Seldanha.
Wie die USA betont auch die EU, dass es wichtig sei, privates Kapital zur Schließung der Finanzierungslücke von Entwicklungsländern zu mobilisieren. Doch für Entwicklungsländer ist privates Kapital im aktuellen System teuer. Laut der UN-Handels- und Entwicklungskonferenz Unctad zahlen Entwicklungsländer bis zu 4-mal mehr für Kredite als die USA und sogar 6- bis 12-mal mehr als Deutschland.
Ende vergangenes Jahr räumte die Weltbank ein, dass private Gläubiger 2022 fast 141 Milliarden US-Dollar mehr an Schuldendienstzahlungen von Entwicklungsländern erhielten, als sie diesen in neuen Investitionen zur Verfügung gestellt hatten. Kurzum: Während die Investitionen privater Geldgeber längst Gewinne abwerfen, leiden Entwicklungsländern unter den hohen Schuldendiensten.
Laut Unctad leben über 3 Milliarden Menschen in Ländern, die mehr für die Rückzahlung von Krediten und Zinsen als für Gesundheit und Bildung ausgeben. Sie fordern deshalb etwa eine Revision der Ratingagenturen. Und dass multilaterale Entwicklungsbanken Kredite in nationalen Währungen ausgeben.
Das Lieferkettengesetz.
Ein Trauerspiel in 5 Akten
Sollen Menschenrechte nur in deutschen Fabriken gelten? Oder auch in Fabriken, die für Deutsche arbeiten? Das wollen manche unbedingt verhindern.
Mehr als 4 Millionen Menschen arbeiten in Bangladesch in der Textilindustrie. Viele von ihnen zu menschenunwürdigen Bedingungen.Prolog – Im Bundestag
„Nie wieder Rana Plaza“ – so leitete Entwicklungsminister Gerd Müller seine Rede im Parlament ein. Das war am 11. Juni 2021. Acht Jahre zuvor waren über 1.100 vor allem weibliche Beschäftigte beim Zusammenbruch des Rana-Plaza-Fabrikgebäudes bei Dhaka, Bangladesch, gestorben. Sie hatten auch für deutsche Unternehmen und Geschäfte genäht.
Der bayerische Katholik und CSU-Politiker Müller zog daraus die Konsequenz, so etwas künftig mit einem Gesetz verhindern zu müssen. Der Bundestag beschloss das Gesetz schließlich. Union, SPD und Grüne stimmten dafür, FDP und AfD dagegen. Die Linken enthielten sich. Jetzt will Müllers Partei das Gesetz wieder abschaffen, zusammen mit CDU und SPD.
Die Geschichte des Lieferkettengesetzes handelt von etwas ganz Einfachem: den Menschenrechten, die keinem Individuum genommen werden dürfen und die ganz vorne im Grundgesetz stehen. Müllers Gesetz legte fest, dass diese Rechte nicht nur in deutschen Fabriken gelten sollten, sondern auch in ausländischen, die für Deutsche arbeiten.
Aber viele Firmen, große Wirtschaftsverbände und konservative Politiker wollten dieses Gesetz immer verhindern. Erst waren sie in der Defensive, jetzt sind sie in der Offensive. Eine Tragödie in fünf Akten.
1. Akt – Die Katastrophe
Das achtgeschossige Fabrikgebäude Rana Plaza stürzte im April 2013 ein, weil man es schlecht gebaut hatte. Verantwortlich waren die Besitzer, mitverantwortlich die ausländischen, auch deutschen Unternehmen, die weggeschaut hatten.
Nach dem Zusammensturz war die internationale Entrüstung enorm. Rana Plaza zeigte, wie die Globalisierung funktionierte. Schlechte Löhne, gesundheitsschädliche oder tödliche Arbeitsbedingungen und niedrige Kosten in den ausgelagerten Zulieferfabriken armer Länder ermöglichten günstige Verbraucherpreise in reichen Staaten. So etwas per Gesetz zu unterbinden, forderte deshalb bald eine breite Bewegung, die von der unabhängigen Linken über Gewerkschaften und Kirchen bis zu den Christlich-Konservativen reichte.
2. Akt – Das Gesetz
Gerd Müller und sein SPD-Kollege Hubertus Heil versuchten über die Jahre einiges, um auch die deutschen Unternehmen und ihre Verbände von diesem Anliegen zu überzeugen – zunächst mit freiwilligen Angeboten wie dem Bündnis für nachhaltige Textilien und dem Nationalen Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte. Doch die meisten Firmen verweigerten sich.
Deshalb entwarfen die Politiker das verpflichtende Lieferketten-Sorgfaltspflichten-Gesetz. Darin steht, dass die hiesigen Auftraggeber eine Mitverantwortung für die Arbeitsverhältnisse in ihren Zulieferfabriken haben, dieser Verantwortung gerecht werden müssen, und ihnen bei Missachtung Sanktionen drohen. Es gilt für alle Unternehmen mit mindestens 1.000 Beschäftigten.
Große Wirtschaftsverbände wie BDI, BDA, DIHK, Gesamtmetall oder Textil & Mode versuchten immer wieder, das Gesetz zu schwächen, zu verzögern und zu verhindern. Ihre Argumente: Die Überprüfung teilweise tausender Lieferanten sei für die Unternehmen zu aufwändig und zu teuer, außerdem dürften deutsche Firmen gegenüber ihren ausländischen Konkurrenten nicht benachteiligt werden.
3. Akt – Europas Standard
Mit ihrer Warnung vor Wettbewerbsnachteilen stießen die deutschen Wirtschaftsverbände und Politiker auf Verständnis der Europäischen Kommission – allerdings anders als erhofft. Unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erarbeitete die EU selbst eine Lieferketten-Richtlinie, die etwas strengere Regeln als das deutsche Gesetz für alle großen in- und ausländischen Unternehmen in den 27 Mitgliedstaaten festlegte.
Dagegen setzten die hiesigen Verbände und FDP-Bundesfinanzminister Christian Lindner alle Hebel in Bewegung – weitgehend erfolglos: Die Richtlinie, ein neuer internationaler Standard, wurde am 24. Mai 2024 beschlossen.
4. Akt – Die Gegenbewegung
Inzwischen hat sich aber die Großwetterlage geändert. Im Gegensatz zu den ökonomisch guten 2010er Jahren steckt die deutsche Wirtschaft in einer Stagnation und Krise ihres Import-Export-Modells. Auch Firmen in anderen EU-Ländern machen sich Sorgen. Die russische und chinesische Autokratie sowie die antiliberale US-Regierung erschweren den internationalen Handel.
Nach der Neuwahl des EU-Parlaments, in dem seither auch die Rechtsextremen stärker sind, will von der Leyens zweite Kommission der Wirtschaft entgegenkommen. Anfang 2025 schlägt sie vor, dass die Unternehmen nur noch für ihre direkten, also weniger Lieferanten mitverantwortlich sein sollen, ihre Haftung beschränkt und das Inkrafttreten der Richtlinie verschoben wird.
5. Akt – Zurück auf Los
In Berlin bildet sich eine Bundesregierung aus Union und SPD. Diese will das deutsche Lieferkettengesetz nicht mehr anwenden, bis die EU ihre neue Richtlinie beschlossen hat. Wirtschaftsverbände, viele Unternehmen, Union, FDP und AfD werden derweil daran arbeiten, dass die künftige EU-Regelung möglichst schwach ausfällt.
Bis dahin herrscht ein regelloser Zustand wie vor dem Beschluss des deutschen Gesetzes. Den Unternehmen bleibt es selbst überlassen, ob sie ihre Verantwortung für die Menschenrechte wahrnehmen. CSU-Minister Gerd Müller hat umsonst gearbeitet. Katastrophen wie Rana Plaza werden wieder wahrscheinlicher.
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- Mail von Birte, 07.05.2025, um 06:51 mit diesem Link:
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