Raketen. Die Debatte um US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland ist von der Ukraine-Frage zu trennen.
Es geht um viel mehr.
von Wolfgang Richter, aus dem FREITAG, 19.12.2024
Die moralische Empörung über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist berechtigt. Sie darf aber dennoch nicht den Blick für die strate-
gischen Realitäten trüben: Die ab 2026 geplante Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland wird weder der Ukraine helfen noch die Sicherheit des Landes stärken, sondern die nukleare Rüstungskontrolle gefährden und strategische Risiken steigern. Mit Reichweiten von 1.700 bis 3.000 Kilometern würden Tomahawk-Marschflugkörper und Dark-Eagle-Hyperschallraketen von deutschem Boden aus Ziele im gesamten europäischen Russland bedrohen - erstmals seit 1991, als die letzten der nach dem NATO-Doppelbeschluss von 1979 stationierten Pershing-II-Raketen verschrottet wurden.
Die 40 bis 60 „Long-Range Fires" (LRF) plus Nachladungen, um die es geht, sind im Sinne des Systems der Rüstungskontrolle keine „überfällige Antwort" auf russische Iskander-Kurzstreckenraketen in Kaliningrad. Denn die fielen mit maximal 500 Kilometern Reichweite nicht unter den 1987 geschlossenen INF-Vertrag (Interme-diate-Range Nuclear Forces Treaty). Als Präsident Donald Trump diesen 2019 kündigte, ging es um die gM729-Systeme, die aus US-amerikanischer Sicht mit hohen Reichweiten den Vertrag verletzten. Allerdings wurden sie nie kooperativ verifiziert; in der Ukraine traten sie bislang nicht in Erscheinung.
Vielmehr hat Moskau am 21. November 2024 mit Oreschnik eine neue Mittelstreckenrakete „getestet", offenbar eine reichweitenverkürzte Variante der Interkontinentalrakete RS-26. Sie existiert in geringer Zahl, Präsident Wladimir Putin hat aber die Serienproduktion angekündigt. Damit reagiert er nicht nur auf ukrainische Angriffe mit amerikanischen und britischen Raketen auf Russland - sondern ausdrücklich auch auf die deutsch-amerikanische Erklärung vom 10. Juli 2024, jene LRF in Deutschland zu stationieren.
Trump wollte 2019 vor allem China dazu bewegen, dem INP-Vertrag beizutreten und auf die Raketen zu verzichten, die es um die Taiwan-Straße stationiert hat. Denn diese haben die Risiken für US-Interventionen in einer regionale Krise stark erhöht.
Um ihren Zugang zu solchen besonders geschützten Räumen zu erzwingen, haben nun alle US-Teilstreitkräfte kombinierte Verbände mit eigenen Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern aufgestellt.
Das Heer verfügte schon seit 2017 über „Multi-Domain Task Forces" (MDTF), die „Anti-Access/Area Denial"-Fähigkeiten des Gegners überwinden sollen. Drei der fünf MDTF richten sich auf den strategischen Schwerpunkt, den asiatisch-pazifischen Raum. Die zweite MDTF wurde indes 2021
- also vor dem Angriff auf die Ukraine - in Wiesbaden stationiert, während die zugehörigen Raketen zunächst im Bundesstaat New York verblieben. Sie sind es, die ab 2026 erst temporär, dann dauerhaft nach Deutschland kommen sollen.
Alles ist anders als 1979
Der sensible Raum, um den es den NATO-Planern geht, ist die „Suwatki-Enge". Zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und Belarus könnte NATO-Truppen der Landweg nach Litauen versperrt werden. Doch ist das nur 180 auf 100 Kilometer messende Kaliningrader Gebiet nur schwer zu verteidigen. So sind die fraglichen LRF weit mehr als ein operatives Gegengewicht zu den je zwölf Iskander-Systemen in Kaliningrad und Luga, die 2018 dort stationiert wurden und bis knapp vor Berlin reichen.
Weit über die Exklave hinaus könnten sie Moskau in zehn und den Ural in 15 Minuten treffen. So bedrohen sie Ziele im europäischen Russland, die für das nukleare Gleichgewicht wichtig sind. Ihre konventionelle Bestückung ist dabei unerheblich; sie können auch ohne Atomsprengkopf strategische Ziele zerstören.
Dies ist seit Jahren Gegenstand der bilateralen strategischen Stabilitätsgespräche zwischen Moskau und Washington, auch wenn diese seit 2022 nur noch informell stattfinden. Neben der regionalen Vorwärtsstationierung von LRF werden dort auch andere konventionelle Störfaktoren des nuklearen Gleichgewichts thematisiert, etwa die strategische Raketenabwehr. Dieses Gleichgewicht beruht auf gegenseitiger Vernichtungsfähigkeit.
Dazu muss die Überlebens- und Eindringfähigkeit atomarer Interkontinentalwatten gesichert sein, um einen vernichtenden Zweitschlag führen zu konnen. Wer dazu absehbar die Mittel nicht hat, müsste kapitulieren.
Um nun einen instabilen Rüstungswettlauf zu verhindern, haben sich beide Seiten seit Ennde der 1960er darauf verständigt, das nukleare Gleichgewicht durch bilaterale Verträge zu stützen. Zuletzt durch den New-START Vertrag (Strategic Arms Reduction Treaty) von 2010. Parallel sollte der ABM-Vertrag von 1972 (Ant Ballistie Missile Treaty) die strategische Raketenabwehr begrenzen, die gleichfalls die Zweitschlagfähigkeit bedroht. Die regionale Vorwärtsplatzierung präziser, eindringfähiger und durchschlagskräftiger Langstreckenwaffen wie der jetzt in Frage stehenden LRF könnte wiederum einen Erstschlag verstärken. Dann blieben nämlich weniger Zweitschlagwaffen, die von der Raketenabwehr mit höherer Wahrscheinlichkeit abgefangen werden könnten.
Ausschlaggebend für solche Lagebewertungen sind nicht wandelbare Absichtserklärungen, sondern technische Fähigkeiten. Zwar werden sie in beiden Lagern unterschiedlich beurteilt; aber um die Stabilität zu wahren, kommt es auf die jeweiligen Perzeptionen an. Daher tragen alle Schritte, die das Gleichgewicht unterminieren könnten, zur Verschärfung der Bedrohungsperzeptionen und zur Destabilisierung der Sicherheitslage bei.
Um eine globale strategische Raketenabwehr aufzubauen, hatten sich die USA 2002 aus ABM zurückgezogen. Dass sich dies nur gegen „Schurkenstaaten" wie den Iran richtete, hat Moskau nie geglaubt. Der Kreml sieht diesen Schritt als Gefahr für das strategische Gleichgewicht und hat mit neuen Systemen reagiert, um die US-Raketenabwehr zu überwinden - nuklear getriebene Langstreckentorpedos, Marschflugkörper globaler Reichweite und Hyperschallgleitkörper. Das wiederum sorgt die USA, sie wollen diese Systeme künftig in New START erfassen. Gleichzeitig streben sie aber eine Anhebung der quantitativen Obergrenzen oder eine temporäre Aussetzung des Vertrages an, um ein trilaterales Gleichgewicht mit der aufstrebenden Nuklearmacht China zu gewährleisten. Dagegen rechnet Moskau die Atomwaffen Frankreichs und Großbritanniens zum westlichen Arsenal.
Dass ab 2026 wieder von Deutschland aus strategische Ziele im europäischen Russland bedroht werden sollen, ist eine weitere Belastung der Stabilitätsgespräche. Und anders als beim NATO-Doppelbeschluss von 1979 wird die bilaterale Stationierungsentscheidung Washingtons und Berlins diesmal nicht von einem Dialog-Angebot an Moskau begleitet. Die strategischen Folgen sind schwerwiegend und relativieren die vermeintlichen operativen Vorteile der LRF, etwa die Fähigkeit, überraschend Ziele in der Tiefe Russlands anzugreifen - auch solche, die bisher nur durch frühzeitig erkennbare Interkontinentalraketen erreichbar waren. Diese Fähigkeit, russische Raketen zu „zerstören, bevor sie abgefeuert werden", also zuerst zu schießen, passt in kein plausibles politisches Szenario.
Moskau wird solche Waffen nicht bloß als Mittel der Abschreckung bewerten, sondern als Gefährdung des strategischen Gleichgewichts und der nationalen Sicherheit. Wegen der gegebenen geopolitischen Asymmetrie können landgestützte Mittelstreckenraketen nicht gegen die USA wirken, solange sie nicht in Kuba oder Venezuela stehen. Derartiges haben die USA in der Kuba-Krise von 1962 unter Androhung des Atomkriegs unterbunden. Die Stationierung solcher Waffen in Deutschland brächte nun Moskau in eine „Kuba-Situation".
Sollte der Kreml befinden, dass ein militärischer Konflikt unabwendbar ist, müsste er nach militärischer Logik diese Systeme präemptiv zerstören. Um einer existenziellen Gefährdung der Sicherheit Russlands zuvorzukommen, würde dabei der Einsatz taktischer Atomwaffen erwogen.
Wer das Risiko trägt
Die Risiken dieses Szenarios trägt Deutschland allein. Sie übersteigen deutlich die Bedrohung, der es als Drehscheibe für die Verteidigung der NATO-Ostflanke ohnehin ausgesetzt wäre. Denn es ginge dann nicht mehr um defensive Truppenbewegungen, die von deutschem Boden aus nach Polen und Litauen rollen, sondern um die Fähigkeit zum Überraschungsangriff gegen strategische Ziele in der Tiefe Russlands.
Es liegt daher im deutschen Sicherheitsinteresse, die Unterstützung der Ukraine klar zu trennen von der Bewertung der strategischen Folgen einer LRF-Stationierung. Um die strategische Stabilität und Sicherheit Europas zu gewährleisten, sollte Moskau angeboten werden, einen Wettlauf bei der Stationierung landgestützter Mittelstreckenraketen durch Dialog abzuwenden. Dies ist zentral für eine künftige europäische Sicherheitsordnung und muss bei einer Beilegung des Ukraine Konflikts mitbetrachtet werden.
Deutschland muss zurück zum Konzept der Risiko- und Lastenteilung, um eine strategische Isolierung zu vermeiden. Es ist bemerkenswert, dass die bilaterate Entscheidung Deutschlands und der USA, diese LRF auf deutschem Boden zu stationieren, im NATO-Kommuniqué vom selben Tag nicht einmal erwähnt wird. Das von Paris und Berlin geprägte Projekt ELSA (European Long-Range Strike Approach) ist etwas anderes: Es zielt darauf, die Reichweiten europäischer Marschflugkörper zu erhöhen und Bodenstartsysteme zu entwickeln, greift aber nicht in das strategische Gleichgewicht zwischen den USA und Russland ein.
Wiederum anders als 1979 will derzeit kein anderer europäischer Staat diese LRF auf seinem Gebiet sehen. Dafür gibt es gute Gründe. Weniger nachvollziehbar ist - nüchtern betrachtet und trotz des Ukraine-Kriegs - die neue sicherheitspolitische Dringlichkeit, mit der hierzulande die Stationierung der in Frage stehenden LRF begründet wird. Denn heute sind die verbündeten See- und Luftstreitkräfte mit 2.200 Kampfjets und mehr als 3.000 weitreichenden Marschflugkörpern in Europa Russland qualitativ wie quantitativ weit überlegen: Moskau verfügt nur über rund 1.200 Kampfflugzeuge - und sein Raketenpotenzial, das Kiew jüngst mit 1800 bezifferte. wird trotz hoher Produktionsraten im Krieg stetig dezimiert.
Dennoch wurde nun eine Maßnahme angekündigt, welche die Zukunft der nuklearen Rüstungskontrolle in Gefahr bringt. Wenn der New-START-Vertrag im Februar 2026 ohne Interimsvereinbarung ausläuft, gäbe es keine verbindlichen Begrenzungen eines atomaren Rüstungswettlaufs mehr. Deutsches Interesse muss es sein, die nukleare Rüstungskontrolle zu fördern - und nicht einen weiteren Grund für ihr Ende schaffen.
Wolfgang Richter (Oberst a. D.) war Leitender Militärberater in den deutschen UN- und OSZE-Vertretungen. Heute ist er Associate Fellow beim Genfer Zentrum f Sicherheitspolitik (GESP) - andere Veröffentlichungen auf der Seite der "Friedrich-Ebert-Stiftung" (FES)
weitere Infos z.B. hier beim IMI e.V.:
https://www.imi-online.de/2025/01/07/friedensfaehig-statt-erstschlagfaehig/
Die politische Mitte wirbt mit »gegen den Hass«. Dabei setzt der Faschismus auf Befriedung nach innen
Seit einigen Jahren gehört »Gegen den Hass« zu den Lieblings-Statements der selbst erklärten »Zivilgesellschaft«. Hunderte Kultur-, Medien- und Bildungsprojekte haben das Motto für Aktionstage und Kampagnen verwendet, die Publizistin Carolin Emcke mit einem gleichnamigen Buch 2016 den Friedenspreis des Buchhandels erhalten. Gemeint ist die Botschaft natürlich immer irgendwie faschismuskritisch. Der politische Extremismus so heißt es, sei schuld gewesen am Siegeszug der Barbarei. Hätten Nazis und Kommunisten nicht so abgrundtief gehasst, wäre die Weimarer Demokratie bewahrt und Auschwitz verhindert worden.
Hass und Harmonie in Weimar
Man muss kein*e Historiker*in sein, um zu erkennen, was für ein hanebücherner Unsinn mit dem Gegen-den-Hass-Talk verbreitet wird. Denn was hat der Nazi-Barbarei wohl eher den Weg bereitet: der Hass der Kommunist*innen, die Nazis noch 1933 aus ihren Vierteln prügelten, oder die bürgerliche Gemütlichkeit, mit der Konservative und Liberale Hitler erst zum Reichskanzler machten und dann mit allen Vollmachten ausstatteten? Geradezu entlarvend ist die Erklärung, mit der die »Parteien der Mitte« 1947 in einem Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg ihre Stimmen für das Ermächtigungsgesetz 1933 rechtfertigten: Man habe damals zugestimmt, um »möglichst viel von der Weimarer Demokratie in eine bessere Zukunft hinüber(zu)retten«. Meine Antwort auf die oben gestellte Frage ist klar: Hätte die deutsche Gesellschaft den Faschismus doch nur ordentlich gehasst!
Wenn man sich die zwischen 1933 und 1945 produzierten Kinofilme zu Gemüte führt, die auch heute noch zu Feiertagen über die Bildschirme flimmern (z.B. Heinz Rühmanns Endkriegsschmonzette »Die Feuerzangenbowle« von 1944), dann merkt man schnell, dass es ein zentrales Anliegen des Faschismus war, das Harmoniebedürfnis der Deutschen zu stillen. In vielerlei Hinsicht hätte sich die Kultur- und Medienarbeit des Nationalsozialismus mit dem Motto »Gegen den Hass« durchaus anfreunden können.
Das Erzeugen eines gemütlichen Grundgefühls war zentraler Pfeiler des faschistischen Befriedungsprogramms nach innen. Deshalb muss man – wie es der italienische Theoretiker Alberto Toscano vor einigen Monaten in einem »nd«-Interview getan hat – auch die These Hannah Arendts hinterfragen, faschistische Bewegungen zeichneten sich durch Massenmobilisierung aus. Genauer betrachtet, so Toscano, sei der Nationalsozialismus doch vor allem eine Bewegung zur Demobilisierung der Massen gewesen. Die NS-Massenaufmärsche hätten die Funktion gehabt, zu entpolitisieren und antagonistische Konflikte in der Gesellschaft unsichtbar zu machen.
Verbot der »Klassenverhetzung«
Tatsächlich bestand die historische Mission des Faschismus sowohl in Deutschland als auch in Italien darin, die Menschen »zusammenzuführen«. Nach den revolutionären Kämpfen der 1910er und 1920er Jahre galt es, das »Volk« miteinander zu versöhnen – vom Industriellen bis zum Tagelöhner. Der Kampf zwischen den Klassen und jede Ideologie, die den Hass zwischen diesen befeuerte, wurde deshalb unter Strafe gestellt.
Übrigens befand sich der Faschismus damit in bester bürgerlicher Tradition. Schon 1871 war im Deutschen Reich ein Gesetz für mehr Friedfertigkeit erlassen worden. »Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewaltthätigkeiten gegen einander öffentlich anreizt, wird mit Geldstrafe bis zu zweihundert Thalern oder mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft«, hieß es im Paragrafen 130, der allerdings nicht, wie der wohlmeinende Leser jetzt vermuten könnte, dazu gedacht war, Jüd*innen oder Roma vor Pogromen zu schützen. Vielmehr richtete sich das Gesetz gegen die »Klassenverhetzung«. Die rasant erstarkende Arbeiterbewegung sollte in Schach gehalten werden, indem man ihr verbot, über die Existenz einer herrschenden Klasse und deren Abschaffung zu sprechen.
Selbstverständlich stimmt es, dass der Faschismus stets auch ein »Außen« produziert, gegen das sich der Hass der Harmoniegemeinschaft richten soll: Hass auf Jüd*innen, die Sowjetunion, vermeintlich »Minderwertige«, Sinti und Roma und durchaus auch auf jene (allerdings gar nicht so zahlreichen) Liberalen, denen demokratische und Minderheitenrechte wichtiger waren als die Mehrung des Privateigentums.
Hass an sich ist gewiss nichts Positives. Aber umgekehrt sollten wir eben doch auch daran erinnern, dass »innerer Frieden« und »Gemütlichkeit« tragende Säulen des Faschismus sind. Wenn Goebbels’ Propagandamaschine neben sentimentalen Rühr- und Heimatstücken auch rassistische Hetze produzierte, darf das niemanden überraschen. Es sind zwei Seiten derselben Medaille.
Weniger einlullen lassen
Deshalb ist es sicher keine blendende antifaschistische Idee, wenn jetzt gefordert wird, »den Hass im Netz« per polizeilicher Strafverfolgung zu unterbinden. Es gibt Formen des Hasses, die viel zu wenig Raum bekommen: Hass auf soziale Ungleichheit, Unterdrückung, Ausgrenzung, menschliche Gleichgültigkeit und die Willkür der Staatsgewalt zum Beispiel. »Ein intensives Gefühl der Abneigung und Feindseligkeit« – wie der Hass enzyklopädisch definiert wird – ist nämlich notwendige Voraussetzung dafür, dass man Verhältnisse nicht einfach hinnimmt. Hier wären »mehr Hass« und »weniger Toleranz« durchaus angebracht.
Wenn sich Rassismus, Misogynie und Vernichtungsfantasien heute überall breitmachen, hängt das auch damit zusammen, dass ein emanzipatorischer Hass schwer vorstellbar geworden ist. Wenn sich niemand mehr dazu bekennt, dass die von oben geschaffene Normalität ekelhaft ist, richtet sich die allgemeine Frustration gegen Schwächere und »Andere«.
Mein Vorsatz für 2025 lautet deshalb: mich weniger einlullen lassen und entschlossener hassen.
An einer wesentlichen Unterscheidung würde ich dabei allerdings festhalten: Mein Hass soll sich nicht gegen Personen, sondern Strukturen richten. Emanzipatorische Kämpfe haben die Verhältnisse im Blick, die Personen wie Elon Musk und Björn Höcke hervorbringen – nicht die einzelnen, letztlich immer austauschbaren Individuen.
weitere Artikel von u.a. Raul Zelik - z.B. diesen hier:
Was ist Sozialismus heute? Warum wir den Kapitalismus überwinden müssen
In der Linken streitet man sich weiter über die richtige Haltung zum Ukraine-Krieg. Dabei liegen viele Antworten längst auf der Hand. (
Die Kriegsfrage ist bei weitem nicht das einzige Thema, über das sich die gesellschaftliche Linke in den letzten Jahren zerlegt hat. Doch wohl in keiner anderen Frage ist der Streit so existenzbedrohend wie hier. Vor allem für die Partei »Die Linke« wird die Luft allmählich dünn. Nachdem sich Sahra Wagenknecht mit ihrer These, dass linke Positionen zu Feminismus, Migration und Ökologie im Kampf um Wählerstimmen schon mal geopfert werden können, selbständig gemacht hat, droht zum Parteitag in Halle nun schon wieder die nächste Zerreißprobe.
Die Abstimmung Mitte September im EU-Parlament verhieß nichts Gutes: Auf die Frage, ob die Ukraine weitere Nato-Waffenlieferungen erhalten sollte, stimmten die drei deutschen Abgeordneten der Linken mit allen drei möglichen Optionen: Ja, Nein und Enthaltung. Kaum besser war es wenige Tage später bei der Friedensdemonstration zum 3. Oktober, deren wichtigste Forderung in der Aufnahme von Friedensverhandlungen bestand. Während die Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch als eine der Hauptrednerinnen auf der Bühne sprach, bezeichnete die Parteiströmung »Progressive Linke« die Demonstration öffentlich als schweren Fehler, weil die Verantwortung Russlands am Krieg nicht benannt worden sei. Politische Klarheit sieht anders aus.
Dabei gibt es zweieinhalb Jahre nach Beginn des Ukraine-Kriegs eine Reihe von Erkenntnissen, über die eigentlich nicht mehr gestritten werden müsste. Auf der einen Seite ist mittlerweile ziemlich klar, was das Hauptmotiv für die russische Kriegsentscheidung war. Auch wenn das militärische Vorrücken der Nato seit 1990 Moskau unter Druck gesetzt, war es – anders als häufig behauptet – keineswegs der entscheidende Grund. Denn mit dem Krieg hat sich der militärische Druck auf Russland weiter verschärft.
Viel plausibler ist deshalb die Erklärung, dass Moskau der ökonomischen Expansion des Westens und dem damit zusammenhängenden Zerbröckeln des postsowjetischen Machtbereichs Einhalt gebieten wollte. Oder anders ausgedrückt: Nachdem Russland im innerukrainischen Machtkampf um die wirtschaftliche Ausrichtung des Landes schwere politische Niederlagen einstecken musste, versucht es den Zerfall des politischen Einflussgebiets militärisch rückgängig zu machen. Die herrschende Klasse in Russland folgt damit einem subimperialistischen Kalkül: Wer in Anbetracht ökonomischer Unterlegenheit seine Interessen mit »regulären Mitteln« nicht durchsetzen kann, muss auf das Instrument des Krieges zurückgreifen. Subimperialistisch ist diese Politik, weil es sich bei Russland (ähnlich wie bei der Türkei oder dem Iran) um einen Akteur handelt, der mit »dem Westen«, sprich den USA und ihren Verbündeten, auf ökonomischer und technologischer Ebene nicht konkurrieren kann und dessen Machtansprüche deshalb regional begrenzt bleiben.
Umgekehrt hat sich in den vergangenen 30 Monaten aber auch gezeigt, dass die Annahme, demokratische oder menschenrechtliche Prinzipien seien beim »Westen« irgendwie besser aufgehoben als bei Russland, ein politisches Märchen ist. Die USA und die EU, die in der Ukraine das Völkerrecht zu verteidigen behaupten, unterstützen in Gaza und dem Libanon einen Krieg, der gemessen an seiner Brutalität gegen die Zivilbevölkerung das russische Vorgehen in der Ukraine noch übertrifft. Zwar mag »der Westen« über Israels Kriegsverbrechen nicht immer glücklich sein, weil diese die Verlogenheit der eigenen Politik vor Augen führen. Doch trotzdem unternehmen die Verbündeten nichts, um die systematischen Angriffe auf Zivilist*innen und mittlerweile sogar auf UN-Personal zu unterbinden – und das, obwohl Tel Aviv von den Waffenlieferungen und der Rückendeckung aus Washington vollständig abhängig ist. Dass Völkerrecht und Menschrechte hier plötzlich in den Hintergrund treten müssen, hat eine einfache Erklärung. Für den Westen ist Israel, wie es der US-Außenminister und Ex-General Alexander Haig in den 1980er Jahren ausdrückte, der »größte US-Flugzeugträger in einer für Amerikas nationale Sicherheit kritischen Region«.
Vor diesem Hintergrund müsste eine Position der »Linken« zu den eskalierenden Kriegen zunächst auf der Einsicht beruhen, dass es eben keineswegs um die Frage »Autoritarismus gegen Demokratie« geht. Zwar sind die Lebensverhältnisse in Russland heute zweifelsohne unfreier als in den USA oder der EU. Doch erstens wird der fortgesetzte Krieg auch bei uns für einen zügigen Freiheits- und Demokratieabbau sorgen, weshalb die Systemunterschiede schneller verschwunden sein könnten, als uns lieb ist. Und zweitens sind die politischen Differenzen eben nicht Kriegsursache. Hinter dem westlichen Engagement in der Ukraine steckt der eigene geopolitischer Machtanspruch. Und hier muss man deutlich betonen: Das transatlantische Bündnis aus USA und EU ist nicht nur nach wie vor der wichtigste Machtblock in der Welt, sondern verfügt auch mit Abstand über das zerstörerischste Waffenarsenal. Durch China und verschiedene subimperialistische Staaten herausgefordert, wird »der Westen« bei Bedarf nicht zögern, seine Gewaltmittel rücksichtslos einzusetzen.
An dieser Stelle wird häufig eingewandt, dass man den russischen Überfall auf die Ukraine nicht allein durch eine geopolitische Brille lesen dürfe. Die Argumentation geht in etwa so: Es mag ja sein, dass die Nato die Ukraine aus eigennützigen Motiven unterstützt, doch ähnlich wie die kurdische Selbstverwaltung in Rojava hat auch die Ukraine ein Recht, alle Hilfe zu nehmen, die sie bekommen kann. Richtig daran ist: Ein großer Teil der ukrainischen Bevölkerung (allerdings auch längst nicht alle) wünschen sich mehr westliche Waffenlieferungen. Doch immer fragwürdiger ist, ob sich mit den Mitteln des Staatenkriegs irgendetwas in Richtung Freiheit bewegen lässt. Bei den Artilleriegefechten an der ukrainisch-russischen Front sterben die Soldaten wie im 1. Weltkrieg als Bedienungspersonal einer industriellen Materialschlacht. Dazu kommt, dass es bei diesem Krieg um kapitalistische Staatenkonkurrenz geht, bei der der Grad der Oligarchisierung, nicht aber der oligarchische Charakter des Systems selbst zur Disposition steht. Mit dem Kampf in Rojava, wo die Guerilla auf den Prinzipien von Selbstorganisierung und Feminismus beruht und ein alternatives Gesellschaftsprojekt aufbaut, hat der Kampf des ukrainischen Nationalstaats wirklich kaum etwas gemein.
Auch im Staatenkrieg des 21. Jahrhunderts geht es nicht um Demokratie und Menschenrechte, sondern um die Sicherung von Wirtschaftsräumen.
Bei der Debatte um Waffenlieferungen sollte man folgendes betonen: Auch wenn die militärische Unterstützung der Nato eine schnelle Unterwerfung der Ukraine durch Russland verhindert hat, haben sich ansonsten fast alle Befürchtungen bewahrheitet. Um den russischen Rechtsextremismus zu stoppen, hat man die ukrainische Rechte gestärkt. Auf den Friedhöfen der Westukraine flattern heute die rotschwarzen Fahnen der rechtsextremen Bandera-Bewegung, als wäre das die normalste Sache der Welt. In den Schützengräben der Ukraine wird ein Krieg geführt, der in seiner nationalen Stumpfheit den Verbrechen des 1. Weltkriegs in nichts nachsteht. Und selbst ihre Unabhängigkeit hat die Ukraine längst verloren: Die westlichen Kreditgeber, die lange Erfahrung im Ausplündern rohstoffreicher Länder besitzen, werden sich nach Friedensschluss an der Ukraine gütlich tun. In Zeiten eines kriselnden Kapitalismus wird es weder einen Marshallplan noch Sozialprogramme für das gebeutelte Land geben.
Das größte Fiasko der europäischen Linken im 20. Jahrhundert war bekanntlich die Entscheidung der Sozialdemokratien, sich 1914 zur Nation zu bekennen und auf der Seite ihrer jeweiligen Eliten in den Krieg zu ziehen. Millionen Tote, der Siegeszug des Faschismus und ein 2. Weltkrieg waren die Folge. Diese Katastrophe hätte man vermeiden können, wenn mehr Linke rechtzeitig begriffen hätten, dass es eben nicht um den Konflikt »westliche Zivilisation gegen russischer Despotismus« oder »französischer Republikanismus versus preußischer Militarismus«, sondern um ganz banale kapitalistische Staatenkonkurrenz ging. Das Versagen der Sozialdemokratie bestand darin, nicht rechtzeitig für eine Internationale der Deserteure geworben zu haben.
Gewiss: 2024 ist nicht 1914. Aber einiges ist eben doch auch ähnlich. Auch im 21. Jahrhundert geht es im Staatenkrieg nicht um Demokratie und Menschenrechte, sondern um die Sicherung von Wirtschaftsräumen. Wer sich hier auf die Seite der Mächtigen im eigenen Land schlägt, hat schon verloren.
Zeitenwende - Die Weltordnung rentabel machen
Aufrüstung, Zölle, Sanktionen und Militarisierung des Handels kosten Tausende von Milliarden. Worin liegt ihr Ertrag?
Stephan Kaufmann, nd, 25.05.24
Ist die Zeitenwende ein gutes Geschäft für den Westen? Aus ökonomischer Sicht scheinen sich die Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Angriff sowie der neue Kalte Krieg gegen China nicht zu rentieren. Die USA und Europa müssen Hunderte von Milliarden an zusätzlichen Rüstungsausgaben stemmen, Energie hat sich verteuert, die Sicherung strategischer Lieferketten bringt massive Kostenerhöhungen, Investitions- und Exportbeschränkungen drücken die Profite der Konzerne. Doch all dieser Aufwand sei nötig, so heißt es aus Washington und Brüssel, um die globale Geltung des Rechts gegen autokratische Regime zu verteidigen. Das klingt uneigennützig – und ist auch nicht ganz falsch. Denn genau in der Stärkung der »regelbasierten Weltordnung« liegt für den Westen der ökonomische Nutzen der Zeitenwende.
Die Kosten
»Unsere Welt durchlebt ein Zeitalter von Konflikten und Konfrontationen, von Fragmentierung und Furcht«, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Anfang des Jahres auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. »Ohne Zweifel sind wir mit dem größten Risiko für die Weltordnung in der Nachkriegsgeschichte konfrontiert.« Die USA und die EU-Staaten – der »Westen« – sehen sich vor allem an zwei Fronten herausgefordert: bei der Unterstützung der Ukraine gegen die russische Invasion und bei der Einhegung Chinas, das inzwischen als »systemischer Rivale« gilt. Gerade im politisch linken Lager wird bei Kriegen und Konflikten schnell an Profite gedacht. Zunächst einmal aber verschlingen beide Kämpfe des Westens enorme Summen.
Das fängt bei der Unterstützung der Ukraine an. Insgesamt haben europäische Geber dem Land bislang Hilfen von rund 90 Milliarden Euro zugewiesen, im Falle der USA sind es knapp 70 Milliarden, wobei der US-Kongress gerade ein weiteres Multimilliarden-Dollar-Paket genehmigt hat. Doch das sind eher geringe Summen verglichen mit den Kosten, die insbesondere Europa für die ökonomische Abkopplung von Russland tragen muss. Europas Direktinvestitionen in Russland, die 2021 noch bei 250 Milliarden Euro lagen, sind geschrumpft und gefährdet. Einnahmen aus dem Export nach Russland sind um über 50 Milliarden Euro pro Jahr eingebrochen. Vor allem aber hat der Ausfall russischer Gaslieferungen die Energierechnung sprunghaft erhöht, was in der EU die Inflationsrate in die Höhe und das Wirtschaftswachstum nach unten getrieben hat. Ein Prozentpunkt weniger Wachstum bedeutet für die EU einen Verlust von rund 170 Milliarden Euro.
Weit höhere volkswirtschaftliche Kosten verursacht der Versuch einer polit-ökonomischen Einhegung Chinas, der – je nach Berechnung – größten oder zweitgrößten Wirtschaft der Welt. Von Chinas Aufschwung hat der Westen in den vergangenen Jahrzehnten massiv profitiert: Die Volksrepublik lieferte billige Waren, entwickelte sich zu einem lukrativen Exportmarkt für den Westen, dessen Konzerne Hunderte von Milliarden in China investierten, um vom dortigen Aufschwung zu partizipieren. Chinas Wachstum zog Dutzende von anderen Schwellenländern mit, von deren Wachstum die Industriestaaten ebenfalls profitierten. Dieser liberalisierte Weltmarkt mit seinen weltumspannenden Lieferketten, an denen die multinationalen Konzerne des Westens gut verdienten, wird nun Stück für Stück politisch eingeschränkt. »Die liberale globale Ordnung fällt langsam auseinander«, so das britische Magazin »Economist«.
Dabei gerät der Wunsch der Politik, China zu bremsen, in Konflikt mit dem Streben nach Profit und Wachstum. So kämpft in den USA eine Investorengruppe rund um den Vermögensverwalter Blackstone gegen ein Gesetz des Bundesstaates Florida, das chinesische Investitionen in die lokale Immobilienbranche verbietet. Die großen US-Computerchiphersteller beschweren sich über die Einschränkungen beim Export moderner Chips nach China, mussten sich von der US-Wirtschaftsministerin allerdings sagen lassen: »So ist das Leben. Der Schutz unserer nationalen Sicherheit ist wichtiger als kurzfristige Umsätze.« Auch in Deutschland werden die Unternehmen aufgefordert, ihre Geschäftsbeziehungen zu China zu überdenken, was bei diesen auf wenig Gegenliebe stößt. Denn Chinas Industrie liefert gute und günstige Vorprodukte, die deutsche Unternehmen für ihre Wettbewerbsfähigkeit brauchen. Doch der Industrieverband BDI fordert von ihnen nun ein Umdenken: »Die sicherheitspolitische Lage lässt eine rein betriebswirtschaftliche Betrachtung zentraler Größen in der unternehmerischen Beschaffung nicht mehr zu.«
Ebenfalls viel Geld kosten Zölle, mit denen der Westen seine heimischen Industrien vor China schützen und China gleichzeitig schaden will. Denn die Einfuhrzölle erhöhen die Preise für die heimischen Konsumenten und Unternehmen. Laut US-Ökonomin Mary E. Lovely kosteten allein die von US-Präsident Donald Trump eingeführten Zölle die US-Verbraucher und -Unternehmen 180 Milliarden Dollar. Doch die neoliberalen Zeiten von maximalem Profit und minimalen Kosten scheinen vorbei zu sein. Auch die „EU-Handelspolitik darf nicht mehr allein bei potenziellen Wertschöpfungsvorteilen ansetzen“, so der BDI.
»Die Sicherheits- lage lässt eine rein betriebswirtschaftliche Betrachtung zentraler Größen nicht mehr zu.«
"Bundesverband der Deutschen Industrie"
Teuer ist auch der Versuch der USA und Europas, ökonomische Abhängigkeiten zu mindern, indem alte und neue Industrien auf ihren Territorien angesiedelt werden, etwa für die Batterie- oder Computerchip-Fertigung. »Industriepolitik basiert zumeist auf kostspieligen Subventionen oder Steuervergünstigungen, die schädlich für die Produktivität sein können«, mahnt der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem jüngsten Weltwirtschaftsausblick. Zwar werden per Subventionen Geschäftsgelegenheiten für lokale Unternehmen in der EU und den USA geschaffen. Unklar ist aber, ob sich das gesamtwirtschaftlich mehr lohnt als der Bezug billiger Chips und Batterien aus dem Ausland. Martin Gornig vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung hat Zweifel: »Die Interventionen in den USA als auch in Europa sind weniger industriepolitisch motiviert, sondern nehmen bewusst Effizienzverluste als sicherheitspolitische Versicherungsprämie in Kauf.«
Diese »Effizienzverluste« sind gigantisch, laut Schätzungen des IWF könnte die vom Westen forcierte »Fragmentierung« des Weltmarkts die globale Wirtschaftsleistung längerfristig um sieben Prozent drücken, das summiere sich auf 7,4 Billionen Dollar. Dazu kämen die Kosten anderer Beschränkungen wie der technologischen Entkopplung von China oder der Unterbrechung von Investitionsströmen. Ein Krieg mit China um Taiwan etwa könnte laut Finanzagentur Bloomberg zehn Billionen Dollar kosten. Doch scheint man in den USA und Europa bereit zu sein, diese Preise gegebenenfalls zu zahlen. Schließlich ist »der Grundgedanke geoökonomischer Maßnahmen nicht die Erzielung beidseitiger wirtschaftlicher Vorteile, sondern das Streben nach geostrategischen Vorteilen«, erklärt Lucia Quaglia, Politologin an der Universität Bologna. Im Klartext: Auch im Wirtschaftskrieg liegt der Ertrag in der Schädigung des Gegners.
Und schließlich addieren sich zu den Kosten der Zeitenwende noch die dauerhaft höheren Ausgaben für Rüstung. Die Nato-Staaten haben sich verpflichtet, ihre Militärbudgets auf mindestens zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung zu erhöhen. Vielfach wird damit gerechnet, dass eher Niveaus von vier Prozent erreicht werden müssen, so wie zu Zeiten des Kalten Kriegs gegen die Sowjetunion. Jennifer Welch vom Finanzdienst Bloomberg Economics errechnet, dass in diesem Fall auf die G7-Staaten mehr als zehn Billionen Dollar an zusätzlichen Militärausgaben in der nächsten Dekade zukommen. Das bedeutet Steuererhöhungen, Einsparungen oder zusätzliche Schulden, also zusätzliche Zinsausgaben, die in den USA bereits heute höher liegen als die Ausgaben für das Militär.
Die Erträge
Soweit zu den gigantischen Kosten, die die Eindämmung Russlands und Chinas dem Westen verursacht. Und was sind die Erträge? Gemessen am Aufwand erscheinen Rüstungsexporte als vernachlässigenswert. So hat zum Beispiel Deutschland im vergangenen Jahr Militärgüter über 12,2 Milliarden Euro ausgeführt. Für die Produzenten von Panzern und Granaten ist das ein gutes Geschäft. Insgesamt aber beträgt der Rüstungsexport nur ein Zwanzigstel der deutschen Ausfuhren von Kraftwagen oder ein Fünftel der Ausfuhren von Nahrungsmitteln. Sogar der Müllexport bringt Deutschland mehr ein als der von Waffen.
Zwar können höhere staatliche Investitionen in die Rüstungsindustrie dazu führen, dass lokale oder regionale Wirtschaftsräume gestärkt werden, weil die Rüstungsproduktion weitere Zulieferer beschäftigt. Insgesamt aber bleiben die volkswirtschaftlichen Erträge fragwürdig, auch weil die staatlichen Rüstungsgelder in anderen Bereichen – Technologie, Bildung – oftmals produktiver eingesetzt wären. »Es gibt eine umfangreiche Literatur über die wirtschaftlichen Folgen von Militärausgaben«, bilanziert der Ökonom Muhammad Azam in einer Studie über Rüstung und Wachstum. »Es hat sich jedoch kein Konsens darüber herausgebildet, ob Militärausgaben für das Wirtschaftswachstum vorteilhaft oder nachteilig sind.« Hinweise auf einen positiven Einfluss seien dürftig. Fragwürdig sind auch Hoffnungen, die Ökonomien des Westens könnten per Saldo – also nach Abzug aller Kosten – von einem Wiederaufbau der Ukraine profitieren, auch weil dieser Aufbau zum Großteil vom Westen bezahlt werden wird.
Ein bedeutender ökonomischer Ertrag der Zeitenwende dürfte sich dagegen ergeben, wenn es den USA gelingt, mit China tatsächlich einen mächtigen Konkurrenten um die Märkte und Technologien der Zukunft auszuschalten oder zumindest zurückzustufen, wodurch westlichen Konzernen mehr Marktanteile blieben. Schließlich »dominiert China die globale Produktion von Solarpaneelen, Batterien und Windturbinen, so dass die Politik in den USA fürchtet, das globale Rennen um grüne Technologien zu verlieren, sowohl weltweit als auch in ihren Hinterhöfen«, schreibt der Economist. Die Klage Washingtons und Brüssels über Chinas »unfaire« Förderung der eigenen Industrie verweist allerdings auf ein übergeordnetes Problem, das zu lösen sie sich vorgenommen haben: der Zerfall ihrer Weltordnung. »Unsere Unternehmen agieren in einem Umfeld, in dem internationale Regeln zunehmend ignoriert werden«, so Ursula von der Leyen. Und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte vor einigen Wochen, die »Haltbarkeit eines Regel- und Wertegefüges« sei in Gefahr und damit die gesamte »europäische Zivilisation«.
Dem Westen geht es bei dieser Klage nicht allein um Konkurrenzvorteile auf einzelnen Märkten. Es geht ihm um die Kontrolle des Marktes selbst, also um seine Stellung als Ordnungsmacht, die die Regeln setzt und damit entscheidet, was Recht ist und was nicht – welche Subventionen erlaubt sind, welche Güter gehandelt werden dürfen, wo investiert werden darf und wo nicht. Bei der Darstellung des Problems, vor das sich die US-Regierung gestellt sieht, wählte US-Sicherheitsberater Jake Sullivan vor einem Jahr nicht zufällig einen Ausgangspunkt, zu dem die Dominanz der Vereinigten Staaten unangefochten war: »Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Welt unter der Führung der USA eine neue internationale Wirtschaftsordnung aufgebaut. Doch in den vergangenen Jahrzehnten sind Risse in diesem Fundament aufgetaucht.« Ähnlich sieht man das in Europa. Der Munich Security Report zitierte Macron bereits 2020, lange vor der russischen Invasion der Ukraine, mit der Aussage: »Wir waren an eine internationale Ordnung gewöhnt, die auf der westlichen Hegemonie seit dem 18. Jahrhundert beruht hatte. Die Dinge ändern sich.«
Die Ordnung
Die westliche Hegemonie war über Jahrzehnte die Voraussetzung dafür, dass die USA und Europa die Regeln des Weltgeschäfts bestimmten; diese Regeln wiederum sicherten im Gegenzug den ökonomischen Erfolg des Westens und damit die materielle Basis seiner Hegemonie. Ihr ökonomischer Ertrag entstand also nicht aus einer Eroberung und kolonialen Beherrschung fremder Länder; sondern bestand im Aufbau eines globalen Systems, das die ganze Welt zur Wachstumsquelle der Unternehmen des Westens machte. »Statt formeller Imperien und territorialer Exklusivität«, so schrieb kürzlich der griechische Ökonom Costas Lapavitsas im »nd«, »benötigen die multinationalen Konzerne erstens einen institutionellen Rahmen, der es ihnen ermöglicht, den Weltmarkt auszudehnen und zu beherrschen, und zweitens eine sichere Form von Weltgeld, um Verpflichtungen zu begleichen und die Wertproduktion global zu erhalten«.
Gerade im Bezug auf das »Weltgeld« lässt sich erkennen, das der Weltmarkt noch immer der des Westens ist. Zwar haben die USA, Europa und Japan an Marktanteilen verloren, als Produktionsstandorte sind sie insbesondere gegenüber China zurückgefallen. Als Finanzmächte aber bleiben sie beherrschend. Sie sind die Heimat der Weltgelder Dollar und Euro, auf die 80 Prozent der internationalen Kredite und Bankguthaben lauten. In Nordamerika und Westeuropa liegen die Zentren des globalen Kapitalmarktes, zu denen das Geld der Welt fließt und von wo aus global investiert wird. »Die USA sind quasi der Risikokapitalgeber der ganzen Welt und wichtigster globaler Kreditgeber«, erklärt eine neue Studie der Paris School of Economics. Dieses »exorbitante Privileg« der USA sei immer weiter gewachsen und zu einem Privileg der reichen Länder geworden – also vor allem der USA plus Europa.
»Diese reichsten Länder agieren als Banker der Welt«, so die Wissenschaftler. »Sie ziehen Kapital an, zahlen ihren Gläubigern dafür geringe Zinsen und investieren diese Zuflüsse in profitablere Geschäfte weltweit.« Dieses Privileg sei äußerst lukrativ: Die Paris School of Economics schätzt den Netto-Ertrag, der durch die Transfers der armen zu den reichsten Ländern entsteht, auf zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung. Zu den reichsten Ländern gehörten die USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Kanada, aber auch Australien, Belgien, Norwegen, die Schweiz und Israel. »Die zentrale Position dieser Länder im internationalen Geld- und Finanzsystem erlaubt es ihnen, als Vermittler zu fungieren«, erklären die Wissenschaftler. »Diese Rolle wiederum stärkt ihr Privileg, da sie billig an Kapital kommen und es in produktive Investments lenken können. Dieser Zirkel wiederum verewigt ihre Dominanz und stärkt ihre Position als Schlüsselmächte der Wirtschaftswelt.« Zudem gewährleistet diese finanzielle Dominanz, dass die Finanzmärkte den Führungsmächten des Westens jeden Kredit gewähren, den sie für ihre Aufrüstung brauchen.
Diese Weltordnung hat nicht nur gigantische Reichtümer im Westen geschaffen, sondern auch den Aufstieg Chinas ermöglicht, das nun vor einem Widerspruch steht: Zum einen ist sein ökonomischer Erfolg ein Produkt der US-dominierten Weltordnung, was man insbesondere daran erkennt, dass der Billionenstaatsschatz der chinesischen Zentralbank vor allem aus Dollar und Euro besteht. Zum anderen aber wächst China aus dieser Ordnung heraus. Die EU und die USA sehen die Volksrepublik nicht länger nur als Konkurrenten, sondern als »systemischen Rivalen«, womit sie anerkennen, dass China ihnen auf Augenhöhe begegnet. Schließlich will ein Rivale das Gleiche wie man selbst.
Damit sieht insbesondere Washington die gesamte Weltordnung bedroht – denn als Schöpfer und Garant dieser Ordnung definieren die USA jeden Angriff auf die Ordnung als Angriff auf die eigene Vorherrschaft. Die Maßnahmen, die die US-Regierung nun zur Sicherung ihrer Vorherrschaft ergreift, bringen diese Ordnung tatsächlich in Gefahr. »Die Ordnung, die seit dem Zweiten Weltkrieg die Weltwirtschaft regiert hat, wird ausgehöhlt, heute steht sie vor dem Zusammenbruch«, schreibt der Economist und zählt die Risse im Fundament auf: Die Zahl der internationalen Wirtschaftssanktionen hat sich seit den 1990ern vervierfacht, die USA sanktionieren inzwischen sogar Drittländer, die sich ihren Sanktionen gegen Russland und China nicht anschließen. China und die USA liefern sich einen »Subventionskrieg« zur Besetzung von Zukunftsmärkten, in den immer mehr Länder einsteigen. Die globalen Finanzflüsse nehmen ab. Die Welthandelsorganisation WTO kann aufgrund eines US-Boykotts keine Streitfragen mehr entscheiden, »der IWF ist in einer Identitätskrise, der UN-Sicherheitsrat ist gelähmt – eine erneute Präsidentschaft Donald Trumps oder die Furcht vor chinesischen Billigimporten könnte die Normen und Institutionen weiter erschüttern«, warnt der Economist.
»Die reichsten Länder agieren als Bankiers der Welt.«
"Paris School of Economics"
Vorbei sind damit die Zeiten des Neoliberalismus, von dem immer deutlicher wird, dass es sich bei ihm weniger um ein theoretisches oder praktisches Konzept handelte, sondern bloß um eine bestimmte Machtkonstellation auf dem Weltmarkt. Es war die Zeit, in der der Westen gesiegt hatte und seine Konzerne in der Lage waren, den gesamten Globus zu ihrem Vorteil zu nutzen – ihnen musste nur die Bahn frei gemacht werden: Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung, Globalisierung waren die Stichworte. Die USA und ihre Verbündeten konnten aufgrund ihrer Dominanz davon ausgehen, dass ein freier Weltmarkt wie automatisch ihnen zugutekommen würde.
Heute dagegen machen sie sich daran, den Weltmarkt neu zu regulieren und ihre Stellung als globale Ordnungsmächte zu festigen, also als Mächte, die das Weltgeschäft nicht nur bestimmen, sondern auch von ihm nachhaltig profitieren. Dieser neue Kalte Krieg unterscheidet sich grundlegend vom alten gegen die Sowjetunion: »Im Gegensatz zum ersten Kalten Krieg, als die Großmächte versuchten, ihr Territorium in Blöcke einzugliedern, konkurrieren die USA und China derzeit auf globaler Ebene um die zentrale Stellung in vier miteinander verknüpften Netzwerken, von denen sie annehmen, dass sie die Hegemonie im 21. Jahrhundert untermauern werden: Infrastruktur (z.B. Logistik und Energie), Digitaltechnik, Produktion und Finanzen«, schreibt eine Gruppe internationaler Wissenschaftler, die Mitglieder des Second Cold War Observatory sind.
In der Ukraine geht es dem Westen daher nicht nur um die Einbindung des Landes in das eigene System oder nur um das Zurückschlagen Russlands, sondern ums Ganze. »Wenn die Ukraine verliert, werden unsere Feinde die Weltordnung bestimmen«, warnte George Robertson, ehemaliger Nato-Generalsekretär. Vor diesem Hintergrund sieht Kathryn Levantovscaia von der US-Denkfabrik Atlantic Council in der Hilfe für die Ukraine ein »strategisches Investment«: Der Krieg biete ein »realistisches Testfeld für US-Waffensysteme und ihre Wirkung«, und generiere dadurch Erkenntnisse, die »auf anderem Wege nicht zu gewinnen wären«. Zudem, so Levantovscaia, habe der Krieg Russland erheblich geschwächt, und zwar zu einem günstigen Preis: »Die US-Hilfe für die Ukraine beläuft sich auf etwa fünf Prozent des Jahresbudgets des Verteidigungsministeriums, was für die Eindämmung und Erschöpfung eines der größten Widersacher der Vereinigten Staaten ein gutes Geschäft ist. Eine russische Niederlage in der Ukraine wäre daher ein doppelter Schlag – sie würde die Abschreckung gegenüber China stärken.«
Ein neues Geschäftsmodell
Insofern ist es korrekt, wenn Politiker*innen in Europa und den USA sagen, es gehe ihnen um die »regelbasierte Weltordnung«. Denn die Ordnung, die derzeit noch herrscht und die bedroht ist, ist die der USA, von ihnen geschaffen und aufrechterhalten und von ihrem Willen abhängig – daher die allseitigen Warnungen vor einer erneuten Präsidentschaft Donald Trumps. Denn die Verbündeten der USA bleiben in ihrem Erfolgsweg abhängig von den Vereinigten Staaten, die das System erhalten, von dem auch die europäische Wirtschaft lebt. Der Bundesverband der deutschen Industrie drückt es so aus: »Der Schutz des Völkerrechts gegenüber Russland sichert gleichzeitig die Grundlagen für internationale Wirtschaftsbeziehungen und ist daher prioritär für die Industrie in Europa.«
Ob sich der ökonomische Ertrag der Neuordnung der Welt für die USA und ihre Verbündeten auch einstellen wird, ist allerdings offen, selbst wenn ihr Vorgehen gegen China und Russland erfolgreich sein sollte. »Keine Frage, für die Herrschenden aller Länder mit Ausnahme jener, die von den USA zu Schurkenstaaten erklärt wurden, war die neoliberale Globalisierung ein profitables Geschäftsmodell«, schreibt der Ökonom Ingo Schmidt in der Monatszeitung »ak«. Dass dieses Geschäftsmodell »schließlich auch in seinen Kernländern zu schweren Wirtschaftskrisen geführt hat, heißt nicht, dass die seither erfolgte Militarisierung der Außenpolitik ein besseres Geschäftsmodell für das Kapital als Ganzes darstellt – die Rüstungsindustrie ausgenommen«.
Ich empfehle auch diesen Podcast (hn, 04.05.24):
Von Mao bis Xi – mit Felix Wemheuer (https://dasneue.berlin/2024/04/22/von-mao-bis-xi-mit-felix-wemheuer/ )
Über den Podcast
Wir diskutieren über das, was uns interessiert: Wie funktioniert Gesellschaft? Was heißt es heute, politisch zu sein? Welches Wissen ordnet unsere Welt? Das Neue Berlin ist ein sozial- und geisteswissenschaftlicher Podcast zur Gegenwart.
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