Unfairer Welthandel
Robert Habeck und Katharina Dröge behaupten, für einen fairen Welthandel einzustehen. In Wirklichkeit setzen sie die Politik auf Kosten des Globalen Südens fort.

Seit Langem steht die EU-Handelspolitik in der Kritik  (17.06.22)

Robert Habeck und Katharina Dröge wollen die europäische Handels­agenda neu gestalten. Ein „Weiter so“ dürfe es nicht geben. Profit soll nicht mehr der bestimmende Faktor dafür sein, welche Waren von A nach B transportiert werden. Vielmehr sollen Nachhaltigkeit und Fairness zukünftig die Fahrtrichtung vorgeben. Europa müsse aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und sich bei Handelsabkommen für mehr Transparenz und Partizipation von Zivilgesellschaft und Europarlament einsetzen.

Chapeau! Durch den Wechsel der Grünen von der Oppositions- auf die Regierungsbank scheint die Kritik am Freihandel zur offiziellen Politik der Bundesregierung geworden zu sein. Trotzdem bereitet der Grünen-Vorschlag Unbehagen. Die Anliegen der Gesellschaften des Globalen Südens finden keine Beachtung. Aber globale Handelsregeln, die ihre Interessen nicht respektieren, sind alles andere als fair. Es passt gut in den gegenwärtigen Zeitgeist. Europa First!

Der Artikel blendet aus, dass die EU-Handelspolitik seit Langem in der Kritik steht. Dies betrifft sowohl das Agieren bei Verhandlungen innerhalb der WTO als auch die Ausgestaltung bilateraler Abkommen. In der Hoffnung auf Zugang zum EU-Markt lassen Entwicklungsländer in Afrika, Südamerika und Südostasien ihre eigenen Märkte ungeschützt für EU-Exportinteressen. Kleinindustrien und Bäue­r:in­nen in Entwicklungsländern bleiben auf der Strecke – Arbeitsplätze gehen verloren, Hunger und Armut wachsen.


Die WTO erlaubt der EU, weiter mit Milliarden seine Landwirtschaft zu subventionieren, aber Indien wird nur ausnahmsweise erlaubt, von Bäue­r:in­nen Weizen aufzukaufen, um es in Armutsprogrammen zu verteilen. Dabei ist richtig: Entwicklungsländer stehen in einem multilateralen Handelssystem besser da, weil Entscheidungen einstimmig fallen müssen. Einzeln können sie ihre Interessen bei EU-Abkommen nicht durchsetzen.

Dagegen fordern Habeck/Dröge von der EU ein noch „mutigeres“, zur Not auch ein unilaterales Voranschreiten; sehr gerne im transatlantischen Bündnis. Dieser Ansatz ist nicht neu. Bereits die TTIP-Verhandlungen sollten für die USA und die EU die Blaupause für die Handelspolitik des 21. Jahrhunderts bilden. Neu an dem Vorschlag ist nur, dass er von den Grünen kommt. Die Autoren interessiert nicht, ob die Entwicklungsländer an der Weiterentwicklung globaler Standards beteiligt sind.

Die Ampel setzt die Politik der alten Bundesregierung fort: Pro forma wird weiterverhandelt, de facto ist Doha begraben.

Sie kommen in der neuen Welthandelsordnung der Grünen gar nicht vor beziehungsweise sind passive Empfänger von Regeln führender Industriestaaten. Symptomatisch: Habeck und Dröge verlieren kein Wort zu Doha: Mit einer 2001 in Katar gestarteten WTO-Verhandlungsrunde sollten Ausnahmen der neoliberalen Welthandelsregeln für Entwicklungsländer möglich werden, zum Beispiel verbesserter Marktschutz für Landwirtschaft und Industrien. Damit setzt die Ampel die Politik der alten Bundesregierung fort: Pro forma wird weiterverhandelt, de facto ist Doha begraben.

Apropos neue Verhandlungen im Rahmen der WTO: Unbemerkt von der Öffentlichkeit werden schon seit drei Jahren sogenannte „neue“ Themen verhandelt – allerdings ohne klarem Mandat der Welthandelsorganisation und ohne Transparenz. Verschiedene „Koalitionen der Willigen“ verhandeln jene Themen hinter verschlossenen Türen, für die sie die Gesamtheit der WTO-Mitglieder nicht gewinnen konnten. Eine dieser Verhandlungen soll zu einem Abkommen zum digitalen Handel führen. Das könnte ein Lackmustest für Robert Habeck werden. Als er noch in der Opposition war, stand Habeck einem solchen Abkommen sehr kritisch gegenüber, da es die Bemühungen der EU-Kommission beeinträchtigen könnte, die europäische Digitalwirtschaft unabhängiger von den dominanten Digitalplattformen zu machen.

Die Autoren werfen dem panasiatischen Handelsabkommen RCEP vor, keine Menschenrechtsstandards zu setzen. Sie selbst erwähnen die Menschenrechte bei ihrer Forderung nach Neuausrichtung der EU-Handelspolitik jedoch nicht. Dabei besteht für die EU dringender Handlungsbedarf. Seit Jahr(zehnt)en klafft bei der europäischen Menschenrechtspolitik eine enorme Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Dabei verpflichtet sich die EU im Lissabon-Vertrag, ihre gesamte Außenwirtschaftspolitik und damit auch die Handelspolitik menschenrechtsgeleitet auszurichten.


Menschenrechtsklausel wird gar nicht angewandt

Eine in fast allen europäischen Handelsabkommen enthaltene Menschenrechtsklausel wird nur sehr selektiv oder gar nicht angewandt. Besonders gravierend ist die Untätigkeit Brüssels beim Handelsabkommen mit Mexiko, das 2000 in Kraft trat. In dem Land werden die Menschenrechte mit Füßen getreten. Seit die Regierung den Drogenkartellen im Jahr 2006 den Krieg erklärt hat, gab es Hunderttausende Gewaltopfer. In keinem Land der Welt werden mehr Jour­na­lis­t*in­nen und Ak­ti­vis­t*in­nen ermordet.

Entsprechend problematisch sind die Verhandlungen für die Bundesregierung über ein neues EU-Mexiko-Abkommen. Für Außenministerin Annalena Baerbock, die mit dem Anspruch angetreten ist, die deutsche Außenpolitik feministisch auszurichten, ist ein solches Abkommen politisch brisant: In Mexiko gibt es die meisten Frauenmorde der Welt.

Noch ist offen, wohin sich die deutsche und europäische Handelspolitik entwickelt. Die Bundesregierung und ihr Wirtschaftsminister Habeck sind nicht einmal sechs Monate im Amt. Noch ist Zeit für Kurskorrekturen: Die noch andauernde WTO-Ministerkonferenz macht deutlich, wie dringend notwendig eine Reform des Welthandels ist. Will Habeck tatsächlich eine globale Handelsordnung unterstützen, in der – auf Kosten des Globalen Südens – die Wirtschaftsinteressen der führenden westlichen Industrienationen die Regeln setzen, oder wird er den Versuch unternehmen, eine multilaterale und ausgleichende Handelspolitik einzufordern?

GASTKOMMENTAR VON SVEN HILBIG & FRANCISCO MARÍ
Erster ist Jurist und bei Brot für die Welt verantwortlich für die Themen Handelspolitik und Umweltpolitik. Zuvor arbeitete er bei der Heinrich-Böll-Stiftung zu verschiedenen Themen an der Schnittstelle von Ökonomie und Ökologie. Von 2001 bis 2006 war er als Researcher und Rechtsberater für die brasilianische Menschenrechtsorganisation Global Justice, in Rio de Janeiro, tätig.
Der zweite ist Projektreferent bei Brot für die Welt.