Diplomat gegen General: „Wenn Argument schwach, schreien!“
Auch wenn Antworten auf Repliken aufgrund unvermeidlicher Bezugnahmen schwere Lesekost sind, will ich mich zu Klaus Wittmanns Kritik (Berliner Zeitung vom 16./17. August d.J. „Der Westen muss die Ukraine weiter stärken. Eine Replik) an meinem Artikel („Der eigenen Propaganda aufgesessen“, Berliner Zeitung vom 19./20. Juli d.J. - siehe unten!) äußern, schon weil dies zu einer lebendigen Debattenkultur beiträgt, die von der Berliner Zeitung vorbildlich gefördert wird. Darüber hinaus gibt dies Gelegenheit, die Diskussion zu Möglichkeiten und Bedingungen einer Beendigung des russisch-ukrainischen Kriegs voranzutreiben, insbesondere in Bezug auf die aktuelle Debatte um Sicherheitsgarantien.
Einen Blick „auf die Ukraine nur mit russischen Augen“, gar „Verständnis für Putins Krieg“ sowie eine „beschämende Empathielosigkeit für das von Vernichtung bedrohte ukrainische Volk“ attestiert mir Wittmann. Dies zeigt aber nur, dass er den springenden Punkt meiner Überlegungen gründlich missverstanden hat. Ein genauer Blick auf den Untertitel meines Artikels könnte helfen: „Wer Kriege beenden oder künftige verhindern will, braucht ein klares Lagebild und genaue Kenntnis der Positionen und Möglichkeiten aller Akteure.“
Dies heißt: Wer Konflikte lösen will, muss Tolstois „Alles verstehen, heißt alles entschuldigen“ umdrehen: „Alles verstehen, heißt nicht alles entschuldigen!“ Wer nicht in der Lage ist, die Dinge mit den Augen des Anderen zu sehen – was eben nicht bedeutet, diese Sicht zu billigen oder gar gutzuheißen – wird allenfalls dann Erfolg haben, wenn er über die Machtmittel verfügt, seine Sicht mit Gewalt durchzusetzen. Auf die Perspektive des Anderen kommt es dann nämlich überhaupt nicht an. Dem ist im Fall des russisch-ukrainischen Kriegs aber nicht so.
Die mitunter polemisch bis aggressive Zuspitzung mancher Behauptungen Wittmanns über meine Haltung erinnert an Winston Churchills Rat für Debattenredner: „Wenn Argument schwach, schreien!“ So zählt Wittmann mich zu den „Experten, die sich von dem erfahrenen KGB-Mann für dumm verkaufen lassen“, weil ich so „naiv“ sei, Wladimir Putins ausdrückliche Anerkennung des Wunsches der Ukrainer nach einem souveränen und unabhängigen Staat „zum Nennwert“ zu nehmen, wie auch dessen Frage, aus welchem Grund die Ukrainer nicht mit den Russen wie die Österreicher und die Deutschen in zwei aus gemeinsamer Geschichte hervorgegangenen Staaten gutnachbarschaftlich nebeneinander leben können sollten, statt sich feindlich gegeneinander aufzustellen. Hierzu ist zu sagen: Ob man Putins Aussagen Glauben schenkt oder nicht, muss jeder für sich entscheiden, nachteilig für die Entwicklung eines vollständigen Lagebildes ist es aber grundsätzlich, wenn Medien sich herausnehmen, in das dominierende Schema nicht passende Äußerungen andauernd zu unterschlagen.
Gelegentlich versucht Wittmann Punkte zu machen, wo es keine gibt. So meint er mich in einem besonders „eklatanten Fall“ meiner „Leichtgläubigkeit gegenüber Putin-Aussagen“ überführt zu haben. Mitnichten enthalte die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine von 1991 nämlich die von mir übernommene Behauptung Putins, wonach sich die Ukraine zu „Neutralität“ verpflichtet habe. Genauere Recherche wäre Wittmann freilich anzuraten gewesen – schon deshalb, weil es nicht gerade wahrscheinlich ist, dass der Staatspräsident Russlands in dieser für sein Land wichtigen Frage Erfindungen verbreitet.
In einer bereits am 16. Juli 1990, das heißt vor Auflösung der Sowjetunion, in der Kiewer Rada verabschiedeten „Erklärung der Staatssouveränität der Ukraine“ heißt es in Artikel IX. über „Äußere und innere Sicherheit“, dass die Ukraine ein „neutraler Staat“ werden solle, der sich „an militärischen Blöcken nicht beteiligt“. Dass man in Moskau dies nicht vergessen hat, liegt auf der Hand.
Wie kommt Wittmann zu der Behauptung: „Hoffmann lehnt einen ukrainischen Siegfrieden ab“? Sollte damit etwa gemeint sein, dass ich die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine und die Freiheit ihrer Bündniswahl nicht für wünschenswert hielte, liegt er vollkommen falsch. Beides wünsche ich selbstverständlich der Ukraine und dies nicht nur, weil es dem Völkerrecht entspricht.
Nur: Wer sich einen nüchternen Blick bewahrt hat, sieht, dass ein „Siegfrieden“ für die Ukraine mit den bekannten Elementen bis hin zur Anklage Putins nicht erreichbar ist. Insbesondere kann die Ukraine im Lichte dessen, was man heute vernünftigerweise sagen kann, auf militärischem Weg die von Russland besetzten Gebiete nicht zurückgewinnen, schon gar nicht die Krim.
Dies sieht die ukrainische Führung inzwischen wohl auch so und drängt daher auf einen bedingungslosen Waffenstillstand. Sie tut dies in der offensichtlichen Hoffnung, sich im Verlauf endlos in die Länge gezogener Friedensverhandlungen eine bessere politische und militärische Position verschaffen zu können, etwa durch Veränderungen in Russland, den Aufbau eines starken Waffenarsenals oder andere Entwicklungen. Im Ergebnis bedeutet dies: Wird eine Friedensregelung mit Russland nicht erreicht, bezahlt die Ukraine für eine perspektivlose Fortsetzung des Krieges mit unzähligen Opfern an Menschen und gewaltigen materiellen Schäden einen sinnlosen Preis. Europa und der Welt wird ebenfalls großer Schaden zugefügt.
In Anbetracht dieser im eigentlichen Wortsinn tragischen Situation fällt Wittmanns an mich gerichteter Vorwurf „beschämender Empathielosigkeit für das von Vernichtung bedrohte ukrainische Volk“ auf ihn zurück. Ist es ein Beweis wahrer Empathie, ein schwer geschundenes Volk in der Fortführung eines perspektivlosen Kampfes zu bestärken? Noch dazu mit dem (ohnehin fragwürdigen) Argument, es kämpfe auch für unsere Sicherheit, gleichzeitig aber eigene Teilnahme an diesem Kampf auszuschließen?
Wenn Wittmann meint, Putins „Handeln“ sei für mich eine „verständliche (gar akzeptable?) Reaktion auf westliche Aktionen“ und mir „erschütternde Blindheit gegenüber Putins Zielen“ vorwirft, dann zeigt dies einmal mehr, dass er meinen Ansatz nicht verstanden hat.
Vor allem will ich darauf aufmerksam machen, dass herausragende amerikanische (!) Persönlichkeiten wie George Kennan, Henry Kissinger und William Perry (Verteidigungsminister unter Präsident Bill Clinton) vor potentiell hochgefährlichen Folgen einer absehbar negativen Reaktion Moskaus auf die Nato-Osterweiterung schon in den Neunzigerjahren gewarnt haben und im besonders kritischen Fall der Ukraine die Zeichen einer gewaltsamen Konfrontation ab 2020/21 deutlich an der Wand standen. Niemand kann daher behaupten, nicht gewusst zu haben, dass die Integration der Ukraine in die Nato, sei es de jure oder de facto, für Russland eine tiefrote Linie war. Der 24. Februar 2022 ist nicht vom Himmel gefallen. Die Warnungen haben sich als zutreffend erwiesen.
Gänzlich verfehlt ist es, wenn Wittmann meinen analytischen Befund, wonach die Verhinderung „eines hochgerüsteten westliches Bollwerk vor Russlands Haustür“ das zentrale Motiv für Russlands Angriff auf die Ukraine gewesen sei, als Ausdruck meiner „Sympathie“ für Putins Angriffskrieg auszugeben versucht. Es geht hier nicht um „Sympathie“, sondern um die Frage, ob die handelnden Akteure von einer zutreffenden Lageeinschätzung ausgegangen sind, auf deren Grundlage zweckrationales Handeln zur Abwendung des Krieges möglich gewesen wäre.
Vieles spricht dafür, dass die Abwendung des Krieges erreichbar gewesen wäre, wenn Nato und Ukraine rechtzeitig verbindlich erklärt hätten, einen Nato-Beitritt der Ukraine sowie deren Aufbau als De-facto-Nato-Partner auszuschließen. In diesem Fall hätte Putin eine „militärische Spezialoperation“ gegen die Ukraine niemandem vermitteln können, der Krieg hätte folglich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht stattgefunden. Ist man hingegen von der Vorstellung eines imperialistisch-revisionistischen Russland geleitet und noch dazu von der moralischen Richtigkeit der eigenen Position durchdrungen, dann lässt man es, wie der Westen es getan hat, einfach darauf ankommen, auch wenn dies auf ein unpolitisch-gesinnungsethisches „Es werde Gerechtigkeit, auch wenn die Welt zugrunde geht“ hinausläuft.
Wenn Wittmann dekretiert „Das russische Ziel ist die Eroberung der Ukraine sowie die Zerstörung ihrer nationalen Identität und Kultur“, fragt man sich, ob die Evidenz nicht gegen diese Behauptung spricht. Im Zuge des Trump-Putin-Treffens in Alaska sind nämlich die zentralen russischen Ziele einmal mehr durchdekliniert worden: keine Nato-Mitgliedschaft, keine Stationierung von Truppen aus Nato-Staaten, Abtretung der Krim und von vier Oblasten, Begrenzungen für ukrainische Streitkräfte.
Wenn Worte einen Sinn haben, dann gehen diese Forderungen von der Fortexistenz des ukrainischen Staates und der ukrainischen Nation aus (wobei die Ukraine zweifellos territorial verkleinert und mit Auflagen versehen würde – wie Deutschland dies mit dem 2+4-Vertrag hinnehmen musste). Dass sich die Ukraine äußerst schwertut, solche Bedingungen für einen Friedensschluss hinzunehmen, wird jeder Gutwillige verstehen.
Die „Erkenntnis, dass Putin nach einem Sieg über die Ukraine dort nicht halt machen würde“, bezeichnet Wittmann als „Allgemeingut“. Einen Angriff Putins auf die Nato – wie üblich als „Test“ im Baltikum präsentiert – hält er für ein realistisches Szenario, „je nachdem als wie schwach und uneinig Putin die Nato empfände“. Abgesehen davon, dass dieses „Allgemeingut“ nur den Mainstream-Konsens reflektiert, entledigt sich Wittmann mit dieser Behauptung der Notwendigkeit ihrer Begründung. Aber nur, weil viele auf den Bandwaggon vorherrschender Meinungen aufspringen, müssen sie nicht richtig sein.
Wenn Verhandlungen über ein Ende des Krieges erfolgreich verlaufen und die europäische Sicherheit aus ihrer schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg herausgeführt werden sollen, kommt einer wirklichkeitsgerechten Einschätzung der Motive und Ziele Russlands große Bedeutung zu. Die Deutung „Verhinderung eines westlichen Bollwerks an der russischen Grenze“ erscheint insoweit wesentlich triftiger als andauernd verbreitete Spekulationen, wonach der russische Angriffskrieg nur Auftakt einer Langfriststrategie Putins zur territorialen Wiederherstellung der Sowjetunion und darüber hinaus sogar einer durch Gewalteinsatz gegenüber Nato-Staaten angestrebten „Unterwerfung eines möglichst großen Teils Europas“ (Wittmann) sei.
Solche hysterischen Überdramatisierungen sind nicht nur deshalb gefährlich, weil sie die Bemühungen um einen Friedensschluss politisch und psychologisch unterminieren, sondern auch deshalb, weil sie durch ihre Suggestion der Alternativlosigkeit des Weiterkämpfens für die Ukraine die Gefahr einer totalen Niederlage heraufbeschwören.
In Anbetracht seiner dezidierten Warnungen vor einem imperialistischen Appetit Putins kommt es einigermaßen überraschend, wenn Wittmann meine Zusammenfassung des verbreiteten Angstszenarios, wonach in „spätestens fünf Jahren ein imperialistischer Angriff Russlands auf uns alle“ drohe, plötzlich als „übertriebene Unterstellung“ herunterzuspielen versucht. Über diese gute Nachricht erleichtert, wundert man sich aber, warum dann Politiker, Militärs, Thinktank-Vertreter und viele Medien diese „Unterstellung“ andauernd unter das Volk bringen
Dies führt unmittelbar zu Wittmanns Umgang mit meinem Hinweis auf die „haushohe militärische Überlegenheit der Nato über Russland“. Indem er meine datengestützten Vergleiche westlicher Streitkräfte mit denen Russlands als „Erbsenzählerei“ abtut, will er den zentralen Ansatzpunkt meiner Argumentation gegen exzessive westliche Aufrüstungsforderungen aus den Angeln heben. Darüber kann man aber nur den Kopf schütteln, denn als langjähriger Nato-Bediensteter weiß Wittmann natürlich, dass „erbsenzählende“ Streitkräftevergleiche zum täglichen Brot der sicherheitspolitischen Praktiker gehören, schließlich sind Umfang und Ausstattung von Streitkräften immer unter anderem auch auf potentielle Gegner bezogen. Wenn solche Vergleiche zwischen der Nato und Russland in den Medien heute in der Tat fast nicht mehr zu finden sind, liegt dies daran, dass die Daten die Angstmacherei vor einer angeblich hoffnungslosen militärischen Unterlegenheit Nato-Europas gegenüber Russland nicht decken.
Eine entgegenstehende Datenlage einfach ignorierend, geht Wittmann von einem „riesigen Nachholbedarf der Europäer“ aus. Fast alle der 32 (!) Nato-Staaten sind bekanntlich nun gehalten, ihre Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent der Wirtschaftsleistung zu steigern, was für die meisten mindestens auf eine Verdopplung, für einige auf eine Verdrei- oder gar Vervierfachung hinausläuft. Und woran misst Wittmann seinen „riesigen Nachholbedarf“? Indem er auf die „in den hoffnungsfrohen Jahrzehnten der Rüstungskontrolle massenhaft abgeschafften traditionellen Waffensysteme“ verweist, die alle nicht mehr da sind! Ei der Daus! Wittmann zählt über 30 Jahre alte Erbsen!
Muss man den General daran erinnern, dass die Sowjetunion bis Ende der Achtzigerjahre mit rund 380.000 Mann und rund 4000 Panzern in der DDR stand und in Umsetzung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa von 1990 nicht nur die Nato-Staaten, sondern auch die Sowjetunion beziehungsweise Russland Waffen in sehr großem Umfang abgebaut haben? Muss man daran erinnern, dass Polen, Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn Rumänien, Bulgarien, Estland, Lettland und Litauen bis 1991 Mitglieder des von Moskau geführten Warschauer Pakts waren, inzwischen aber der Nato angehören und sich das Nato-Russland-Rüstungsverhältnis daher fundamental anders darstellt als zu den Kalte-Kriegszeiten der im „Fulda Gap“ aufgebauten Nato-Schichttorte?
Wenn nun andauernd so getan wird, als ob sich die 27 EU-Staaten gemeinsam mit den Nato-Partnern Großbritannien und Norwegen gegen Russland angeblich nur nach schneller und umfassender Aufrüstung verteidigen können, wundert man sich, wenn Präsident Macron genau dies einer künftigen „robusten ukrainischen Armee“ allein zutraut.
Die pausenlose Verbreitung hysterischer Phantasien über russische Angriffsabsichten führt in ein jahrzehntelanges Wettrüsten, das für Deutschland, Europa und die Weltgemeinschaft materiell sehr teuer wird, von seinem abträglichem politischen „Fall-out“ nicht zu reden. „Teuer“ meint in erster Linie aber nicht Abstriche bei der sozialen Sicherheit, sondern den schleichenden Verlust an Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Europas infolge struktureller Unterfinanzierung von Investitionen in Schlüsselbereichen im Gefolge der durch hohe Rüstungsausgaben erforderlichen Sparzwänge.
Pars pro toto: Die Deutsche Bahn erhält die für ihre durchgreifende Instandsetzung erforderlichen Mittel nun doch nicht, wie bereits bekannt wurde. Wenn bei diesen Gegebenheiten noch hinzukommt, dass der transatlantische Partner USA durch Verkauf von exorbitant teuren Waffen – die für die Ukraine sollen laut Trump von der EU bezahlt werden – und von überteuertem LNG an Europa die großen Profiteure der neuen Weltordnung werden, reifen die Bedingungen für einen perfekten Sturm.
Wenn Wittmann mir entrüstet vorwirft, wo bei meiner Gegenüberstellung von „Siegfrieden“ und „Kompromissfrieden“ zwischen russischer „Vernichtungsabsicht“ und ukrainischem „Überlebenswille“ eine „Möglichkeit zum Kompromiss‘“ zu sehen sei, zeigt dies nur, dass ihm das Verständnis für die analytische Funktion dieser begrifflichen Unterscheidung fehlt.
Hier geht es nicht um eine „Gleichsetzung von Aggressor und Angriffsopfer“, wie Wittmann meint, sondern um die Tatsache, dass Kriege in aller Regel mit dem Sieg einer Seite oder einem Kompromiss zwischen den Kriegsparteien beendet werden, Beispiele: Potsdamer Abkommen von 1945 vs. Vertrag zwischen Nord- und Südvietnam sowie USA von 1973 „über die Beendigung des Krieges und die Wiederherstellung des Friedens in Vietnam“ (Nebenbei: Während der über vierjährigen Verhandlungen flogen riesige B52 der US-Luftstreitkräfte die massivsten Flächenbombardements des gesamten Krieges.).
Alle wollen „Frieden“ – die Frage ist nur, zu welchen Bedingungen. Trumps Vermittlungsbemühungen und das Betteln der Nato-Europäer um Mitwirkung sind nichts anderes als ein zähes Tauziehen um die Ausgestaltung eines Kompromisses, wobei sich die Ausgangspositionen diametral gegenüberstehen: Die Ukraine hält an ihrem Siegfriedenskonzept fest und Russlands an seinen entgegengesetzten Forderungen. Da sich die USA als selbst berufener Vermittler in zwei zentralen Punkten auf die russische Seite geschlagen haben, nämlich keine ukrainische Nato-Mitgliedschaft und keine Rückgabe der Krim, ist es für die ukrainische Seite taktisch am besten, Putin den schwarzen Peter zuzuschieben, indem diesem die Bereitschaft zur Erreichung einer Friedensregelung überhaupt abgesprochen wird. Wittmann: „Putin spiegelt Verhandlungsbereitschaft nur vor und agiert hinhaltend.“
Die Nato-Europäer halten sich hinsichtlich der Ausbuchstabierung konkreter Verhandlungsergebnisse bedeckt. Die nach Trumps Treffen mit Putin in Alaska gemachten Äußerungen lassen jedoch implizit eine Erwartung ukrainischer Konzessionsbereitschaft erkennen. Ein Indiz hierfür ist die beim Treffen mit Trump am 18. August von den Nato-Europäern in Gegenwart von Selenskyj gestartete Diskussion zu Sicherheitsgarantien, deren Inaussichtstellung darauf zielt, der Ukraine die Hinnahme weitreichender Konzessionen zu erleichtern.
Die sich überschlagenden Überlegungen zu diesem komplexen Thema sind allerdings oft von sehr bedenklicher Oberflächlichkeit, und dies nicht nur, weil Gedankenspiele über eine Stationierung von Soldaten aus Nato-Staaten in der Ukraine die Rechnung ohne den russischen Wirt machen, der bekanntlich in den Krieg gezogen ist, um genau dies zu verhindern.
Noch gravierender ist, dass vielen nicht klar zu sein scheint, welch weitreichenden Implikationen „Artikel-5-ähnliche“ Sicherheitsgarantien für „Friedenstruppen“ und ihre Entsendestaaten hätten. Wenn der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages (!) sagt: „Es geht schon darum, der Ukraine verbindlich zuzusichern und auch militärisch abzusichern, dass für den Fall eines erneuten Angriffs durch Russland die Europäer gemeinsam mit den Truppen der Amerikaner auch bereit sind, einen Angriff zurückzuschlagen“ (Thomas Röwekamp, CDU), fragt man sich, ob er weiß, wovon er spricht. Jedem auch nur mäßig Sachkundigem sollte geläufig sein, dass in einem absehbar heiklen Waffenstillstands- oder Friedensvertragsarrangement mit zahlreichen bewaffneten Kräften auf mehreren Seiten – ukrainische, russische, internationale – die Attribution der Verantwortung für militärische Aktionen außerordentlich schwierig sein kann, vor allem, wenn eine Seite es darauf anlegt, der Gegenseite Provokation in die Schuhe zu schieben.
Bundeswehreinheiten einer Friedenstruppe könnten sich daher im „Nebel des Krieges“ schnell vor die Wahl gestellt sehen, entweder wegzuschauen oder unter Waffeneinsatz einzugreifen – und damit auf die abschüssige Bahn eines eventuellen Kriegseintritts geraten. Wer sich auf „Artikel-5-ähnliche“ Sicherheitsgarantien einlassen will, sollte der Ukraine gleich die Aufnahme in die Nato anbieten.
20 lange Jahre hat es gedauert, bis in der transatlantischen Welt die Einsicht durchgedrungen war, sich mit der Intervention in Afghanistan verrannt zu haben und das aussichtslose Engagement daher abgebrochen wurde. Der Krieg in der Ukraine geht ins vierte Jahr. Wird es in diesem Fall auch so sein, dass viel zu viel Zeit verstrichen sein wird, viel zu viele Opfer an Menschenleben sowie immense Schäden und Aufwendungen in Kauf genommen worden sein werden, bis sich die Einsicht in die Notwendigkeit eines Kompromisses Bahn bricht?
Eine seit Jahrzehnten bekannte Verhandlungslehre formuliert die allerwichtigste Frage, die sich jede Seite in einem Konflikt stellen und beantworten sollte: „Was ist deine beste Alternative zu einem verhandelten Abkommen?“ Dass diese Frage hochaktuell ist, kann man den Nachrichten jeden Tag entnehmen – und dies gilt nicht nur für die Ukraine!
Hellmut Hoffmann, Jahrgang 1951, Botschafter a.D.
Diplomat rechnet mit Merz ab: Der eigenen Propaganda aufgesessen
Wer Kriege beenden oder künftige verhindern will, braucht ein klares Lagebild und genaue Kenntnis der Positionen und Möglichkeiten aller Akteure. Wer Gefangener eigener Propaganda ist, wird nichts erreichen.
Hellmut Hoffmann
BZ - 28.07.2025, 10:30 Uhr (Diese war der Vorlauf obiger weiterführender Antwort)
„Die Ukraine gehört uns!“, habe der russische Staatspräsident Wladimir Putin erst jüngst in aller Offenheit verkündet, so Bundeskanzler Merz in seiner vor dem Haager Nato-Gipfel im Deutschen Bundestag vor wenigen Wochen abgegebenen Regierungserklärung. Welche Botschaft der deutsche Regierungschef vermitteln wollte, ist klar: Wer so redet, mit dem sind Verhandlungen nicht möglich. Wer so redet, versteht nur die Sprache der Stärke. Wer so redet, dem kann nur mit noch mehr Waffen an die Ukraine und mit massiver Aufrüstung entgegengetreten werden! Zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung? Ach was! Fünf Prozent müssen es für 32 Nato-Staaten sein, wenn Russland von seinem in spätestens fünf Jahren zu erwartenden imperialistischen Angriff auf uns alle abgeschreckt werden soll!
Wird da noch einer fragen, ob eine solche Annahme einem Plausibilitätstest standhält? Wird da noch einer fragen, ob noch mehr Waffen für die Ukraine ein Jota daran ändert, dass sich deren Verhandlungsposition in mehr als drei Jahren Krieg nicht verbessert, sondern verschlechtert hat, obwohl das Gegenteil andauernd in Aussicht gestellt wurde? Wird da noch einer fragen, ob Putin von Merz überhaupt richtig zitiert wurde und in welchem Sinnzusammenhang seine Äußerung steht?
Konfliktregelung durch Verhandlungen
Durch alle Lager hindurch besteht Einigkeit, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine durch Verhandlungen beendet werden wird – offen sind nur Zeitpunkt und Bedingungen, unter denen dies geschehen kann. Minimalziel ist ein Waffenstillstand, Optimalziel eine dauerhafte Friedensregelung. Während ein Waffenstillstand leicht zu einem lang anhaltenden und konfliktträchtigen sowie ein großes Wettrüsten auslösenden frozen conflict mutieren kann, böte eine dauerhafte Friedensregelung die Chance zur Schaffung einer erneuerten, kooperativen Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa.
Fundamentale Voraussetzung für die Erreichung beider Ziele ist die Schaffung eines realistischen Bildes der Lage sowie der Positionen und Optionen aller relevanten Akteure. Wer Fehlperzeptionen unterliegt oder eigener Propaganda aufsitzt, wird nicht vorankommen.
Unklarheit und Unschärfe
Der westliche Diskurs über die Ziele aller Akteure in der Ukraine und darüber hinaus zeichnet sich durch ein stupendes Maß an Unklarheit und Unschärfe aus. Dass dies zu Missverständnissen, Fehlkalkulationen und Aneinandervorbeireden, im schlechtesten Fall zum Zusammenbruch jeglicher Kommunikation, zur Intensivierung von Feindschaft und zur Verunmöglichung verhandlungsgesteuerter Konfliktlösung führen kann, wird viel zu wenig wahrgenommen.
Siegfrieden oder Kompromiss?
Ist Ziel des mit massiver westlicher Hilfe geführten Abwehrkampfs der Ukraine deren Nato-Mitgliedschaft, die Rückgewinnung aller besetzten Gebiete, Reparationen Russlands sowie Anklage Putins vor einem Kriegsverbrechertribunal? Soll die Ukraine diese Ziele unter Inkaufnahme noch größerer Belastungen und Schäden weiterverfolgen, bis hin zur Gefahr weitreichender Konsequenzen im Fall einer totalen Niederlage? Soll die westliche Unterstützerkoalition die Ukraine auf diesem Kurs weiter ermutigen?
Oder fassen die Ukraine und ihre Unterstützer einen Kompromissfrieden ins Auge, in dem die genannten Ziele ganz oder teilweise aufgegeben werden?
Solange offenbleibt, in welche Richtung es bei der Beantwortung dieser Fragen gehen soll, ist eine Beendigung des Krieges durch Verhandlungen kaum zu erwarten. Aufschlussreich ist, dass viele, die an einen ukrainischen „Siegfrieden“ glauben oder dies zumindest vorgeben, nach Hinweis auf dessen geringe Erfolgschancen die Unvermeidlichkeit einer Kompromisslösung einräumen, sich zu deren Einzelheiten aber nicht äußern wollen. Der Grund liegt auf der Hand: Außer dem Präsidenten der Supermacht USA, der sich gewisse Extravaganzen herausnehmen kann, zumal wenn es ein Donald Trump ist, will sich niemand dem Vorwurf aussetzen, der Ukraine durch Ausbuchstabieren möglicher Konzessionen den Dolch in den Rücken gestoßen zu haben. Lieber bleibt man da bei der Beteuerung ungebrochenen Unterstützungswillens – in der Erwartung, dass die Ukraine angesichts einer kritischen Entwicklung der Lage um die Erklärung ihrer Bereitschaft zu einem Kompromissfrieden nicht mehr herumkommt.
Abschreckung oder kooperative Friedensordnung?
Die Formel, derzufolge nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine das aus der Ära der Entspannungspolitik überkommene Konzept der Sicherheit mit Russland durch Sicherheit vor Russland ersetzt werden müsse, lässt die für Europas Zukunft fundamentale Frage unbeantwortet: Soll die dem Kalten Krieg vergleichbare erneute Herausbildung eines Systems konfrontativer Hochrüstung und wechselseitiger Abschreckung zum Dauerzustand werden oder soll eine kooperative europäische Sicherheitsordnung angestrebt werden, wenn auch nur in längerer Perspektive? Dass beide Ansätze sehr unterschiedliche Strategien erfordern, liegt auf der Hand.
Westliche Sicht russischer Positionen und Ziele
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs konkurrieren im Westen zwei höchst unterschiedliche Deutungsmuster:
1. Revisionistisch-imperialistische Agenda
Putin will nicht nur den sowjetischen Machtbereich wiederherstellen, sondern eine russische Hegemonie über ganz Europa errichten, wofür auch militärische Mittel eingesetzt werden. Die Vernichtung der Ukraine als Staat und Nation und ihre Einverleibung in den russischen Staatsverband ist nur der erste Schritt: „Russland wird nach der Ukraine nicht stehenbleiben!“, weiß Bundeskanzler Merz. Das rationaler Politik nicht zugängliche autokratische System Putin ist zur Machterhaltung auf permanente außenpolitische Konfrontation angewiesen.
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2. Kein „Anti-Russland“ an der Grenze
Wegen seiner entschiedenen Ablehnung eines hochgerüsteten westlichen Bollwerks vor Russlands Haustür hat sich Putin zu einer militärischen Intervention entschlossen, nachdem klar geworden war, dass dieses Ziel auf dem Verhandlungsweg nicht zu erreichen war. Russland nutzt dabei die Gelegenheit, sich Gebiete in der Ostukraine zu sichern, die es wegen deren vorwiegend russischer Besiedlung und willkürlicher Grenzregelungen aus sowjetischer Zeit glaubt beanspruchen zu können.
Die Erkenntnis, dass beide Sichtweisen höchst unterschiedliche Konsequenzen für die Chancen einer Konfliktregelung haben, erfordert keine große Expertise. Allerdings fragt sich, ob mit Genauigkeit wahrgenommen und analysiert wird, welche Position die russische Führung tatsächlich einnimmt und über welche Machtinstrumente sie zu ihrer Durchsetzung verfügt.
Könnte es sein, dass sich die Europäer den Weg aus dem Debakel dieses sie selbst massiv schädigenden Krieges selbst verbauen, indem sie in dem Wunsch, breite Unterstützung für weitere Waffenlieferungen an die Ukraine aufrechtzuerhalten, einen Russlandpopanz aufbauen, den sie wie der Zauberlehrling nicht mehr loswerden?
Genaue Erkundung und Analyse der Positionen der russischen Führung ist daher nicht „Russland-Versteherei“, sondern liegt in unserem eigenen besten Interesse, denn wer auf der Grundlage ungenauer, falscher oder selbsterzeugter propagandistischer Vorstellungen handelt, kann sich schweren Schaden zufügen.
Hat Putin bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 einen „Neuen Kalten Krieg“ erklärt?
Seit Beginn des russischen Angriffs wird immer wieder behauptet, dieser liege auf der Linie des von Putin bereits auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 erklärten „neuen Kalten Krieges“. Diese wirkmächtige Deutung hatte der Publizist Josef Joffe in die Diskussion eingeführt. Sachlich zutreffend und politisch produktiver wäre es gewesen, Putins engagierte Intervention im Sinne eines Weckrufs bezüglich der langfristigen Wirkungen problematischer westlicher und insbesondere amerikanischer Vorgehensweisen aufzugreifen, wie zum Beispiel die Regelung von Konflikten mit militärischen Mitteln unter Missachtung des Völkerrechts in den Fällen Kosovo und Irak, die fehlende Bereitschaft zu gemeinsamer Konfliktlösung, die Schaffung neuer Trennlinien durch Nato-Erweiterungen, die Kündigung von Rüstungskontrollabkommen, der Aufbau eines stabilitätsgefährdenden Raketenabwehrsystems, die Verweigerung von Rüstungskontrolle im Weltraum et cetera. Zumal in den USA, wo sich der seit Anfang der 90er-Jahre recht aufgeschlossene Blick auf das neue Russland im Gefolge von Putins Umgang mit der Causa Chodorkowski bereits merklich eingetrübt hatte, wurden solche Vorwürfe nicht gern gehört. Welchen Verlauf hätten die Dinge womöglich genommen, hätte sich der Westen auf eine ernsthafte Beschäftigung mit Putins Kritik eingelassen?
Putins Essay „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“ bis zur letzten Seite lesen
In Diskussionen über den Ukrainekrieg kommt regelmäßig der Augenblick, in dem einer behauptet, Putin habe in seinem Essay von 2021 nicht nur dem ukrainischen Staat, sondern sogar der ukrainischen Nation die Existenzberechtigung a limine abgesprochen, woraus sich das Ziel seiner „Spezialoperation“ selbstredend ergebe. Richtig ist, dass in Putins Geschichtsbild Russen und Ukrainer eine historisch-politische Einheit bilden, was angesichts eines jahrhundertelangen Zusammenlebens beider Völker in demselben Herrschafts- und Staatsverband keine Überraschung sein sollte. Allerdings scheinen die Kritiker womöglich wegen der Langatmigkeit des historisch weit ausholenden Textes die Lektüre abgebrochen zu haben, da bei ihnen nie die Rede davon ist, dass Putin in der Schlusspassage den geschichtlich gewachsenen Wunsch der Ukrainer nach einem eigenen souveränen Staat ausdrücklich anerkennt. Dabei verweist er auf die Beziehungen zwischen den ebenfalls aus gemeinsamer Geschichte hervorgegangenen Staaten Deutschland und Österreich als ein Beispiel konstruktiver Nachbarschaft. Warum solle dies für Russland und die Ukraine nicht auch möglich sein? Putins Warnung, dass Russland eine sich als „Anti-Russland“ verstehende Ukraine jedoch unter keinen Umständen hinnehmen werde, war unmissverständlich. Hätte viel Unheil abgewendet werden können, wenn der Artikel zu Ende gelesen worden wäre?
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Verhandlungsinitiative 2021/2022
Ende 2021 versuchte Russland Verhandlungen über europäische Sicherheit in Gang zu bringen, deren Hauptziel die Verhinderung des Beitritts der Ukraine und anderer ehemals zur Sowjetunion gehörender Staaten zur Nato sowie die Beendigung deren bereits laufenden Ausbaus zu engen militärischen Partnern der Atlantischen Allianz war. Das weitere Ziel einer Rücknahme der im Zuge der Nato-Osterweiterungen ab 1997 entstandenen Präsenz westlicher Truppen in den mittelosteuropäischen Beitrittsländern stieß insbesondere bei diesen auf massiven Widerstand.
Nachdem Nato und USA die russische Initiative ins Leere hatten laufen lassen, äußerte der erfahrene Henry Kissinger, dass er Russland in einen Verhandlungsprozess zu involvieren versucht hätte, wie dies im Gefolge der Berlin-Krise von 1958 bis zur KSZE-Schlussakte von 1975 mit Erfolg praktiziert worden sei. Als Befürworter der Nato-Osterweiterung hatte sich Kissinger schon 1994 unter Verweis auf russische Empfindlichkeiten gegen eine Stationierung amerikanischer Soldaten in den Beitrittsländern ausgesprochen, und in der Nato-Russland-Grundakte von 1997 sind nicht ohne Grund Begrenzungen hinsichtlich der Stationierung westlicher Truppen in den mittelosteuropäischen Nato-Beitrittsstaaten vereinbart worden. Zu diesem Zeitpunkt war an die Möglichkeit eines Nato-Beitritts der Ukraine nicht einmal im Entferntesten gedacht worden. Nach drei Jahren überaus verlustreichen Krieges muss daher die Frage erlaubt sein, ob eine nüchterne Lagebeurteilung 2021/22 nicht besser zu dem Schluss gekommen wäre, im Sinne von Kissingers Ansatz vorzugehen, statt einem sich abzeichnenden russischen Angriff zuzuschauen, zumal eine ukrainische Niederlage binnen weniger Tage erwartet wurde.
Dümmer als ein Tisch?
Bei einem 2024 mit westlichen Journalisten geführten Gespräch wurde Putin auf die Sorge vor einem Angriff Russlands auf die Nato angesprochen. „Sind Sie so dumm wie dieser Tisch. Sehen Sie sich das Potential der Nato und Russlands an. Glauben Sie, dass wir verrückt sind?“, platzte ihm sichtlich der Kragen. Das Ganze sei eine absurde Erfindung, um Unterstützung für die Ukraine aufrechtzuhalten.
Sagt Putin die Wahrheit – oder glaubt er, die NATO täuschen zu können? Ist Putin gar ein notorischer „Lügner“, so wie er nach Ansicht vieler „gelogen“ hat, als er kurz vor dem russischen Angriff eine solche Absicht in Abrede stellte? Aber ist die Kategorie der „Lüge“ in politisch-militärischen Zusammenhängen überhaupt angemessen? Wird Boris Johnson der „Lüge“, bezichtigt, wenn er bestreitet, Selenskyj die Annahme eines sich abzeichnenden russisch-ukrainischen Verhandlungsfriedens ausgeredet zu haben? Letztlich weiß man nur, dass der Grat zwischen Tatsachenfeststellung und Propagandaproduktion schmal ist.
Interesse an Verhandlungen
Der wechselseitige Vorwurf fehlender Verhandlungsbereitschaft gehört zum Standardrepertoire jeder Kriegspropaganda. So wird die Tatsache, dass Russland seine Angriffe in einer Situation sogar noch massiv intensiviert, in der sich die Ukraine doch zu Verhandlungen über einen „bedingungslosen Waffenstillstand“ bereit erklärt, als Beleg für fehlende russische Verhandlungsbereitschaft gedeutet – ob aus Naivität oder aus Kalkül, kann dahingestellt bleiben. Für die Ukraine ist diese Deutung doppelt vorteilhaft: Zum einen erscheint die Fortsetzung des ukrainischen Abwehrkampfes und seiner westlichen Unterstützung alternativlos und zum anderen nimmt niemand mehr wahr, dass ein russisches Verhandlungsangebot längst auf dem Tisch liegt.
Russland hat sich nämlich zu Verhandlungen über einen Waffenstillstand bereit erklärt, sofern diese mit der Klärung der zentralen Fragen einer Friedensregelung verbunden werden. Hier gehen die Interessen beider Seiten fundamental auseinander: Russland will sich nicht auf einen reinen Waffenstillstand einlassen, weil die Ukraine diesen leicht in einen frozen conflict transformieren kann, bei dem Russland seine Kriegsziele nie erreichen kann, weil eine einseitige Wiederaufnahme der Kampfhandlungen politisch schwierig und militärisch verlustreich wäre. Die „Spezialoperation“ hätte sich damit als ein äußerst kostspieliger Fehlschlag erwiesen, was Putins Stellung in Russland gefährden würde. Auf der anderen Seite will sich die ukrainische Führung nicht auf eine Verhandlung und schon gar nicht auf eine Akzeptanz der russischen Forderungen einlassen. Da ihr klar sein dürfte, ihre eigenen Kriegsziele in überschaubarer Zukunft nicht erreichen zu können, ist für sie ein alles offenhaltender Waffenstillstand die beste aller schlechten Optionen.
„Die Ukraine gehört uns!“
Hat Putin diesen – verstörenden – Satz gesagt, wie von Merz behauptet? Hat Putin bei einer international Beachtung findenden Veranstaltung das Existenzrecht der Ukraine in Abrede gestellt? Stimmt also die These vom revisionistischen Russland?
Schaut man sich Putins Auftritt beim Sankt Petersburger Wirtschaftsforum im Juni dieses Jahres genau an, zeigt sich, dass der – ohnehin nicht richtig zitierte und aus einem komplexen Sinnzusammenhang gerissene – Satz seine Ausführungen zum Themenkomplex Ukraine auf den Kopf stellt. Tatsächlich legt Putin Wert auf die Feststellung, dass „Russland das Recht des ukrainischen Volkes auf Unabhängigkeit und Souveränität nie bestritten“ habe, fügt aber hinzu, dass sich die Ukraine in ihrer Unabhängigkeitserklärung 1991 zu „Neutralität und Ungebundenheit verpflichtet“ habe. Kurz nach Beginn des Krieges sei zwischen beiden Seiten eine Friedensregelung ausgehandelt worden, die Premierminister Boris Johnson, unterstützt von Präsident Joe Biden, in Kiew torpediert habe – es gebe Kräfte, die Russland eine „strategische Niederlage“ beibringen wollten. Russlands Ziel sei nicht eine „Kapitulation“ der Ukraine, sondern deren Anerkennung der „territorialen Realitäten“.
Lügt Putin? Wir können es nicht wissen. Wir wissen aber, dass man sich selbst schadet, wenn die Positionen von Gegnern schief, falsch oder gar nicht wiedergegeben werden, da lagegerechtes Handeln nur auf der Grundlage umfassender Sachkenntnis möglich ist. Die Beurteilung, ob Gesagtes wahr, falsch oder gelogen ist, muss in einer freiheitlichen Ordnung Sache der Bürger sein. Kein gutes Zeichen ist es daher, dass die deutschen Medien zu Ausführungen zur russischen Sicht des Krieges so gut wie nichts berichten, wenn man von einigen in das eigene Deutungsschema scheinbar passenden Zitat-Häppchen absieht.
XXL-Aufrüstung ohne Bezug zum militärischen Kräfteverhältnis
Interessiert sich jemand für die Frage, ob Russland überhaupt über die militärischen Mittel verfügt, um die russischen „Revisionskriege zur Wiederherstellung der Weltmacht Russland und zur Erlangung der Hegemonie über Europa“ (so Joschka Fischer) mit Aussicht auf Erfolg führen zu können?
Dass Präsident Trump beim Nato-Gipfel die Bündnistreue der USA bekräftigt hat, mag jene überrascht haben, die mit Warnungen vor einer sich angeblich verflüchtigenden Sicherheitsgarantie der USA eine gigantische Aufrüstung Europas befördern wollen. Nur: Was sollte die USA veranlassen, ihre – auch für weltweite Machtprojektion – äußerst vorteilhafte Position in Europa zu räumen, die sich vor allem in ihrer Führungsrolle im Nato-Bündnissystem manifestiert? Mit im New Yorker Immobilienbusiness erlernter brachialer Druckausübung wollte Trump lediglich massive Erhöhungen der Verteidigungsausgaben der Verbündeten erzwingen, nicht zuletzt, weil dies der US-Rüstungsindustrie enorm zugute kommen wird. Nachdem er mit dem Fünf-Prozent-Beschluss dieses Ziel erreicht hat, hat er keinen Grund mehr, an der US-Bündnisverpflichtung weiterhin Zweifel zu säen. Im Übrigen: Nehmen die Talkshow-Großstrategen im Ernst an, dass die Planer der „künftigen russischen Revisionskriege“ das Risiko eines Eingreifens der USA an der Seite Europas einfach ignorieren können?
Jeder halbwegs Informierte weiß, dass die Nato unter Einschluss der USA Russland militärisch haushoch überlegen ist. Dass es sich so verhält, ergibt sich schon daraus, dass die USA sich selbst als größte Militärmacht der Welt bezeichnen, was sich unter anderem in ihrem gigantischen Verteidigungshaushalt und in Hunderten weltweit verstreuten Militärstützpunkten manifestiert. Die USA sind die einzige Macht, die überall zuschlagen kann, wie jüngst in Iran zu beobachten. Zu den USA kommen 31 (!) verbündete Staaten hinzu, darunter zwei Nuklearmächte und mit Deutschland, Frankreich und Großbritannien drei Staaten, deren Verteidigungsbudgets zu den acht größten der Welt gehören.
Die Annahme, Russland könnte angesichts solch drückender Überlegenheit einen Angriff auf Nato-Staaten riskieren, erfordert eine blühende Fantasie. Abgesehen davon, dass Russland seit mehr als drei Jahren Krieg führt und daher fortlaufend große Verluste ausgleichen muss, kann man seine mit aufgesetzter westlicher Sorge kommentierten Aufrüstungsbemühungen als Reaktion auf die starke westliche Überlegenheit deuten, die mit dem Fünf-Prozent-Beschluss noch weiter ausgebaut wird: Paradebeispiel für einen ebenso kostspieligen wie sinnlosen Rüstungswettlauf.
Die Daten des International Institute for Strategic Studies machen deutlich, dass von der andauernd kolportierten hoffnungslosen Unterlegenheit Nato-Europas gegenüber Russland keine Rede sein kann.
Verteidigungshaushalte und Waffensystembestände der 27 EU-Länder, Großbritanniens, Norwegens und Russlands
[Kategorie: EU/GB/Norwegen Russland]
Verteidigungshaushalt (Mrd. US-Dollar)
432**
140*
Aktives Personal (Mio.)
1,3
1,2
Panzer
4150
2900
Gepanzerte Kampffahrzeuge
5790
3800
Artillerie
11.600
6100
Kampfflugzeuge
1730
1400
Angriffshubschrauber
270
340
Transporthubschrauber
1215
300
Auch wenn die ausgewählten Parameter die Kampfkraft von Streitkräften selbstverständlich nicht umfassend abbilden und die Europäer bei wichtigen Fähigkeiten („strategic enablers“) aufholen müssen (weil sie sich bei diesen immer auf die USA verlassen haben), wird deutlich, dass die Nato den mit der Fünf-Prozent-Forderung unterstellten Nachholbedarf nicht hat. Noch vor nicht allzu langer Zeit haben bekannte Aufrüstungsverfechter mit Emphase die Auffassung vertreten, dass die Nato-Welt mit der Erreichung des Zwei-Prozent-Ziels wieder in Ordnung sein würde. Das Fünf-Prozent-Ziel hat keine in der Sache liegende Begründung, sondern ist lediglich zur Besänftigung von Trump erfunden worden. Eine Ironie besonderer Güte ist, dass die USA unter diesem Präsidenten um eine Verbesserung ihrer Beziehungen mit Russland vor allem im wirtschaftlichen Bereich bemüht sind – wobei man bei Trump einen erratischen Kurswechsel nie ausschließen kann – während sie den Verbündeten ein Wettrüsten mit eben diesem Land aufdrängen, das wegen seiner immensen langfristigen finanziellen Belastung der Wettbewerbsfähigkeit Europas großen Schaden zufügen kann.
Freund-Feind-Denken oder genaue Analyse
Viel wäre für die Wiederherstellung und die Sicherung des Friedens in Europa gewonnen, wenn sich Politik und Medien bei der Behandlung des Krieges in der Ukraine und künftiger sicherheitspolitischer Herausforderungen anstelle des weithin dominierenden Freund-Feind-Denkens auf genaue Analyse der Motive, Interessen, Ziele und Mittel der relevanten Akteure fokussieren würden.
[1] Kaufkraftbereinigt: 460
Botschafter a.D. Hellmut Hoffmann, geb. 1951, 1982–2016 im Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland, darunter Teilnahme an den Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa und 2009–2013 Leiter der deutschen Abrüstungsmission in Genf.
»Kollaps ist kein Weltuntergang«
Klimaaktivist Tadzio Müller übers Scheitern der Klimaschutzbewegung und das solidarische Leben, das daraus entstehen könnte
Ihr gerade erschienenes Buch »Zwischen friedlicher Sabotage und Kollaps« besteht aus einer Sammlung von Texten, die eine Mischung aus Essay und Brief an die Klimagerechtigkeitsbewegung darstellen. Sie stammen aus Ihrem Blog »Friedliche Sabotage«, den Sie seit 2022 schreiben. Wie entstanden die Ideen zum Blog und zum Buch?
Um es ganz offen zu sagen: Zuerst war das Ziel des Blogs eine Monetarisierung meiner Strategiearbeit für die Klimabewegung. Von Anfang an war das Schreiben auch eine Art Selbsttherapie. 2022 begann die Letzte Generation auf die Straße zu gehen, wurde von allen gehasst, und die Regierung zeigte sich unwillig, das Klima zu schützen. Gleichzeitig verarbeitete ich das Ende einer schlimmen Beziehung, die von gegenseitiger emotionaler Brutalität und zu vielen Drogen geprägt war. Mir fiel auf, dass diese Dinge, die ich privat erlebt hatte, die politische Entwicklung erklären können, viel besser als jede politische Theorie. Also entwickelte ich eine eigene Analyse. Zwei Jahre später bekam ich mit, dass sich viele Menschen dieselbe Frage stellten: Warum redet trotz Klimakatastrophe niemand mehr über Klimaschutz? Damit entstand Anfang 2024 die Idee zu meinem Buch als eine Art politpsychologischer Ratgeber. Ich glaube, viele progressiv denkende Menschen sehen gerade eine tiefe Dunkelheit beim Blick auf die Welt – und da will ich sie abholen. Nicht mit politischer Theorie, sondern bei ihren Gefühlen.
Die einzelnen Texte decken einen Zeitraum von zwei Jahren ab, in dem Sie Ihre Ansichten immer wieder überdacht haben: 2018 haben Sie noch daran geglaubt, dass die Gesellschaft offen für rationale Argumente ist. Ein Jahr später, als die Bundesregierung trotz großer Fridays-for-Future-Demos das völlig unzureichende Klimapaket verabschiedete, änderte sich das.
Genau – wie in meiner damaligen Beziehung. Mein Ex-Partner hat mir immer wieder Dinge versprochen, die auch in seinem eigenen Interesse waren, hielt sich aber nicht daran. Ich verstand das nicht: Warum handelt er so irrational? Und warum handelt diese Regierung so irrational, deren Interesse es eigentlich sein müsste, das Klima zu schützen? Jedes gebrochene Versprechen führt zu Scham und diese wiederum zu Verdrängung, auch in der gesamten Gesellschaft.
Ist es nicht ein wenig überheblich, den Ex-Partner auf die Gesellschaft, die verdrängt, zu projizieren und sich selbst als personifizierte Klimabewegung mit den rationalen Argumenten darzustellen?
Ja, ist es. Aber mir geht es dabei ums Personalisieren einer Geschichte. Ich teile meine Erfahrungen und Gefühle, die andere Menschen nachempfinden können. Wie ich merkte, dass alles, wofür ich mein bisheriges Erwachsenenleben gekämpft habe, nicht funktionierte; dass die Klimabewegung gescheitert ist.
Sie schreiben, der Konflikt zwischen Klimabewegung und Verdrängungsgesellschaft eskalierte Anfang 2023, als der nordrhein-westfälische Ort Lützerath für die darunter liegende Braunkohle geräumt wurde. Sie waren in einem besetzten Haus dabei und haben dort wieder Hoffnung geschöpft. Dabei wurde Lützerath doch abgerissen.
Als ich in Lützerath ankam, war ich psychisch am Ende. Ich kam in ein besetztes Haus mit etwa 20 anderen, völlig unterschiedlichen Aktivist*innen. Und innerhalb von vier Tagen wuchsen wir durch den äußeren Druck und die gemeinsame Mission so eng zusammen, dass sich alle umeinander kümmerten. Wir wurden zwar geräumt, aber ich hatte auch etwas wiedergefunden. Nämlich die Verbindung zur Bewegung. Und dann ist mir klar geworden, dass Selbstwirksamkeit und Hoffnung nicht unbedingt vom Sieg abhängen, sondern vom Erlebnis eines gemeinsamen Kampfes. Wir werden die klimagerechte Revolution gegen den fossilen Kapitalismus nicht schaffen – aber wir können die Zielvorstellung ändern. Das war der absolute Wendepunkt meiner Depression.
In Ihren früheren Texten schreiben Sie, die Letzte Generation sei der einzige Akteur der Bewegung mit einer angemessenen Strategie. Später bezeichnen Sie dann auch deren Blockaden als gescheitert. Warum?
Der zeitliche Aspekt muss dabei beachtet werden. Anfang 2022 war die Strategie der Letzten Generation richtig. Ich erkläre es mal mit einer Fußball-Metapher: Wenn ich 2:0 zurückliege und es sind noch 15 Minuten zu spielen, ergibt es Sinn, eine Auswechslung vorzunehmen und viele Stürmer nach vorne zu stellen. Das macht in der 89. Minute aber keinen Sinn mehr. Dann muss ich nur noch dafür sorgen, dass meine Spieler nicht verletzt werden, denn das Spiel ist schon verloren. Im Herbst 2023 lagen wir schon 4:0 hinten, und die Nachspielzeit war angebrochen. Nun war es an der Zeit, über das nächste Spiel nachzudenken. Genauso war die Fridays-for-Future-Strategie vernünftig, solange bis sie gescheitert war. Die politische und gesellschaftliche Situation hatte sich innerhalb von zweieinhalb Jahren extrem verschoben – von einer, in der Klimaschutz eventuell noch möglich war bis hin zu einer Situation, in der er nicht mehr erreicht werden kann.
In einem weiteren Kapitel erklären sie Demos, Blockaden und alle anderen Strategien für gescheitert. Andere Aktivist*innen halten aber an der Vielfalt von Taktiken fest, auch um weniger militanten Menschen eine Teilhabe zu ermöglichen. Wie stehen Sie dazu?
Davon halte ich nicht viel. Im Grunde heißt das ja, dass alle weiter »business as usual« machen, aber damit gewinnen wir nun mal nichts. Dann hat man im Grunde auch aufgehört, Aktivismus ernst zu nehmen, in dem Sinne, etwas verbessern und gerechter machen zu wollen.
Aber die Menschen vertreten bei Demonstrationen doch eine Haltung.
Ja, aber was die Menschen denken, ist nicht so wichtig wie das, was sie tun. Wenn Leute sagen: »Ich will Klimaschutz, aber ich mache nichts dafür«, dann ist das nicht genug. Wir sollten schon hinterfragen, ob unser Aktivismus noch etwas bringt. Der globale Klimastreik im September zum Beispiel war deprimierend. Es kam kaum noch jemand, weil längst widerlegt ist, dass wir nur auf die Straße gehen müssen und es dann irgendwann Klimaschutz gibt. Verdrängung existiert aber auch in der Klimabewegung, die ihr eigenes Scheitern verdrängt. Sie macht immer weiter die gleichen Aktionen, obwohl die meisten Leute schon wissen, dass es nichts bringt. Ich sage ja nicht, dass alle militanter werden müssen. Ich sage nur, dass wir hinterfragen müssen, ob solche Demos noch der Situation angemessen sind oder eher Ressourcenverschwendung.
2023 kommen Sie zu dem Schluss, dass es für Klimaschutz zu spät und der Kollaps, im Sinne einer Instabilität des Klimas, nicht mehr aufzuhalten sei. Daher gehe es nun vielmehr darum, den Kollaps sozial gerecht zu gestalten, als weiter für Klimaschutz zu kämpfen. Aus Schweden haben Sie die Idee des »solidarischen Prepping« (solidarisches Vorbereiten) mitgebracht. Ist das nicht ein bisschen wenig?
Da muss natürlich noch mehr kommen. Das kann ich mir aber nicht allein im stillen Kämmerlein überlegen. Meine Aufgabe als Bewegungsintellektueller ist es, sich anzuschauen, was Menschen jetzt schon tun. In Schweden gibt es ein riesiges Drogengang- und Gewaltproblem. Da werden regelmäßig jugendliche Drogenkuriere im Wald erschossen oder sterben, weil die Krankenwagen nicht schnell genug kommen. Dort habe ich gesehen, wie Menschen sich einander beigebracht haben, Wunden zu versorgen und das zu tun, was das Gesundheitssystem nicht mehr leisten kann. Das ist total ermächtigend. Prepping verbinden wir heutzutage vor allem mit rechten Individualpreppern, die Vorräte anlegen. Tatsächlich geht es aber um den Aufbau sozialer Beziehungen. Das ist für mich der Anfang einer Praxis im Kollaps. Kollaps bedeutet nicht gleich Weltuntergang, sondern dass ein System instabil wird – sei es durch einen Mangel an Strom, Medikamenten oder Weizenprodukten. Und Anerkennung des Kollapses bedeutet nicht, dass wir aufgeben, sondern dass wir solidarische Netzwerke schaffen, die die entsprechenden Leistungen bereitstellen.
Sind Besetzungen, wie aktuell die Waldbesetzung in Grünheide, nicht ein gutes Beispiel für Kollaps-Aktivismus? Deren Ziel ist der Aufbau solidarischer Parallelstrukturen, Kern des Aktivismus ist das gemeinsame Leben.
Ich glaube, es entsteht gerade eine Art Klimakampf 2.0. Der zeichnet sich zuerst dadurch aus, dass er nicht mehr an die Regierenden appelliert. In dem, was er tut, setzt er selbst um, was er will. Zweitens beinhaltet er das Selbstlernen von Fähigkeiten. Bislang müssen wir nichts über Medizin oder Landwirtschaft wissen – das machen andere in unserem System. Aber wenn das System kollabiert, müssen wir Wissen und Kompetenzen teilen. Und drittens findet er im Kontext begrenzter Ressourcen statt. Besetzungen werden sicherlich ein Teil des Klimakampfes 2.0 sein.
Klimakollaps: «Die Arschlochgesellschaft feiert gerade ihr Coming-out»
Krieg, Klimakrise und nun auch noch Trump. Wir müssten der düsteren Zukunft in die Augen schauen und uns organisieren, sagt der Berliner Klimaaktivist Tadzio Müller.

WOZ: Herr Müller, die linke Erzählung der letzten Jahre lautete: Die Rechten sind zwar stark, aber am Ende werden sich progressive Bewegungen zwangsläufig durchsetzen, weil sich der Fortschritt immer durchsetzt; und wir brechen in eine schöne, gerechtere, ökosoziale Zukunft auf. Spätestens mit Donald Trumps zweiter Wahl zum US-Präsidenten taugt diese Beschreibung der Zustände nicht mehr, oder?
Tadzio Müller: Wir Linke können Niederlagen traditionell gut verkraften, weil wir an das Dogma glauben, dass wir die letzte Schlacht gewinnen werden. Oder wie es der Bürgerrechtler Martin Luther King einst sagte: «Der Bogen des moralischen Universums ist lang, aber er neigt sich der Gerechtigkeit zu.» Wenn wir nun jedoch auf die Klimakrise schauen, müssen wir sagen: Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass die Faschisten «die letzte Schlacht» gewinnen, als dass wir das tun werden.
Wir erlebten auch früher schon verschiedene Krisen und Kriege gleichzeitig. Das fundamental Neue ist, dass über all dem die Bedrohung durch die Klimakatastrophe schwebt. Spätestens bis 2030 hätten reiche Länder ihre Emissionen radikal reduzieren müssen, nun kommt in den USA 2025 Donald Trump an die Macht, unter dem es wohl keinen globalen Klimaschutz mehr geben wird. Das ist erst einmal extrem deprimierend.
Ja, aber was man sich schon vergegenwärtigen muss: Joe Biden hat mehr Gasbohrungen zugelassen als Trump in seiner ersten Amtszeit. Es ist ja so ein linksökologischer Mythos, dass progressive Parteien bessere Klimapolitik machen als rechte. Der Kern des Problems ist der globale Massenproduktionskapitalismus, der nun einmal die planetaren Grenzen sprengt. Klimapolitik ist eigentlich keine ideologische Frage, sondern eine Wachstumsfrage. Auch die Sozialist:innen gingen davon aus, dass die Welt immer mehr produzieren würde. Sie hatten einfach andere Vorstellungen von der Kontrolle über die Produktion, von Eigentum und Verteilung. Die Idee, dass wir kollektiv glücklich werden in einem Reich der Überproduktion – die hatten alle. Und die Einsicht, die gerade die Mitte der Gesellschaft gerne verdrängt und die uns emotional so angreift, ist, dass die Zukunft nicht eine von ständig expandierendem Wohlstand, sondern eine der ständig expandierenden Katastrophen sein wird. Dass es diese Welt von «immer mehr und immer besser für alle» nicht geben wird.
Sie haben ein Buch über Ihre Einsicht geschrieben, dass wir die Transformation zur Postwachstumsgesellschaft nicht rechtzeitig schaffen, das Klima also nicht retten werden. Wann hatten Sie diese Einsicht?
Ich begann, das im April 2018 zu verstehen, als die ganze Stadt Berlin nach Feuer roch, weil in Brandenburg ein Wald brannte. Mir wurde da irgendwie körperlich klar: Wenn in Nordeuropa im Frühling Wälder brennen, ist das ein Zeichen des Kollapses. Neben der Einsicht, dass der Klimakollaps bereits begonnen hat, setzte sich bei mir aber in den letzten fünf Jahren noch eine weitere Einsicht durch, diejenige nämlich, dass der Klimaschutz als politisches Projekt gescheitert ist. In der Schweiz sieht man das ja gerade in einer totalen Radikalität. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat kürzlich geurteilt, das Land tue nicht genug für den Klimaschutz. Der Bundesrat hat darauf einfach mit einem «Fuck you» reagiert. «Finden wir blöd. Wir machen nichts.» Wir müssen nicht nur einsehen, dass das Klima bereits kollabiert. Wir müssen als Gesellschaft auch verstehen, dass wir bei der Verhinderung gescheitert sind. Nur dann verstehen wir, weshalb die Gesellschaften in Europa oder in den USA so irrational auf die Klimabewegung und ihre Forderungen reagieren.
Ihre Kernthese lautet: Das Verdrängen der Klimakrise führt zu einer «Arschlochisierung» der Gesellschaft. Oder wie Sie auch sagen: ins «Arschlochozän». Erklären Sie uns das bitte.
Die europäischen Gesellschaften der Nachkriegsära lebten lange in einer eingebildeten Ponyhofwelt. Ich komme aus dem Land der Täter:innen des Nationalsozialismus. Aber witzigerweise hat sich die Bundesrepublik spätestens nach 1968 eingeredet, dass jetzt alle Nazis weg und wir plötzlich dieses progressive, liberale Gleichstellungsland seien. Ein Champion bei den Menschenrechten, obwohl wir eine total ausbeuterische, neoimperiale Wirtschafts- und Ressourcenpolitik betrieben. Klimavorreiter, obwohl Deutschland in der Realität ein Vorreiter bei fossil betriebenen Autos ist. Im Überfluss liess es sich leicht mit solchen progressiven Selbstlügen leben. Dann kam Mitte der achtziger, Anfang der neunziger Jahre das Klimathema auf. Unsere Gesellschaften sagten: Ja, wir kümmern uns darum, auch weil wir verstanden haben, dass wir den anderen die Welt weggefressen haben. Klimaschutz war sozusagen die moralische Anforderung an unsere Gesellschaften. Und eine Zeit lang hat man tatsächlich darüber nachgedacht, etwas zu machen, es gab ein paar Klimagesetze, ein paar Debatten, aber im Kern haben wir in den letzten Jahren festgestellt, dass Klimaschutz zu anstrengend ist.
Er würde uns zu viel kosten.
Vor allem würde er unsere relativ bequeme Realität verändern. Und das wollen wir nicht. Und deswegen schämen wir uns jetzt. Die meisten Menschen verdrängen diese Gefühle, weil sie sehr unangenehm sind. Das erklärt so ein bisschen die total seltsame, teils sehr brutale Reaktion auf die Letzte Generation oder auf Extinction Rebellion. Über rechte Terrorist:innen regt man sich nicht so auf wie über die Klimakleber:innen. Und das liegt nicht nur daran, dass die Leute zu spät zur Arbeit kommen. Die Letzte Generation wollte unser Gewissen sein. Aber die Leute in den Autos haben gesagt: «I get it, aber ich will darüber nicht nachdenken, ich will mich damit nicht auseinandersetzen.» Freud nennt es die «Wiederkehr des Verdrängten».
Nach dem Sieg von Donald Trump analysierten viele Linke, er habe wegen der Inflation gewonnen, die Demokratische Partei habe die Wirtschaft nicht genug zum Wahlkampfthema gemacht. Sie hingegen sagen: Trump und andere Rechte machten vielen Wähler:innen schlicht ein gutes Angebot.
Womit wir bei der «Arschlochisierung» wären. Wenn ich mich so verhalte, dass das nicht mit meinen Werten übereinstimmt, habe ich zwei Optionen: Ich kann mein Verhalten verändern, aber das ist anstrengend, oder ich kann einfach meine Werte verändern, sodass ich mich nicht mehr schlecht fühle. Das ist genau das, was Trump so attraktiv macht. Er befreit die Leute von ihrer Scham, indem er sagt: Seid ruhig Arschlöcher. Auch in Europa feiert die Arschlochgesellschaft gerade ihr Coming-out. Wir scheissen auf den Rest der Welt, fahren mit Tempo 180 schnitzelessend durch die Fussgängerzone. Wir schämen uns nicht mehr dafür, dass Europa halt dieser Arschlochkontinent ist, der seine Privilegien verteidigt, der allen anderen alles wegnimmt, der die Mauern hochzieht, wenn Menschen hier Schutz suchen, einfach nur, weil sie anderswo nicht mehr leben können, weil wir auf ihre Kosten hier so reich geworden sind. Diese Zusammenhänge stressen nur, wenn man irgendwie noch den humanistischen Wertekanon ernst nimmt. Wenn man sagt: Es ist deren Schuld und mögen die doch verrecken, ist das Leben leichter. Natürlich leiden in den USA die Menschen unter der Inflation. Aber es ist einfach keine zulängliche Erklärung zu sagen: Wegen der hohen Preise haben wir den Faschisten gewählt.
Sie sagen, klassischer Klimakampf bringe nun nichts mehr. Stattdessen rufen Sie zum solidarischen Preppen auf. Was heisst das?
Das kann vieles heissen. Es geht darum, sich auf mögliche Krisensituationen in einer unsicher werdenden Welt vorzubereiten. Ich bin HIV-positiv. Anfang Jahr gab es plötzlich Lieferschwierigkeiten bei meinem überlebenswichtigen Medikament. Da können wir zum Beispiel «Buyers Clubs» gründen, um die solidarische Verteilung von Medikamenten zu sichern. Was das Klima angeht, plädiere ich für ganz basale, praktische Hilfestellungen über solidarische Netzwerke. Man kann in seiner Stadt schauen, was die wahrscheinlichste Auswirkung der Klimakrise ist. In Berlin ist das zum Beispiel die Hitze. Man könnte sich also nachbarschaftlich um die vertrocknenden Bäume in der Strasse kümmern, jeder adoptiert einen. Starke Hitzewellen treffen bekanntlich die Alten, Armen, Schwachen am meisten. Wir können also mit der Bezirksregierung zusammenarbeiten und schauen, wie wir auch alte Leute erreichen, die im fünften Stock im Altbau wohnen. Das klingt jetzt erst einmal sehr kleinteilig. Aber es geht mir um praktische Kollapspolitiken der Solidarität.
Aber wenn sich jetzt auch Linke einfach in ihre solidarischen Bunker zurückziehen, ist das nicht ein Stück weit zynisch?
Man kann sagen, es ist zynisch, weil es die globale Gerechtigkeitsperspektive aufgibt. Aber wir reden schon lange darüber, und es hilft nicht, wenn wir keinen realpolitischen Hebel haben, globale Gerechtigkeitspolitiken durchzusetzen. Stattdessen können wir unsere begrenzten Handlungspotenziale ernst nehmen und fragen: Wie setzen wir die rational ein? Natürlich müssen wir hier gleichzeitig weiter antifaschistisch zusammenstehen und gegen rechte Regierungen kämpfen – oder gegen Autobahnen.
Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie Sie das Scheitern des Klimakampfs in eine tiefe Zukunftsdepression gestürzt habe. Wie viel Zukunftshoffnung steckt denn nun noch in dieser Idee des solidarischen Preppens?
Die Zukunft wird dunkler. Ich kann jetzt hier keine Geschichte erzählen, die das ignoriert. Meine neue Hoffnung ist nicht mehr so glitzernd und hell wie die auf den globalen Queerkommunismus. Aber auch in einer sich ständig verschlechternden Welt haben wir immer noch die Fähigkeit, Räume für gutes Leben herzustellen. Und wenn alles gut läuft, können wir diese Räume erweitern und uns mit anderen Räumen vernetzen. Das ist für mich eine reale Hoffnung. Ich habe dazu ein etwas absurdes Bild: Ich lebe in Berlin, und Brandenburg rundherum ist ziemlich reaktionär. Wenn ich mir nun vorstelle, dass die faschistischen Horden kommen und unser Berlin übernehmen, dann stelle ich mir vor, wie in den Katakomben der Stadt ein paar von uns queeren Antifakämpfer:innen den letzten queeren Club der Welt eröffnen. Das mag jetzt absurd klingen, weil es so klein gedacht ist, aber es geht um gutes Leben, für eine Stunde oder einen Tag. Das war der Glaube, der mir verloren gegangen war. Nicht nur der Glaube an die Zukunft, sondern der Glaube an die Bewegung, die die Welt besser machen kann. Aber es kann immer weitergehen, weil es nie so scheisse ist, dass man nicht mehr dafür arbeiten kann, dass es weniger scheisse ist.
Wie schlimm es wird, darauf haben wir immer noch Einfluss. Muss also die Hoffnung nicht weiter darin liegen, dass wir Leute für eine Postwachstumsperspektive gewinnen können?
Sicher. Aber unsere Gesellschaften sind derzeit an einem Punkt, wo sie nach dreissig, vierzig Jahren Selbstüberforderung erst einmal sagen: Jetzt sind wir mal Arschlöcher. Das ist ein richtiges Befreiungsgefühl. Wir müssen realistisch davon ausgehen, dass humanistische Positionen im globalen Norden derzeit nicht mehrheitsfähig sind. Linke Politik speist sich ja im Grunde genommen aus dem Verständnis, dass Menschen solidarisch sein können. Das haben in vierzig Jahren Neoliberalismus viele Leute vergessen. Und wir müssen dieses Gefühl nun wiederherstellen. Wir müssen die netten Menschen sein, die in der Katastrophe mit allen zusammenarbeiten. Katastrophen sind unglaublich wuchtige politische Momente, da gibt es einiges an strategischer Handlungsmöglichkeit. Man sieht das derzeit etwa in Valencia, wo 10 000 Freiwillige im Katastrophengebiet aufräumen. Im Grunde will ich aus solchen Erfahrungen eine neue linke Politik aufbauen. Ist das nun wieder sehr optimistisch? Vielleicht. Aber ich glaube, die Zusammenhänge sind schon richtig. Wir erleben die Welt zwar katastrophal, aber auch solidarisch. Das müssen die Bausteine der neuen linken Bewegung sein.
Der grassierende Rüstungswahn verbunden mit einer rasant fortschreitenden Militarisierung unserer Gesellschaft (Stichwort „Kriegstüchtigkeit“) hat die Flensburger Attac-Regionalgruppe zu einer Stellungnahme herausgefordert, die der Stadtblog Flensburg untenstehend allen Leserinnen und Lesern, auch angesichts der bevorstehenden Ostermärsche, wärmstens zur Lektüre empfiehlt (https://akopol.wordpress.com):
Stellungnahme des Attac-Ortsverbandes Flensburg und Umgebung
Der Krieg in der Ukraine schafft Unsicherheit und Zukunftssorgen. Die Zeitenwende der US-Politik fördert zusätzliche Ängste. Wie schaffen wir in dieser Situation mehr Sicherheit? Im Bundestag wurde ein gigantisches Aufrüstungsprogramm beschlossen – im Hauruckverfahren und obendrein mit der Maßgabe, dass zukünftige Militärausgaben frei sind von jeder Schuldenbegrenzung.
Sicherheit durch immer mehr Waffen? Wir halten diesen Weg für grundfalsch:
Hektische Aufrüstung beschleunigt die Rüstungsspirale. Das schafft eine wachsende Kriegsgefahr. Europas sicherste Zeiten waren die Jahre, als der Kalte Krieg zwischen Ost und West durch Abrüstungskontrolle und vertrauensbildende Maßnahmen beendet wurde. Was es damals gab, fehlt heute vollständig. Wir brauchen ernstzunehmende Initiativen für Frieden und Abrüstung mit dem Ziel einer europäischen Friedensordnung. Auf gar keinen Fall aber brauchen wir die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Europa!
Langfristig kann keine verantwortliche Politik wünschen, die Reichtümer des eigenen Landes für Kriegsgerät zu verschleudern. Auch die russische nicht. Das eröffnet Verhandlungsspielraum.
Tatsächlich werden die Hochrüstungs-Milliarden für bessere Zwecke benötigt:
Zum einen für die Eindämmung des Klimawandels mit seinen Umweltkatastrophen und dem sich ergebenden Flüchtlingselend. Zum anderen legt der angekündigte Sozialabbau zugunsten der Militärausgaben die Axt an die Wurzel unserer freiheitlichen Demokratie. Er fördert Not und Ungleichheit, schafft Verbitterung und Wut und damit den Nährboden für rechtsextreme Hassprediger.
Wir wehren uns auch gegen die Militarisierung in den Köpfen und Herzen, die Verherrlichung von Gewalt und Soldatentum, die Förderung eines Menschenbildes, dass auf Bedrohungshysterie, Hass und dem Freund-Feind-Schema beruht. Deshalb lehnen wir auch die Wiedereinführung der Wehrpflicht ab.
Und ein Letztes: Viele Beschaffungen von U-Booten, Flugzeugen und Panzern machen nicht einmal innerhalb der militärischen Logik Sinn. Die Rüstungsbeschaffung der Bundeswehr ist seit Jahrzehnten planlos, bürokratisch und undurchschaubar. Wer hier wild investiert, gießt Benzin in ein schwelendes Feuer.
In Attac als breitem Bündnis laufen gerade über Kriege und Rüstung die Meinungen oft auseinander. Aber Attac bietet sich als Forum an, diese Auseinandersetzungen konstruktiv zu führen. Mehr zur Flensburger Attac-Gruppe auch unter: https://www.attac-netzwerk.de/flensburg/aktuelles
Kriegserklärung gegen eine ganze Region
In Nahost befürchten vor allem die Palästinenser negative Auswirkungen des israelischen Angriffs auf den Iran
Im Streit über das iranische Atomprogramm hofften Washington und Teheran auf eine diplomatische Lösung. Nun greift Israel an, der Iran schlägt zurück. Israel spricht von einer Operation, die mehrere Tage andauern könnte.
Mirco Keilberth - nd
Mit mehreren Angriffswellen haben die israelische Luftwaffe und der Auslandsgeheimdienst Mossad in der Nacht auf Freitag das iranische Atomprogramm, die Armeeführung und Atomphysiker ins Visier genommen. Nachdem mehr als 200 Kampfflugzeuge von Israel aus in den 1000 Kilometer entfernten Iran gestartet waren, schickten offenbar eingesickerte Mossad-Geheimkommandos mehrere auf Lastwagen montierte Drohnen auf den Weg, sie trafen in Teheran und tief im Landesinneren programmierte Ziele. Augenzeugen berichten von zerstörten Wohnungen im Zentrum von Teheran und Einschlägen auf dem Gelände der Atomanlage Natanz sowie auf drei Militärstützpunkten im Nordwesten des Landes.
»Das ist eine glasklare Kriegserklärung«, sagte Ali Akbar Dareini, Politikwissenschaftler am Teheraner Zentrum für Strategische Studien. »Das israelische Vorgehen wird unvorhersehbare Konsequenzen haben. Der Abzug der amerikanischen Diplomaten aus dem Irak und anderen Ländern in der Region zeigt, dass Washington in die Pläne eingeweiht war«, sie sogar koordiniert habe, fuhr er fort.
Während die iranische Führung spätestens seit den letzten israelischen Luftangriffen im Oktober 2024 mit einer erneuten Attacke rechnen musste, war sie auf die im Land selbst gestartete Drohnenattacke offenbar nicht vorbereitet. Iranische Medien bestätigten am Freitagmorgen den Tod von Generalstabschef Mohammad Bagheri und von Hossein Salami, dem Chef der mächtigen islamischen Revolutionsgarde. Er hatte aus der Parallelarmee ein Wirtschaftsimperium gemacht. Wenige Tage vor seinem Tod warnte Salami, seine geschätzt rund 190 000 Soldaten stünden »für jedes Szenario bereit«.
Sechs Atomwissenschaftler wurden nach jahrelanger Bedrohung durch israelische Kommandoaktionen nun im Schlaf von Raketen oder Drohnen tödlich getroffen. Das staatliche Fernsehen zeigte nächtliche Videoaufnahmen von Löscharbeiten in brennenden Apartmentblocks in Teheran mit klaffenden Einschlaglöchern und fehlenden Außenwänden. Unter den Opfern ist laut Staatsfernsehen auch Fereidun Abbassi, der ehemalige Leiter des iranischen Atomprogramms. Zusammen mit Mohammad Mehdi galt er als einer der Köpfe des iranischen Uran-Aufbereitungsprogramms.
Auch die Wohnung des Leiters der aktuellen Atomgespräche mit den USA, Ali Schamkhani, war in der Nacht von einer Hellfire-Rakete aus US-Produktion getroffen worden. Schamkhani wurde dabei schwer verletzt, berichten Journalisten in Teheran. 70 Zivilisten sollen den Angriffen zum Opfer gefallen sein, so das Gesundheitsministerium in Teheran, 320 Verletzte lägen in Krankenhäusern.
Auch wenn nach wenigen Stunden wieder Ruhe einkehrte, der Überraschungsangriff ist wohl nur der Auftakt einer Reihe von Angriffswellen beider Seiten. Der nun von einem Bunker unterhalb von Jerusalem aus regierende Benjamin Netanjahu rief die Bürger auf, durchzuhalten. »Seit Jahrzehnten haben die Tyrannen von Teheran offen zur Zerstörung von Israel aufgerufen und ihren Zerstörungswillen mit dem Atomprogramm untermauert«, so Netanjahu am Freitagmorgen. »Diese Operation wird so viele Tage andauern, wie es nötig ist, diese Bedrohung zu beseitigen.«
Als erste Antwort hat der Iran nach eigenen Angaben 200 Drohnen in Richtung Israel auf den Weg geschickt. Die langsam fliegenden Fluggeräte waren ein leichtes Ziel für das israelische Flugabwehrnetzwerk »Iron Dome«. Doch die in den Vortagen im Rahmen von Militärmanövern gezeigten Langstreckenraketen dürften dem israelischen Militär größere Sorgen machen. Sollten diese in größerer Zahl als im Vorjahr gegen Tel Aviv oder die Nevatim-Militärbasis in der Negev-Wüste zum Einsatz kommen, könnte der Schaden beträchtlich sein.
»Es ist der nächste Krieg, mit dem Netanjahus Regierung von ihrem eigentlichen Plan ablenken will: der Schaffung eines Groß-Israels und kleiner palästinensischer Enklaven.« Ali Hamdi Student aus Ramallah
Außerdem könnte der Iran die Straße von Hormus blockieren und so 20 Prozent der weltweiten Ölversorgung kappen; dafür bräuchte es nur kleine Schlauchbooteinheiten der Revolutionsgarde. Die mögliche Eskalation in der weltweit wichtigsten Schifffahrtsroute der Ölbranche ließ am Freitag den Preis der Ölsorte Brent um mehr als sechs Prozent ansteigen.
In der Region reagierten viele Menschen mit Wut und Ohnmacht auf den Krieg zwischen Israel und dem Iran. »Auch wenn Israel dies als Militär-Operation bezeichnet, sagt der Student Ali Hamdi aus Ramallah dem »nd« am Telefon. »Es ist der nächste Krieg, mit dem Netanjahus Regierung von ihrem eigentlichen Plan ablenken will: der Schaffung eines Groß-Israels und kleiner palästinensischer Enklaven.«
Viele Palästinenser im besetzten Westjordanland fürchten, dass sich mit der Eskalation des iranisch-israelischen Konfliktes ihre Lage noch weiter verschlimmern werde. Am Freitagmorgen rückten Konvois der israelischen Armee in alle größeren Städte wie Nablus und Ramallah ein. Die schon seit dem 7. Oktober 2023 eingeschränkte Bewegungsfreiheit zwischen den Orten wurde mit der Verhängung einer De-facto-Blockade nun fast vollständig aufgehoben. Finanzminister Bezalel Smotrich will große Teile des nach internationalen Recht nicht zu Israel gehörenden Gebietes annektieren.
Der Minister für strategische Projekte, Ron Dermer, warnte vor zwei Wochen Frankreich und Großbritannien davor, einen palästinensischen Staat anzuerkennen. Dann werde man das von Israel verwaltete C-Gebiet annektieren und alle jüdischen Siedlungen legalisieren, so Dermer. Israelische und palästinensische Aktivisten von »Breaking the Silence« warnen schon lange vor der Theorie des »letzten großen Krieges«, die unter den radikalen Koalitionspartnern von Netanjahu kursiert. Smotrich und andere drängten in Koalitionskreisen immer wieder zu einem Militärschlag gegen den Iran und die Fortsetzung des Krieges in Gaza, um jegliche diplomatischen Initiativen einer Zweistaatenlösung im Keim zu ersticken.
Am Freitagmittag rollte dann bereits eine zweite israelische Angriffswelle über den Iran. Über dem Militärflughafen von Hamedan stiegen riesige Rauchwolken auf. Die israelische Armee verkündete später die Zerstörung großer Teile des Atomforschungsgeländes in Natanz. Der Chef des israelischen Militärgeheimdienstdirektorats, Shlomi Binder, ließ keinen Zweifel daran, dass die Angriffe in den nächsten Tagen intensiver werden. »Es geht um nichts weniger als unsere Existenz.«
Der Iran hat nach Angaben von Experten jahrelang daran gearbeitet, seine Atomanlagen gegen die Gefahr militärischer Angriffe zu schützen, was eine vollständige Zerstörung erschwere. »Die Art von Beton, die (die Iraner) verwenden, ist tatsächlich ein sehr spezieller, gehärteter Beton«, sagte der Militäranalyst Cedric Leighton dem US-Fernsehsender CNN. Es sei unklar, ob israelische Bomben diese Art von Beton durchdringen könnten. »Die Israelis müssten eine Angriffswelle nach der anderen starten«, erklärte er.
Einige Atomanlagen befinden sich laut Experten zudem tief unter der Erde. Die israelische Luftwaffe verfüge über keine B-2- und B-52-Bomber, die sogenannte Bunkerbrecher-Bomben des US-Verbündeten transportieren könnten, berichtete die US-Nachrichtenseite »Axios«. Solche schweren Bomben wären wahrscheinlich nötig, um die unterirdische Uran-Anreicherungsanlage Fordo im Iran zu treffen, hieß es.
Der iranische Präsident Massud Peseschkian nannte das israelische Vorgehen »töricht«, die Verantwortlichen »würden zur Rechenschaft gezogen werden«. Für eine größere militärische Reaktion werden sich Teherans Machthaber wohl Zeit lassen, auch weil sie in der direkten Konfrontation unterlegen sind. Aber sie haben anders als das kleine Israel ein riesiges Mobilisierungspotential an Menschen. Vor der Dschamkaran-Moschee in der Stadt Qom wurde am Freitag still und leise eine rote Flagge gehisst. Sie gilt als traditionelles schiitisches Zeichen für Rache.
»Bibis« Traum wird wahr
Israel startet Angriff auf Iran
Krieg an sieben Fronten« hat Benjamin Netanjahu versprochen, nachdem die israelische Luftwaffe im September 2024 den Generalsekretär der libanesischen Hisbollah, Hassan Nasrallah, mit mehr als 80 Tonnen Sprengstoff getötet hatte. Eigentlich wollte die Armee nur 40 Tonnen Sprengstoff einsetzen, erzählte der damalige Verteidigungsminister Joaw Gallant in einem Interview mit dem israelischen Sender Kanal 12. Er habe angeordnet, sie sollten die doppelte Menge nehmen, was geschah.
Angeblich werde Israel an sieben Fronten angegriffen und müsse sich wehren, so Netanjahu. Für das »wiederauferstehende Israel« müsse man daher an sieben Fronten kämpfen. Ein Völkermord in Gaza, Zerstörung im besetzten Westjordanland, Krieg gegen Libanon, Angriffe in Syrien, Bomben auf Jemen, Irak und nun der Iran.
Es mangelt nicht an Waffen, nicht an Munition, es mangelt nicht an Geldgebern, die Netanjahu preisen, dessen Armee alle in Grund und Boden bombt, die sich dem »wiederauferstehenden Israel« nicht unterwerfen. Es mangelt nicht an Vetos der USA im UN-Sicherheitsrat, nicht an Unterwerfungsgesten auch in Deutschland, wo der ehemalige Bild-Chefredakteur und Blogger Julian Reichelt Israel bescheinigt, es sei richtig, Kinder in Gaza zu töten.
Von dem Krieg gegen Iran haben »Bibi« Netanjahu und seine Gefolgschaft seit Jahren geträumt. Niemals dürfe der Iran die Atombombe bekommen, begründet Israels Premier den »präventiven« Angriff auf zivile, militärische und nukleare Infrastruktur und Personen des Landes. Tatsächlich entwickelt der Iran ein ziviles Atomprogramm, was sein Recht ist, und kooperiert mit der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO. Israel dagegen, seit den 1960er Jahren einzige Atommacht in der Region mit US-amerikanischer und französischer Hilfe, verweigert die Kooperation mit der IAEO. Israel respektiert nicht die Vereinten Nationen, nicht die UN-Charta, nicht internationales Recht.
Der Angriffsplan war am Montag aktiviert und der US-Administration präsentiert worden, die Personal in den militärischen Stützpunkten und Botschaften der Region reduzierte. Nun gibt es »kein Zurück«, wie der israelische Armeechef Eyal Zamir in der Angriffsnacht sagte. Wer immer sich Israel jetzt in den Weg stelle, werde »einen hohen Preis bezahlen«. Angeblich wird die nächste, »noch brutalere« Angriffswelle vorbereitet, wie US-Präsident Donald Trump sagte, dessen Regierung angeblich nichts mit der Attacke auf Iran zu tun haben will. Trump fordert Teheran auf, einen Deal zu machen, bevor nichts mehr von Iran übrig sei. Doch der israelische Angriff könnte das angegriffene Land endgültig davon überzeugen, dass es zum eigenen Schutz besser wäre, Atomwaffen zu haben. Das gleiche gilt für die Golfstaaten, die ebenfalls Atomprogramme entwickeln.
Angriffskrieg abgenickt
Israel attackiert Iran: Teheran soll das schlucken und wird zu »Deeskalation« aufgerufen. Trump räumt Mitwisserschaft ein, Merz ebenfalls informiert
Nach dem israelischen Großangriff auf Ziele im Iran hat die sogenannte Weltgemeinschaft das Land überwiegend aufgefordert, auf Vergeltungsmaßnahmen zu verzichten. Durch die am Freitag verbreiteten Erklärungen zog sich das Wort »Deeskalation« wie ein roter Faden – diese sei jetzt nötiger denn je. Entsprechend äußerten sich UN-Generalsekretär António Guterres ebenso wie der NATO-Generalsekretär Mark Rutte. Vertreter der Bundesregierung ergänzten ebenso wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen diese Mahnungen um die Betonung von Israels »Recht auf Existenz« und »Selbstverteidigung«, vermieden also jeden Anschein von Kritik. Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der nach eigenen Angaben nach dem Angriff mit Israels Premier Benjamin Netanjahu telefonierte, rechtfertigte in einer Stellungnahme auf X den Angriff auf gleiche Weise und bekräftigte, dass sein Land Irans Atomprogramm »wiederholt verurteilt« habe.
Bundeskanzler Friedrich Merz wurde offenbar von Netanjahu eine Stunde vor dem Beginn der Angriffe aus dem Schlaf geklingelt und informiert. Außenminister Johann Wadephul beriet in Kairo mit der ägyptischen Regierung über die Situation und erklärte zur Reaktion Teherans auf die Angriffswelle: »Den unterschiedslosen iranischen Angriff auf israelisches Staatsgebiet verurteilen wir auf das schärfste.« Die meisten deutschen Parteien wahrten zunächst Stillschweigen; halbwegs deutliche Worte fand Jan van Aken von der Partei Die Linke. Er schrieb, der Angriff habe alle Chancen auf eine weitere diplomatische Lösung torpediert. Es sei kaum vorstellbar, dass der Iran weiter Kontrollen seiner Atomanlagen zulasse – »die Gefahr einer iranischen Atombombe« sei mit diesem Angriff »massiv gestiegen«. Der Angriff Israels sei nur so zu verstehen, dass die Regierung Netanjahu auf eine Strategie des permanenten Krieges setzt.
Weiter scheint die Verwicklung der USA in die Angriffe und ihre Komplizenschaft mit ihnen zu gehen. Außenminister Marco Rubio hielt es für nötig zu betonen, dass Washington in die Ausführung der Angriffe nicht eingebunden gewesen sei. Er rief den Iran auf, keine Angriffe auf »amerikanische Interessen und amerikanisches Personal« zu starten. Was auf den ersten Blick so gelesen werden konnte, als wollte Rubio sich von der israelischen Aktion distanzieren, wurde allerdings nur Stunden später von Präsident Donald Trump richtiggestellt. Gegenüber dem Wall Street Journal sprach er von einem »sehr erfolgreichen Angriff, um es gelinde auszudrücken«. Auf die Frage, ob er von Tel Aviv vorgewarnt worden sei, antwortete Trump: »Es war keine Vorwarnung. Es war: Wir wissen, was los ist.« Er habe auch »einen wichtigen Alliierten« in der Region zuvor ins Bild gesetzt – wahrscheinlich Saudi-Arabien.
Groß kann die Verstimmung über den Angriff in Washington jedenfalls nicht sein – auch wenn vor allem britische Kommentatoren den Angriff auch als »Schlag gegen Trumps Diplomatie« einschätzten. Sie erinnerten daran, dass die Angriffe zwei Tage vor der geplanten nächsten Runde der iranisch-US-amerikanischen Atomgespräche stattgefunden hätten. In Kommentaren sowohl der BBC als auch der Agentur Reuters und des Onlineportals Unherd wurde darauf hingewiesen, dass Netanjahus Aktion auch ein »Nasenstüber« des »wichtigsten US-Klienten im Nahen Osten« gegen die transatlantische Führungsmacht gewesen sei.
Rufe nach Deeskalation kamen auch aus Beijing und Moskau. China sei bereit, »eine konstruktive Rolle bei der Beruhigung der Situation zu spielen«, sagte der Sprecher des Außenministeriums, Lin Jian. Nach mehrstündigem Schweigen in Russland verurteilten erst Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow und dann das Außenministerium die israelischen Angriffe als »unprovoziert und ungerechtfertigt«. Die Erklärung aus Moskau sprach von einem »groben Bruch des Völkerrechts« und kündigte an, das Thema auf die Tagesordnung des Weltsicherheitsrates zu bringen. Kritische Worte an die Adresse Israels kamen auch von der Türkei und den Golfstaaten. Letztere äußerten die Befürchtung, dass auch ihre Länder und Bevölkerungen in Mitleidenschaft gezogen werden könnten, wenn es zu einem neuen Nahostkrieg kommen sollte.
Krieg mit unüberschaubaren Folgen
Israels Angriffe auf den Iran sind eindeutig völkerrechtswidrig. Ein Kommentar
Cyrus Salimi-Asl - nd
Mit den landesweiten Angriffen auf den Iran weitet Israel sein Operationsgebiet für militärische Aggressionen aus. Nichts anderes als ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg ist das, was die israelische Regierung und mit ihr befreundete Staaten verniedlichend als »Präventivschlag« bezeichnen und so suggerieren, dass der Iran morgen oder übermorgen selbst Israel mit einer Atombombe angegriffen hätte und Israel praktisch handeln musste. Tatsächlich gab es keine Hinweise auf einen unmittelbar bevorstehenden iranischen Angriff auf Israel, und nur dann wäre der Angriff Israels wohl völkerrechtskonform gewesen. Linksparteichef Jan van Akne spricht von einer »gefährlichen Eskalation«, die auch »nicht mit Selbstverteidigung zu rechtfertigen« sei. Aber westliche Staaten schlucken die Mär eines israelischen Staates, der sich lediglich verteidige: keinerlei Verurteilung des Vorgehens der israelischen Regierung, nur der routinehafte Aufruf zur Zurückhaltung an beide Seiten.
Am Sonntag sollte eigentlich im Oman weiter über das iranische Atomprogramm verhandelt werden. Die Vorstellung, dass Israel seine Drohung, die iranischen Nuklear-Einrichtungen zu zerstören, noch während laufender Vermittlungsbemühungen, wahr machen würde, lag zwar immer im Bereich des Möglichen, schien aber irrational und schädlich für eine Übereinkunft. Doch der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu hat nie Zweifel daran gelassen, dass er gar kein Interesse an einem Abkommen hat (an deren Ausgestaltung er auch nicht direkt beteiligt ist), um das Atomprogramm einzuhegen und unter rigorose internationale Kontrolle zu stellen, sondern dessen völlige Zerstörung. Die nuklearen Anlagen des Irans, die sich teilweise tief unter der Erde befinden, wurden zwar nicht vollständig zerstört, aber dafür höchstwahrscheinlich der Versuch, auf dem diplomatischen Weg ein Atomabkommen hinzubekommen.
Die USA haben nach eigenen Aussagen zwar nicht aktiv mitgewirkt an den Luftangriffen, aber sie waren informiert, haben zuvor einen Teil ihres Botschaftspersonals aus dem Irak, Kuwait und Bahrain abgezogen sowie Israel mit hoher Wahrscheinlichkeit logistisch unterstützt, glauben viele Beobachter, zum Beispiel durch die Bereitstellung von Satellitenbildern und durch die Lieferung moderner Angriffswaffen. Dass die iranische Regierung zur Vergeltung wie angedroht US-amerikanische Einrichtungen im Mittleren Osten angreifen wird, dürfte zum derzeitigen Zeitpunkt eher unwahrscheinlich sein, weil der Iran dann in direkten Konflikt mit der US-Armee geriete.
Warum hat US-Präsident Donald Trump, der noch immer auf eine Verhandlungslösung mit dem Iran drängt, den israelischen Premier Netanjahu nicht von einem Angriff abgehalten? Will er damit militärisch den Druck auf den Iran erhöhen: Seht her, was euch passieren wird, solltet ihr einem Abkommen nicht zustimmen? Oder ist Netanjahu schon dermaßen beratungsresistent, dass er sich selbst von seinem wichtigsten Verbündeten nichts sagen lässt und ganz auf eigene Faust handelt? Waren die von Trump angestoßenen Verhandlungen für ein neues Abkommen womöglich nur eine Schauveranstaltung, inszeniert von der US-Regierung, um den Iran in Sicherheit zu wiegen vor einem lange geplanten Angriff durch Israel?
Die Folgen der israelischen Aggression sind nicht überschaubar. Das iranische Regime könnte nach diesen Angriffen seine atomare Doktrin offiziell ändern und nun erst recht alle Anstrengungen unternehmen, um an eine Atombombe zu kommen. Nur dann wäre das Land unangreifbar und das aus der Revolution von 1979 hervorgegangene System der Islamischen Republik sicher. Es ist klar, dass der Iran den israelischen Angriffen nichts entgegenzusetzen hat; eine funktionierende Luftabwehr, die die israelischen Bomber aufhalten könnte, gibt es offensichtlich nicht. Und die bisherigen Abschreckungsmittel – Hamas und die Hisbollah – sind aus dem Spiel. Das sagt auch viel aus über das jahrzehntelang nacherzählte Narrativ eines angeblich militärisch übermächtigen Iran. Das heißt, zur Abschreckung würde gemäß dieser Logik nur die Bombe helfen.
Absehbar wird das iranische Regime den außenpolitischen Druck auch durch verstärkte innenpolitische Repression zu kompensieren suchen. Die Anzahl der Hinrichtungen sind schon jetzt auf Rekordniveau, und durch die Kriegssituation ist eine Radikalisierung des politischen Establishments der Islamischen Republik zu erwarten und eine Stärkung der Hardliner wahrscheinlich, wie man es schon während des Iran-Irak-Kriegs in den 1980er Jahren beobachten konnte. Es ist gut möglich, dass die israelische Regierung mit ihren Angriffen auch den Anstoß für einen Sturz der Islamischen Republik geben wollte. Doch es wäre wohl naiv zu glauben, dass die Tötung auch von Spitzenpersonal in Armee und Revolutionsgarden sowie von Nuklearphysikern das herrschende System so weit erschüttern könnte, dass es kippt. Bisher war der Ersatz von Führungspersonal und die Machttransition kein unüberwindbares Hindernis für das islamische Regime des Iran.
Die rechte israelische Regierung scheint freie Hand zu haben, in der Region nach eigenen Erwägungen militärisch anzugreifen, ohne dass dies irgendwelche Konsequenzen hat: vom Iran über Syrien und Libanon bis zum Jemen. Vom genozidalen Krieg im Gazastreifen gar nicht zu sprechen, der durch den neuen Kriegsschauplatz zumindest für einige Tage aus dem Blick der Weltöffentlichkeit geraten wird. Aus israelischer Sicht ist der Moment für den Angriff auf den Iran daher ideal, trotz der laufenden Gespräche zwischen den USA und dem Iran: Wegen des brutalen Vorgehens der israelischen Armee im Gazastreifen schien die Stimmung sich in den letzten Wochen zunehmend gegen Israel zu wenden, Kritik an der Regierung wurde immer lauter. Dies dürfte nun vorbei sein, insbesondere wenn der Iran zurückschlägt. Dann dürften die Unterstützer Israels wieder die Formel in den Mund nehmen, dass das Land sich ja schließlich verteidigen müsse.
Ein weiterer Effekt der Eskalation betrifft ganz konkret die Zukunft der Palästinenser: Am Dienstag kommender Woche startet am UN-Sitz in New York eine von Frankreich und Saudi-Arabien initiierte internationale Konferenz zur Zweistaatenlösung. Es wird erwartet, dass bei dieser Gelegenheit weitere Staaten mit Gewicht auf der internationalen Bühne Palästina als eigenständigen Staat anerkennen, unter anderem Frankreich. Angesichts der Ereignisse im Iran ist jedoch absehbar, dass das geplante Programm der Konferenz in dieser Form nicht umgesetzt wird. Die Trump-Regierung hatte potenzielle Teilnehmerstaaten bereits in dieser Woche von der Teilnahme »abgeraten«; Israel leistet mit der Eröffnung des neuen Kriegsschauplatzes im Iran seinen Teil, um das Ziel einer Zweistaatenlösung zu untergraben.
Ukraine-Gipfel in London fordert in Absetzung von den USA europäischen „Friedensplan“ und „Koalition der Willigen“ für die Ukraine. Berlin erwägt Schuldenprogramme vor allem zur Aufrüstung von bis zu 900 Milliarden Euro.
BERLIN/LONDON/PARIS (Eigener Bericht) – Frankreich, Großbritannien und „ein bis zwei“ weitere NATO-Staaten Europas wollen einen Friedensplan für die Ukraine erarbeiten und eine „Koalition der Willigen“ zur Entsendung sogenannter Friedenstruppen schmieden. Dies ist das Ergebnis eines Ukraine-Sondergipfels, der am gestrigen Sonntag in London stattgefunden hat. Zuvor hatte ein Eklat zwischen den Präsidenten der USA und der Ukraine im Weißen Haus die Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und den Ländern Europas weiter verschärft und die Forderungen nach europäischer Eigenständigkeit anschwellen lassen. Der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europaparlament etwa, Manfred Weber (CSU), verlangt, „Europa“ müsse sich „jetzt eigenständig bewaffnen“ und „die ersten Schritte zur europäischen Armee gehen“. Außenministerin Annalena Baerbock dringt angesichts der gegenwärtigen französisch-britischen Initiative in Sachen Ukraine-Krieg darauf, nun müsse Deutschland „Führung einnehmen“. CDU/CSU und SPD bereiten laut Berichten derzeit neue Schuldenprogramme vor, die bis zu 900 Milliarden Euro betragen können und vor allem der Aufrüstung dienen. Zudem werden Pläne für einen europäischen Nuklearschirm geschmiedet.
„Der Riese Europa wacht auf“
Auf dem Sondergipfel am Sonntag in London haben sich 14 europäische NATO-Mitglieder, Kanada und die Ukraine auf ein gemeinsames Vorgehen mit Blick auf den Ukraine-Krieg geeinigt – so weit wie möglich ohne Rückgriff auf die USA. Demnach wollen Frankreich und Großbritannien sowie eventuell ein bis zwei weitere Staaten einen Friedensplan für die Ukraine entwerfen. Anschließend soll eine „Koalition der Willigen“ geschmiedet werden, um Truppen zur Friedenssicherung in die Ukraine zu entsenden. Den Grundstock dafür könnten Frankreich und Großbritannien stellen, die seit 2010 militärisch eng zusammenarbeiten und auf der Basis dieser Militärkooperation bereits im Jahr 2011 den Libyen-Krieg führten.[1] Paris und London stimmen sich auch bezüglich ihres Vorgehens im Ukraine-Krieg seit einiger Zeit sorgfältig ab. Im Hinblick darauf verlangte Außenministerin Annalena Baerbock bereits am Samstag, jetzt müsse Deutschland „Führung einnehmen“; sie behauptete: „Die Welt schaut auf uns“.[2] Nach dem Eklat zwischen US-Präsident Donald Trump sowie seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj am Freitag hatte die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas geäußert, es sei klar, „dass die freie Welt einen neuen Anführer braucht“; es sei nun „an uns, den Europäern“, diese „Herausforderung anzunehmen“. Polens Ministerpräsident Donald Tusk erklärte, „Europa“ sei „ein Riese, der aufgewacht ist“.[3]
Transatlantische Spannungen
Unklar bleibt nach dem Sondergipfel, wie sich die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten und den USA in Zukunft entwickeln werden. Diese hatten sich in der vergangenen Woche weiter verschlechtert. Nachdem es der EU gelungen war, einen US-Entwurf für eine Resolution der UN-Generalversammlung gegen Washingtons Intentionen zu ändern, und die EU-Außenbeauftragte Kallas Trumps Pläne zur Beendigung des Ukraine-Kriegs als „schmutzigen Deal“ beschimpft hatte, sagte US-Außenminister Marco Rubio ein Treffen mit ihr kurzfristig ab, obwohl sie bereits in der US-Hauptstadt eingetroffen war.[4] Der Eklat am Freitag im Weißen Haus hat die Spannungen weiter verschärft. Hatte Trump Selenskyj zunächst vorgeworfen, sich einem Waffenstillstand zu versperren und damit nicht nur „das Leben von Millionen Menschen aufs Spiel“ zu setzen, sondern gar „einen Dritten Weltkrieg“ zu riskieren, so endete das Treffen schließlich in einem lautstarken Wortgefecht und in einer Demütigung Selenskyjs durch Trump und US-Vizepräsident JD Vance.[5] Dennoch sind besonders Großbritanniens Premierminister Keir Starmer sowie Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die Trump politisch sehr nahe steht, bestrebt, einen harten transatlantischen Bruch zu verhindern. Dieser wäre auch militärisch für Europas Streitkräfte fatal: Sie sind unter anderem auf US-Satellitendaten und auf weitere US-Unterstützung angewiesen.
„Eigenständig bewaffnen“
Auch deshalb nahmen die anwesenden Staaten Europas sowie die EU auf dem Londoner Sondergipfel Schritte zu einer massiven Aufrüstung in den Blick. Diverse europäische Länder würden „ihre Verteidigungsausgaben erhöhen“, teilte NATO-Generalsekretär Mark Rutte in einer Stellungnahme nach dem Treffen mit. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen forderte: „Wir müssen Europa dringend wiederbewaffnen“; zudem bestätigte sie, sie werde dem EU-Gipfel am Donnerstag einen „umfassenden Plan“ dafür vorlegen. „Nach einer langen Zeit zu geringer Investitionen“ in die europäischen Streitkräfte sei es „von äußerster Bedeutung“, „die Verteidigungsinvestitionen für eine lange Zeit aufzustocken“.[6] Bereits am Samstag hatte Außenministerin Baerbock verlangt, der EU-Sondergipfel am Donnerstag müsse klare „Entscheidungen für massive Investitionen in unsere gemeinsame europäische Verteidigungsfähigkeit“ fällen.[7] Am Sonntag hatte zudem Manfred Weber, Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europaparlament, geäußert, „wer nach Washington blick[e]“, der müsse „verstehen: Europa ist alleine und wir müssen uns jetzt eigenständig bewaffnen“.[8] Weber fügte hinzu, man müsse jetzt auch „die ersten Schritte zur europäischen Armee gehen“; dabei sei in der Vergangenheit „viel zu viel Zeit vertrödelt“ worden.
Bis zu 900 Milliarden Euro
Während die Aufrüstungspläne auf EU-Ebene am Donnerstag besprochen werden sollen, bereiten CDU/CSU und SPD laut Berichten nicht nur eines, sondern sogar gleich zwei neue Finanzierungspakete insbesondere zur Aufrüstung auf nationaler Ebene vor. Dabei soll es sich um zwei sogenannte Sondervermögen handeln – nach dem Modell der 100 Milliarden Euro, die die Bundesregierung nach dem russischen Angriff auf die Ukraine bereitgestellt hatte. Die Bezeichnung „Sondervermögen“ führt dabei nach Auskunft des Bundesrechnungshofs in die Irre; in Wirklichkeit handelt es sich eindeutig um „Sonderschulden“.[9] Die neuen Pläne basieren dabei auf Vorschlägen von vier bekannten deutschen Ökonomen [10], die einerseits für ein neues „Sondervermögen Bundeswehr“, andererseits für ein zweites „Sondervermögen Infrastruktur“ plädieren. Für ersteres raten sie zu einem Volumen von 400 Milliarden Euro, für letzteres zu einem Wert von 400 bis 500 Milliarden Euro.[11] Zum Vergleich: Das Budget der Bundesregierung für 2025 sieht laut aktuellem Stand Ausgaben in Höhe von knapp 489 Milliarden Euro vor. Die Bezeichnung „Infrastruktur“ führt dabei insofern in die Irre, als eine Instandsetzung etwa von Straßen und Brücken nicht zuletzt aus militärischen Gründen als erforderlich gilt: Zur Zeit ist der Transport etwa schwerer Panzer über Brücken nicht flächendeckend gesichert.[12]
Atommacht Europa
Darüber hinaus haben erste Überlegungen zum Aufbau eines von den Vereinigten Staaten unabhängigen Nuklearschirms über Europa begonnen. Der mutmaßliche künftige Bundeskanzler Friedrich Merz hat am Wochenende bestätigt, er wolle in nicht bloß in den Koalitionsverhandlungen, sondern „auch mit unseren Partnern in Europa“ besprechen, „ob es mit Frankreich oder Großbritannien“ in Richtung „atomare Teilhabe“ gehen könne.[13] Merz erteilte Überlegungen, Deutschland könne eigene Atomwaffen entwickeln und herstellen, zumindest vorläufig eine Absage. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gab sich für Merz‘ Vorstoß prinzipiell offen. „Wir haben einen Schutzschild, sie nicht“, sagte Macron am Wochenende: „Sie können nicht länger von der nuklearen Abschreckung der USA abhängen.“ Er schlug einen „strategischen Dialog“ auf europäischer Ebene vor. Für den Aufbau einer eigenständigen, von der NATO unabhängigen europäischen Streitmacht veranschlagte er fünf bis zehn Jahre.[14]
[1] S. dazu Die neue Entente Cordiale.
[2] Pressemitteilung: Zur Lage in der Ukraine sowie zur europäischen Sicherheit erklärte Außenministerin Annalena Baerbock heute (01.03.) bei einem Statement im Auswärtigen Amt. Berlin, 01.03.2025.
[3] Europe is a giant that has woken up, says Poland. thetimes.com 02.03.2025.
[4] Majid Sattar: Rubio versetzt Kallas. faz.net 27.02.2025.
[5] Peter Baker: Trump Berates Zelensky in Fiery Exchange at the White House. nytimes.com 28.02.2025.
[6] Starmer pledges £1.6 billion package for air defense missiles in Ukraine, says Europe is ‘at crossroads in history’. lemonde.fr 02.03.2025.
[7] Pressemitteilung: Zur Lage in der Ukraine sowie zur europäischen Sicherheit erklärte Außenministerin Annalena Baerbock heute (01.03.) bei einem Statement im Auswärtigen Amt. Berlin, 01.03.2025.
[8] „Europa ist alleine“: EVP-Chef Weber fordert europäische Armee. br.de 02.03.2025.
[9] Sondervermögen: Anzahl und finanziellen Umfang reduzieren. bundesrechnungshof.de. S. dazu „Deutschland kriegstauglich machen“.
[10] Es handelt sich um den Präsidenten des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, den Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), [12] S. dazu #
Michael Hüther, den Präsidenten des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW), und den Düsseldorfer Wirtschaftswissenschaftler Jens Südekum.
[11] Es geht um 800 Milliarden Euro. tagesspiegel.de 02.03.2025.
[12] S. dazu Freie Marschrouten und Damit die Panzer rollen.
[13] Berthold Kohler, Eckart Lohse, Konrad Schuller: „Es könnte auch ein für uns sehr schlechtes Szenario eintreten“. faz.net 28.02.2025.
[14] Europäer wollen Friedensplan entwerfen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 03.03.2025.
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