Über den Tag hinaus

Zusammen ist es besser als allein: Es gibt mehr Aktionen und Gruppen für den Frieden als man denkt

Die wehmütigen Loblieder auf die mächtige Friedensbewegung der 1980er Jahre und die Abgesänge auf die Gegenwart täuschen leicht darüber hinweg: Man muss nicht auf die eine Großdemo warten, um sich friedenspolitisch zu engagieren. Es gibt weit mehr Möglichkeiten als viele denken. Im Veranstaltungskalender des Netzwerks Friedenskooperative finden sich allein für den Monat Oktober mehr als 120 Veranstaltungen in der gesamten Bundesrepublik, von Mahnwachen über Vorträge, Ausstellungen oder regionale Demonstrationen: Da spricht in Köln der Friedensaktivist Andreas Zumach über »Deutschlands (Irr)weg in die Verantwortung von der Wiedervereinigung bis zur Kriegstüchtigkeit«, in Nordrhein-Westfalen wird am Fliegerhorst Nörvenich gegen Atomwaffen demonstriert, jeden Mittwoch fordern Menschen in Dortmund mit Transparenten und Schildern in der Innenstadt »Deeskalieren! Die Waffen nieder! Verhandeln!«, in Halle dreht sich ein Fachgespräch um kommunale Friedensarbeit in Zeiten von Krieg, Krisen, Rechtsruck und in Frankfurt (Oder) diskutiert ein Podium über »Deutsche Außenpolitik in Nahost zwischen Völkerrecht und Staatsräson«.

Altes Netz mit größeren Maschen

Darüber berichtet nicht die »Tagesschau«, aber die Vielzahl der Veranstaltungen verweist darauf, dass es überall in der Republik Gruppen, Organisationen und Bündnisse gibt, die Alternativen zum Krieg stark machen. »Sie bilden die Basis, ohne die weder kleinere noch größere Mobilisierungen denkbar wären«, sagt Kristian Golla, Geschäftsführer vom Netzwerk Friedenskooperative.

Was die Geschichte lehrt: Es reicht nicht, nach der großen Demo zu rufen, man muss selbst etwas tun.

Die Organisation mit Sitz in Bonn ist Nachfolgerin der zentralen bundesweiten Organisation, die in den 80er Jahren die Großdemonstrationen gegen die Aufrüstung von Nato und Warschauer Pakt ausgerichtet hat. Sie bezeichnet sich heute als Service- und Informationsbüro für die Bewegung, vermittelt Referent*innen, gibt sechs Mal im Jahr die Zeitschrift »Friedensforum« heraus, koordiniert, unterstützt und organisiert Aktionen sowie Kampagnen, aktuell zum Beispiel gegen die Rekrutierung von Minderjährigen für die Bundeswehr. Gerade erst ließ die Friedenskooperative an vier aufeinanderfolgenden Samstagen im September Flugzeugbanner über deutschen Großstädten fliegen, mit dem Schriftzug: Ukraine-Krieg stoppen! frieden-verhandeln.de. Darüber hinaus werde innerhalb der Friedensbewegung derzeit »intensiv an einer neuen Kampagne gegen Mittelstreckenwaffenwaffen gearbeitet«, so Golla.

»Eine Großdemo braucht Vorlauf. Der 10. Oktober 1981 hatte zwei Jahre Vorbereitungszeit«, erinnert Golla an die erste große Demonstration der westdeutschen Friedensbewegung gegen nukleare Aufrüstung im Bonner Hofgarten mit 300 000 Menschen. Was die Geschichte auch lehrt: Es reicht nicht, nach der großen Demo zu rufen, man muss selbst etwas tun. Damals entstand ein dichtes Netz an Gruppen, es hat heute deutlich größere Maschen, aber es existiert noch.

Was nicht ist, kann ja noch werden

Allein auf der Website des Netzwerks Friedenskooperative lassen sich mehr als 250 Friedensgruppen finden. Bundesweite Organisationen mit lokalen Gliederungen wie die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) – die älteste aktive deutsche Friedensorganisation –, konfessionelle Friedensorganisationen wie Pax Christi, antifaschistische wie die VVN-BdA, berufsständische Organisationen, etwa Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), Zusammenschlüsse von Naturwissenschaftler*innen (Natwiss-Initiative) oder Jurist*innen (Ialana), von Frauen (Frauennetzwerk für Frieden) oder Gewerkschaftern. So gibt es bei Verdi das bundesweite »Netzwerk Frieden«, in München mobilisieren die lokalen Gliederungen von GEW und Verdi gerade gemeinsam zu einer Demonstration »Soziales rauf – Rüstung runter« – gegen Sozialabbau und Hochrüstung. Darüber hinaus und quer dazu finden sich Menschen auch um einzelne Thema herum zusammen, wie in der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), die 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Einige Angebote richten sich speziell an Jüngere, zum Beispiel das Jugendnetzwerk der DFG-VK oder das Projekt »Peace for Future« der Kampagne »Sicherheit neu denken«. Und nicht zuletzt gibt es noch dutzende lokale Gruppen, ob in Suhl, Frankfurt/Oder, Düren oder Bremen, die wahlweise Friedensinitiative, Friedenskreis oder Friedensnetz heißen. Viele Möglichkeiten also, wo man anklopfen kann, um Gleichgesinnte zu treffen und wenn man über den Tag hinaus etwas tun will für eine friedliche Welt.

Und was es nicht gibt, kann ja noch werden. Die Friedenskooperative unterstützt bei Gründung und Aufbau einer Friedensini und hat dafür auch einen Leitfaden entwickelt: »Erfolgreich als Friedensgruppe arbeiten. Von der Neugründung bis zur ersten Demo«. Checkliste erster Schritt: Eine*n oder mehrere voll motivierte »Friedensverrückte« finden.

www.friedenskooperative.de

Streit um den Frieden

Die Antikriegsdemo am 3. Oktober in Berlin wird von vielen Verbänden und der Linken unterstützt. Doch wichtige Organisationen gehen auf Distanz.

Soweit der Sternmarsch mit mehreren Kundgebungen, zu dem die Initiative »Nie wieder Krieg – die Waffen nieder« für den 3. Oktober nach Berlin mobilisiert, überhaupt in klassischen und »sozialen« Medien vorkommt, gibt es Stempel. Grundsätzlich wird das Wort Friedensdemo in Anführungszeichen gesetzt, die Veranstaltung wird als eine von »Putin-Knechten« tituliert. Der Grund: Im Veranstalteraufruf der Demo werden Verhandlungen und das Ende aller Waffenlieferungen an die Ukraine wie auch an Israel wegen seiner Kriegführung im Gazastreifen gefordert.

Ignoriert wird bei solcher Kritik, dass die Zahl derer, die die Demo unterstützen, wie auch die Zahl der Aufrufe mit eigenen Positionierungen groß, das politische Spektrum der Gruppen, die zur Teilnahme aufrufen, so breit wie jenes der Redner ist. Mancher nimmt diese Breite wiederum als Beleg dafür, dass es sich um eine »Querfront«-Veranstaltung handelt. Also um eine, die »nach rechts offen« ist. So sieht es jedenfalls Toni Schmitz, Sprecherin des Berliner Verbandes der altehrwürdigen Antikriegsorganisation Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK).

Da beginnt wohl das Problem für das zehnköpfige Organisatorenteam: In den Chor derer, die sich zum Teil lautstark von der Veranstaltung distanzieren, stimmen mit der DFG-VK wichtige linke und Friedensorganisationen ein: die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) und das globalisierungskritische Netzwerk Attac. Gleichzeitig mobilisieren aber einzelne Landesverbände und etliche Regionalgruppen der drei Organisationen zur Demo.

Der DFG-VK-Bundesverband distanzierte sich schon Ende August in einer ausführlichen Erklärung von den Veranstaltern und ihrem Aufruf, die Berliner DFG-VK ruft sogar zu einer Gegenaktion auf. Sie will vor der russischen Botschaft in Berlin mit »Leichensäcken« gegen das Verheizen Hunderttausender im Krieg gegen die Ukraine durch die russische Regierung protestieren.

Es spricht einiges dafür, gemeinsam gegen die wachsende Gefahr einer Ausweitung der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine wie auch im Gazastreifen, im Libanon und Israel auf das Zentrum Europas wie auch auf den Jemen und den Iran auf die Straße zu gehen. Und – das ist ein wesentliches Argument von Ralf Stegner – die Friedensfrage nicht Rechten und »Populisten« zu überlassen. Zu letzteren zählt der SPD-Bundestagsabgeordnete auch Sahra Wagenknecht, die wie er auf der Demo eine Rede halten will.

Das machte er am Donnerstag auch auf einer Pressekonferenz der Initiatoren der Demo deutlich. Stegner betonte auch, er sei kein Pazifist und für die Versorgung der Ukraine mit wirksamen Defensivwaffen. Er ist aber auch überzeugt, dass ein möglichst schnelles Ende von Tod, Traumatisierung, Verwundung und Zerstörung in der Ukraine nur mit mehr diplomatischen Initiativen auch Deutschlands möglich ist. Zugleich verwahrt sich Stegner immer wieder gegen den Vorwurf, er trete auf einer Veranstaltung des BSW auf, der Partei von Sahra Wagenknecht. Sie sei nur eine Rednerin, und die Veranstalter hätten sich klar gegen die Teilnahme von Rassisten, Rechten und Antisemiten verwahrt.

Für Michael Schulze von Glaßer, politischer Geschäftsführer der DFG-VK, ist die Distanzierung zumindest gegenüber Gruppierungen wie dem BSW und rechten Kräften nicht glaubwürdig. Er moniert wie Stephan Lindner von der Attac-Pressestelle, dass die Initiatoren der Demo eine Debatte über den Text des Aufrufs letztlich gar nicht zugelassen, sondern auf ihrem eigenen bestanden hätten.

Schulze zu Glaßer wie auch Lindner kritisieren, dass im Aufruf »an keiner Stelle erwähnt wird, wer den Krieg in der Ukraine begonnen hat«, so Lindner. Außerdem habe die Nie-wieder-Krieg-Gruppe sich geweigert, die Forderung nach »Schutz und Asyl für alle Menschen, die dem Krieg entfliehen wollen, insbesondere für Kriegsdienstverweiger*innen und Deserteur*innen aus Russland, Belarus und der Ukraine« in den Aufruf aufzunehmen. Das sei ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Aufruf auf Leute aus dem Wagenknecht-Lager und aus konservativen Kreisen zugeschnitten sei, meint Schulze zu Glaßer. Das BSW positioniert sich mittlerweile generell vehement gegen die Aufnahme Geflüchteter.

Innerhalb von DFG-VK wie auch Attac gibt es heftige interne Auseinandersetzungen darüber, mit wem man zusammen für Frieden demonstrieren darf und mit wem nicht. Das ist nicht erst seit dem Ukraine-Krieg so, sondern begann bereits im Zusammenhang mit der Coronakrise und sogar schon mit den Debatten um teils von Rechten vereinnahmte »Friedenswinter«-Demonstrationen im Jahr 2014. Seitdem gibt es auch Austritte und faktische Ausschlüsse. Wenige Tage vor der Demo haben Attac, DFG-VK und VVN auch eine Broschüre über »Versuche rechter und verschwörungsideologischer Einflussnahme auf die Friedensbewegung« veröffentlicht. Die Darstellungen des Autors Lucius Teidelbaum machen die Schwierigkeit deutlich, einerseits aktions- und bündnisfähig zu bleiben und sich andererseits von den »richtigen« Leuten abzugrenzen.

Die erste Handlungsempfehlung darin lautet: »Grundkonsens Antifaschismus«. Dies beinhaltet laut Teidelbaum eine »nachhaltige Distanzierung von Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen, von allen Spielarten der extremen Rechten und ihrer Türöffner*innen«. Dem Anspruch müsse »eine konkrete Praxis folgen«. Wie die dann aussehen kann, lässt der Autor offen, und auch Michael Schulze von Glaßer hat keine ganz klare Antwort darauf.

Als die DFG-VK als Teil des Bündnisses »Stoppt das Töten!« Ende 2022 zu einer Friedensdemo mobilisierte, hieß es im Aufruf dazu, für »Menschen aus dem nationalistischen und antidemokratischen Spektrum«, für Rassisten, Antisemiten und Sexisten sei dort ebenso »kein Platz« wie für Personen und Gruppen, die »wissenschaftsfeindlich« seien und »Verschwörungsmythen anhängen«. Solche sehr weitgehenden Ausschlüsse, so Schulze zu Glaßer im Gespräch mit »nd«, seien natürlich innerhalb des Verbandes kontrovers diskutiert worden. In späteren Demo-Aufrufen seien sie auch bereits wider viel weniger umfassend gewesen.

»Im Demo-Aufruf wird an keiner Stelle erwähnt, wer den Krieg in der Ukraine begonnen hat.«

Michael Schulze von Glaßer Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinte KriegsdienstgegnerInnen

Friedensaktivismus bleibt mithin eine Gratwanderung zwischen Forderungen, bei denen sich alle einig sind – aktuell dürfte das zumindest die Mobilisierung gegen die nur zwischen Kanzler Olaf Scholz und der US-Regierung vereinbarte Stationierung weitreichender Marschflugkörper in Deutschland sein – und jenen, bei denen es Differenzen gibt. Bei einigen Gruppen scheint das Bedürfnis nach Abgrenzung und einem »Sauber bleiben« größer zu sein als jenes, in wichtigen Fragen breite Bündnisse zu schmieden.

Toni Schmitz glaubt zwar schon, dass man Bündnispartner braucht. Doch manche Dinge stören sie und andere in der DFG-VK zu sehr, als dass sie noch eine Möglichkeit der Kooperation mit der »klassischen« Friedensbewegung sieht. Zum Beispiel liefere die »bisher so gut wie keine Ideen, wie gewaltfrei Druck auf Russland zur Beendigung des Krieges ausgeübt werden kann«. Aktionen wie jene der Anti-Atomkraft-Initiative »ausgestrahlt« gegen den russischen Konzern Rosatom, Proteste gegen andere Unternehmen mit russischer Beteiligung würden von der Friedensbewegung bislang »nicht beachtet«. »Gewaltfreie Druckmittel gegen die russische Regierung sind für uns aber die Voraussetzung, um auch seriös den Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine fordern zu können«, betont die Berliner DFG-VK-Sprecherin.

Stephan Lindner stört auch, dass auf der Berliner Demo zwei Frauen auf der Abschlusskundgebung sprechen werden, die sich aus seiner Sicht »nicht von der Terrororganisation Hamas« distanziert haben. Gemeint sind die Jüdin und Israelin Iris Hefets von der »Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost« und die deutsch-palästinensische Juristin Nadija Samour. Als Beleg für die fehlende Distanz zur Hamas bei beiden sieht Lindner ihre beabsichtigte Teilnahme am von der Polizei vor Beginn aufgelösten »Palästinakongress« Mitte April in Berlin, bei dem auch »Hamas-Sympathisanten« hätten auftreten sollen.

Während Attac und die VVN sich nicht offiziell zu der Demonstration erklärt haben, lieferte die DFG-VK wiederum eine ausführliche Erklärung mit sachlich formulierter Kritik, die dem Demo-Orga-Team vielleicht doch die eine oder andere Überlegung wert sein müsste. Zumindest, was demokratische und offene Debatten über Aufrufe betrifft, die fundierte Positionen linker Antimilitaristen betrifft. Trotz Skepsis nach Erfahrungen mit vorangegangenen Demonstrationen sei man »für die neue Demonstrationsplanung offen« gewesen, schreibt die DFG-VK-Spitze. Notwendig sei gemeinsames Agieren allemal, denn: »Die Aufrüstung in Europa schreitet gefährlich voran, und die sicherheitspolitische Lage spitzt sich immer weiter zu.« Allerdings habe sich schnell gezeigt, dass »eine inhaltliche Mitwirkung« nicht gewünscht gewesen sei. Der Aufruf sei von »Nie wieder Krieg« sehr schnell und ohne weitere Debatten veröffentlicht worden.

Zur Demo werde man die Mitglieder der DFG-VK nicht mobilisieren, weil sie trotz Möglichkeit zu eigenem Aufruf »später doch als Gesamtmasse unter dem mangelhaften Hauptaufruf subsumiert werden« würden.

Selenskij sucht Fans

UN-Generaldebatte im Zeichen des Krieges: Kiews »Siegesplan« floppt, breite Kritik an Netanjahus Eskalationskurs

Jörg Kronauer

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hat während seines Besuchs in den USA anlässlich der diesjährigen UN-Generaldebatte weitere Unterstützungszusagen im Wert von mehreren Milliarden US-Dollar eingesammelt. US-Präsident Joseph Biden, mit dem Selenskij am Donnerstag abend im Weißen Haus zusammentraf, versprach »Militärhilfe« für rund 2,4 Milliarden US-Dollar, darunter ein »Patriot«-Flugabwehrsystem, Gleitbomben und Drohnen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um neue Mittel, sondern um Gelder, die bereits zuvor prinzipiell genehmigt worden waren. Sie wurden von Biden nun konkret freigegeben. Der scheidende US-Präsident sagte zudem zu, weitere bereits genehmigte Mittel – 5,5 Milliarden US-Dollar – nicht verfallen zu lassen, sondern sie bis zum Ende seiner Amtszeit abzurufen. Am Mittwoch abend hatte zudem ein Sprecher der Bundesregierung am Rande der Generaldebatte mitgeteilt, Berlin werde zusätzlich 170 Millionen Euro bereitstellen, um die ukrainische Energieversorgung wiederherzustellen.

Keinen Erfolg hatte Selenskij mit seinem angeblichen »Siegesplan«, den er Biden vorlegen wollte. Ein US-Regierungsmitarbeiter hatte sich bereits vorab mit der Aussage zitieren lassen, er sei von dem Plan »nicht beeindruckt«: Dieser umfasse nur altbekannte Forderungen nach mehr Waffen und mehr Geld. Die gleichfalls in dem »Siegesplan« enthaltene Forderung, weitreichende Raketen aus westlicher Produktion auf Ziele in Russland abfeuern zu dürfen, blieb ebenso unerfüllt; die US-Position dazu habe sich nicht geändert, bestätigte Bidens Sprecherin Karine Jean-Pierre. Für Freitag (Ortszeit) war noch ein Treffen von Selenskij mit Donald Trump geplant.

Dabei wird Selenskij sein ohnehin frostiges Verhältnis zu Trump mit einem Interview, das am vergangenen Sonntag im New Yorker erschien, nicht verbessert haben. In dem Interview hatte er Trumps Vizepräsidentschaftskandidaten James David ­Vance als »zu radikal« beschimpft und belehrt, er solle sich »in die Geschichte des Zweiten Weltkriegs einlesen«. Trump revanchierte sich, indem er am Mittwoch festhielt, Washington zahle »Milliarden von Dollar an einen Mann, der sich weigert, einen Deal einzugehen«. Dabei wäre, fuhr Trump fort, »jeder Deal besser gewesen als das, was wir jetzt haben«. Nun sei die Ukraine wohl irreparabel zerstört.

Vor dem für Freitag angekündigten und von Protesten begleiteten Auftritt des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu in der Generaldebatte war in New York breite Kritik an der israelischen Kriegspolitik laut geworden. Mahmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Nationalbehörde, hatte am Donnerstag verlangt, das Töten im Gazastreifen und im Westjordanland müsse umgehend aufhören: »Stoppt dieses Verbrechen. Stoppt Waffenlieferungen an Israel.« Guyanas Präsident Mohamed Irfaan Ali hatte am Mittwoch erklärt, »das Recht auf Selbstverteidigung« werde »als Massenvernichtungswaffe« instrumentalisiert. Lasse man Israel straflos davonkommen, dann könne sich künftig »kein Staat mehr sicher fühlen«.

Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) nutzte ihren Auftritt in der Generaldebatte am Donnerstag abend, um erneut die Waffenlieferungen an die Ukraine zu rechtfertigen. Zudem teilte sie mit, Deutschland werde für einen nichtständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat in den Jahren 2027 und 2028 kandidieren.  https://www.jungewelt.de/artikel/484657.ukraine-und-nahost-selenskij-sucht-fans.html

 

 

.... und noch eine Stimme "wider den Strom":

[Ein sozialdemokratische Stimme, uff, es gibt sie noch! (Anm. hn)  ... Auszug:]  25.06.2024 | Ernst Hillebrand - ist Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Budapest. Zuvor war er Referatsleiter der Internationalen Politikanalyse, des Referats für Mittel- und Osteuropa sowie Leiter der Büros in Warschau, Paris, London und Rom.

 

Eine seltsame Begeisterung für das Militärische hat dieses Land ergriffen und vor allem seinen politischen Betrieb. Der Berliner „Blob“, wie Hans Kundnani den wissenschaftlich-medial-politischen Hauptstadtkomplex vor kurzem nannte, kennt derzeit mehrheitlich nur eine Message: mehr Waffen, mehr Soldaten, mehr Geld für Rüstung. Stellt man dies nicht bereit, „kommt der Russe“.

Für an Fakten und Zahlen orientierte Staatsbürger sind diese Forderungen nicht ganz einfach zu verstehen. Egal welchen Indikator man sich anschaut, man kommt immer zu demselben Ergebnis: Die NATO ist Russland um ein Vielfaches überlegen. Vor allem die Forderung nach mehr Geld erscheint grotesk: Die kombinierten Rüstungsausgaben der NATO-Mitgliedstaaten überstiegen 2023 – einem Jahr, in dem Russland sich mitten in einem massiven konventionellen Krieg befand – die Russlands um knapp das Dreizehnfache: Fast 1,3 Billionen US-Dollar für die NATO stehen circa 110 Milliarden Dollar für Russland gegenüber. Auch wenn man den Anteil der USA abzieht, übersteigen die Rüstungsausgaben der europäischen NATO-Mitglieder die Russlands immer noch um das Dreifache. Seit Jahrzehnten besteht ein Militärausgaben-Verhältnis in einer Größenordnung von zehn zu eins zugunsten der NATO. Wenn das nicht zu genügend Sicherheit geführt hat – was dann?

Denn es ist ja nicht so, als bildeten sich diese Ausgaben nicht in militärischen Kapazitäten ab. Egal welche Indikatoren man heranzieht – rein numerische oder auch qualitativ bewertende –, ist die NATO Russland haushoch überlegen. Dies gilt, so das Webportal Global Firepower Index, selbst für Szenarien, in denen die NATO lediglich 25 Prozent ihrer Kapazitäten zum Einsatz bringt, Russland aber 75 Prozent.

Das Argument, ein russischer Angriff auf NATO-Territorium wäre nach einer Nicht-Niederlage in der Ukraine nur eine Frage der Zeit, wirkt entsprechend freihändig. Mit der Ukraine hat Russland als global zweitstärkste Militärmacht ein auf dem Papier militärisch vielfach unterlegenes Land angegriffen (Rang 18 im Global Firepower Index). Ein Angriff auf ein schwächeres Land hat eine innere militärische Logik: Man kann einen solchen Krieg gewinnen. Ein Angriff auf einen vielfach überlegenen Gegner hat sie nicht: Man kann diesen Krieg eigentlich nur verlieren. Natürlich können sich politische Entscheider darüber täuschen, welche Siegesaussichten sie im Falle eines militärischen Konflikts haben, und der russische Überfall auf die Ukraine ist das beste Beispiel dafür. Aber angesichts der bestehenden kompletten Asymmetrie der militärischen Arsenale der NATO und eines in der Ukraine ausblutenden russischen Militärs erscheint dies als extrem unwahrscheinlich.

In vielerlei Hinsicht wirkt die gegenwärtige Berliner Militarisierungsbegeisterung daher eher wie eine Art Überkompensation für vergangene Fehleinschätzungen. Dies gilt gerade für die Grünen, die in der Person Anton Hofreiters vor kurzem ein zusätzliches 100-Milliarden-Paket für Militärausgaben und die Aufhebung der Schuldenbremse forderte. Das ist derselbe Dr. Anton Hofreiter, der im Juli 2020 einen Antrag der Grünen-Bundestagsfraktion unter dem Titel „Beitrag der Bundeswehr gegen die Klimakrise stärken – CO2-Ausstoß der Streitkräfte deutlich reduzieren und konsequent erfassen“ in den Bundestag einbrachte. Dort wurde die Bundesregierung aufgefordert, „eine Strategie vorzulegen, um den CO2-Ausstoß innerhalb der Bundeswehr in Gänze zu reduzieren und sich auch innerhalb der NATO für eine generelle Reduktion des CO2-Ausstoßes der Streitkräfte einzusetzen“. Auch bei Waffenkäufen sollte das gelten. Es gelte „bei sämtlichen Beschaffungsentscheidungen den CO2-Ausstoß stärker zu gewichten und, wo es möglich ist, zu priorisieren“ sowie natürlich „Munitions-, Raketentests sowie sonstige Schießübungen auf das notwendige Maß zu reduzieren“.

Wir sprechen vom Juli 2020, mit Bundeswehrsoldaten in Mali und Afghanistan, einem anhaltenden low intensity-Artilleriekrieg im Donbass, einem anschwellenden Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan und einem militärischen Konflikt in Syrien unter direkter Beteiligung der NATO-Partner USA und Türkei. (....)

(....) Deutschland hat noch ein paar andere Baustellen, auf denen Geld gut gebraucht werden kann: Wohnungsbau, Bildung, Infrastruktur, Energiewende, Integration, Pflege, Digitalisierung, um nur ein paar der Großaufgaben zu nennen. Die politische und soziale Destabilisierung, die von ungelösten Hausaufgaben in diesen Bereichen ausgeht, könnte sich als deutlich realer erweisen als ein sehr unwahrscheinlicher, im Kern suizidärer Angriff Russlands auf die NATO. Und auch das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung dürfte von Messerangriffen im öffentlichen Raum nachhaltiger gestört werden als von der Angst, dass der russische Bär schon durchs Schlüsselloch schnaubt.

Überkompensation für vergangene Fehleinschätzungen ist menschlich verständlich. Sie ist aber keine rationale Politikbegründung. Für all diejenigen, die es eher mit faktenbasierter Politik halten, bleibt angesichts des Militarisierungsbegeisterung im Berliner „Blob“ der gute alte Satz Joschka Fischers: „Sorry, but I am not convinced!“

 

Ein Interview mit dem Soziologen Jens Beckert

Soziologe Jens Beckert blickt auf Schwächen und Lösungen der Klimapolitik. Er zeigt, warum Optimismus und Angst nichts gegen den Klimawandel bewirken.

Professor Beckert, wenn Sie sich die Klimapolitik der Länder ansehen, welchen Eindruck macht das auf Sie?

Die Klimapolitik ist gewissermaßen auf den Rücksitz gerutscht. Vor ein paar Jahren, etwa im Jahr 2021 mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts und der anschließenden Anpassung des Klimagesetzes, konnte man noch etwas Hoffnung haben, dass die Dringlichkeit verstanden ist und das Problem ernst genommen wird. Aber die Entwicklung der letzten Jahre verstärkt meinen Eindruck, dass jede Ernsthaftigkeit in dieser Frage verloren gegangen ist. Man versucht, es politisch möglichst weit aufzuschieben.

Sie sprechen in Ihrem Buch von einem „Skandal“.

Angesichts der Tatsache, dass es um die Lebensgrundlagen der Menschen geht, ist diese Klimapolitik ein Skandal. Wir haben keine zweite Welt zur Verfügung. Politik ist verpflichtet, Schaden von dem Volk abzuwenden und für das Wohlergehen der Bevölkerung Sorge zu tragen. Die Unangemessenheit von Klimapolitik kann man nur als Skandal bezeichnen. Das gilt übrigens weltweit.

Keine Panik vor der Klima-Apokalypse: Folgen des Klimawandels sachlich betrachten

Ist denn die Klima-Apokalypse noch abwendbar?

Ich spreche ungern von einer Apokalypse. In dem Buch geht es mir nicht darum, Panik zu schüren, sondern die Situation zu verstehen und zu schauen, was sich noch machen lässt. Wir müssen davon ausgehen, dass es zu einer Erwärmung des Klimas um 2,5, möglicherweise sogar drei Grad kommen wird. Dies lässt sich den Prognosen der Klimawissenschaftler entnehmen.

Damit stehen uns dramatische Veränderungen bevor, darunter eine Zunahme von Extremwetter und ein Anstieg des Meeresspiegels. Es gibt eine enorme Dringlichkeit, jetzt etwas zu tun. Mir fehlt der Optimismus zu denken, wir könnten noch irgendwie in die Nähe der Pariser Klimaziele kommen. Unsere Politik müssen wir darauf ausrichten, dass wir sie wohl weit übertreffen werden.

Was bedeutet eine starke globale Erwärmung für die Gesellschaften?

Von Klimaerwärmung betroffene Gesellschaften werden immer stärker Verluste erleiden. Diese werden jedoch nicht einheitlich verteilt sein; es wird sowohl innerhalb von Gesellschaften zu Ungleichheiten kommen als auch global. Die meisten Klimaschäden entstehen derzeit ja im globalen Süden. Je höher die Verluste durch Klimaschäden, desto stärker werden durch den Klimawandel soziale Konflikte ausgelöst.

Es werden mehr Ressourcen aufgewendet werden müssen, sowohl für Klimaanpassung als auch für die Behebung von Schäden. Das sind alles Gelder, die für andere wichtige Aufgaben nicht mehr zur Verfügung stehen werden. Wir sehen die sozialen Konflikte in ihren Anfängen bereits.

Diskrepanz zwischen globalem Norden und Süden: Prioritäten bei Umwelt und Klima

Was haben Sie da vor Augen?

Wenn man in Europa schaut, so sind die Bauernproteste etwa in den Niederlanden durch die Frage der Minimierung der Treibhausgase in der Tierhaltung ausgelöst worden. Von den Menschen wird eine erhebliche Umstellung ihrer Lebensweise verlangt.

Dagegen richten sich die Proteste. Und wenn wir in den globalen Süden schauen, erkennen wir bereits deutlich massivere Auseinandersetzungen, etwa um den Zugang zu Wasser oder Weideland. Die Länder haben kaum Möglichkeiten zur Abhilfe, um die existenziellen Bedrohungen für ihre Bevölkerungen abzufedern. Das ist in reichen Ländern zurzeit sicherlich noch möglich.

Politik nicht alleinig Schuld an Klimapolitik – Wirtschaft und Bürger zum Klima

Sind die Demokratien nicht in der Lage, angemessen auf die Herausforderung zu reagieren?

An der Demokratie allein liegt es sicherlich nicht. In dem Buch argumentiere ich ja, dass alle drei Bereiche – Wirtschaft, Politik und Bürger – es nicht hinbekommen angemessen zu handeln. Die Politik hauptsächlich aus dem Grunde, weil sie wirtschaftliche Aktivitäten ja nicht einfach abwürgen kann. Würden fossile Geschäftsmodelle relativ schnell dichtgemacht, würden die Treibhausgasemissionen sinken.

Das aber geht aus der Logik des politischen Handelns heraus nicht, weil die Politik für Steuereinnahmen und Wählerzustimmung auf eine brummende Wirtschaft angewiesen ist. Außerdem macht die Politik regelmäßig die Erfahrung, dass ernsthafte Klimapolitik den Widerstand von Interessengruppen hervorruft. Und dies, obwohl es in Meinungsumfragen hohe Unterstützung für Klimapolitik gibt.

Dennoch ist es zu kurz gegriffen zu denken, dass das Problem einfach in den Strukturen der Demokratie liegt. Leider gibt es auch in der Wissenschaft die Vorstellung, man benötige zunächst einen Klimadiktator, damit das Problem gelöst wird.

Was denken Sie darüber?

Ich halte das für vollkommen abwegig. Autoritäre Systeme haben eine extrem schlechte Klimabilanz. Ganz zu schweigen davon, wie eine solche Klimadiktatur überhaupt mehrheitsfähig werden sollte. Man sieht ja schon bei den zaghaften Versuchen der Grünen, mehr Tempo in die Klimapolitik zu bringen, wie schnell sich Widerstand regt. Es geht darum, einen Konsens in der Gesellschaft hinsichtlich der Dringlichkeit dieses Problems zu schaffen. Man wird Klimapolitik nicht gegen die Bevölkerung durchsetzen können.

Gefahr beim Klimawandel zu entfernt: Pandemie und Klimapolitik nicht vergleichbar

Dennoch bleibt die Politik der entscheidende Akteur. Sie hat bereits unterstrichen, dass sie durchaus exekutive Gewalt nutzen kann, in der Pandemie. Warum funktioniert das jetzt nicht?

Der Unterschied zwischen Pandemie und Klimapolitik ist die Frage der zeitlichen Unmittelbarkeit. Politik kann solche freiheitseinschränkenden Entscheidungen leichter treffen, wenn die Gefahr unmittelbar vor Augen steht. Ein anderes Beispiel neben der Pandemie wären auch Regierungen in Kriegsfällen, wo das auch sehr schnell funktioniert.

Bei der Klimakrise handelt es sich um ein Problem, dessen Folgen zwar in Teilen bereits deutlich werden, wo aber die eigentliche Bedrohung erst in der weiteren Zukunft gesehen wird. Hier ist es sehr viel schwerer, die notwendigen Maßnahmen zu treffen und Überzeugungsarbeit zu leisten.

Welche Fehler wurden da zum Beispiel bei der Energiewende gemacht, etwa beim Heizungsgesetz?

Ich denke, beim Heizungsgesetz gab es große Kommunikationsfehler der Politik. Aber es geht auch um die soziale Betroffenheit von Klimaschutzmaßnahmen. Klimapolitik führt zu finanziellen Belastungen. Diese machen sich bei Einkommensschwächeren stärker bemerkbar als bei Wohlhabenderen. Sie besitzen für sie also eine höhere Bedeutung. Daher gibt es auch stärkere Ablehnung. Ohne sozialen Ausgleich, wie etwa durch ein Klimageld, wird politische Zustimmung nicht zu haben sein.

Zur Person

Jens Beckert, geboren 1967, ist seit 2005 Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und Professor für Soziologie in Köln.

Sein jüngstes Buch „Verkaufte Zukunft“ (Suhrkamp 2024)  ist für den deutschen Sachbuchpreis nominiert, der am 11. Juni vergeben wird. Im Jahr 2018 erschien sein Buch „Imaginierte Zukunft“ (Suhrkamp), in dem er zeigte, dass Vorhersagen und Visionen zwar willkommene Pfeiler zur wirtschaftlichen Orientierung sind, aber zugleich auch in die Irre führen können.

Wie steht es da um die Eliten, die ja vorangehen müssten, aber aus dem Blick geraten. Dabei ist ihr Anteil nicht zu vernachlässigen.

Es gibt eindeutige Befunde, die besagen, dass der CO2-Ausstoß mit dem Einkommen steigt. Je höher der Lebensstandard, desto höher der CO2-Ausstoß. Das nimmt bei den Superreichen obszöne Formen an, wo pro Kopf auch schon mal 10 000 Tonnen CO2 ausgestoßen werden. Das sind Menschen, die etwa mit dem Privatflugzeug fliegen und große Jachten haben.

Das macht nicht den Hauptteil der Treibhausgase aus, aber es steuert einen nicht unbedeutenden Teil dazu bei. Will man dem Klimawandel begegnen, müsste sich aber auch der Lebensstil der Mittelschichten im globalen Norden grundlegend verändern. Dies wird kaum gelingen. Weder wird man die mächtigsten Personen der Gesellschaft zum Verzicht motivieren, noch die Mittelschichten.

Denn in unserer Gesellschaft bringt Konsum sozialen Status zum Ausdruck. Das gilt nicht nur für die Superreichen, sondern letztendlich für alle. Die soziale Position bestimmt sich über eine großzügige Wohnung, das Auto oder ferne Urlaubsziele. Oder eben über eine Superjacht. Diese Strukturen werden sich allenfalls sehr langfristig verändern.

Und Konsumorientierung gilt zunehmend natürlich auch für die Menschen im globalen Süden, die derzeit noch einen vergleichsweise geringen Energieverbrauch haben. Länder wie Indien stehen in den Startlöchern ihrer ökonomischen Entwicklung, und auch dort gilt: je höher das Einkommen, desto höher die CO2-Emissionen.

Ende vom Kapitalismus? Protest-Bewegungen zu schwach

Wäre es da besser, den Kapitalismus ganz zu verabschieden?

Die kapitalistische Wirtschaftsform ist zutiefst problematisch in Bezug auf die Ausbeutung der Natur. Dennoch halte ich die Rede vom Ende des Kapitalismus für unsinnig. Es müsste ja erst mal gesagt werden, woher das überhaupt kommen soll. Es gibt keine einflussreichen Bewegungen in unserer Gesellschaft, die ein völlig anderes Gesellschaftssystem fordern.

Das kann man ja auch gut verstehen. Wenn wir über ein Land wie Deutschland sprechen, ist der Kapitalismus enorm erfolgreich, weil er einen immensen Wohlstand geschaffen hat. Solche Ideen mögen sympathisch klingen, aber wir müssen von der politischen Realität ausgehen. Es hilft nicht, irgendwelche Wunschschlösser aufzubauen. Die Frage muss sein, wo politisch umsetzbare Ansatzpunkte liegen, die uns helfen.

Ziel des Wirtschaftswachstums im Zwiespalt: Verzicht vs. grüner Turbokapitalismus

Hilft letztlich nur der Verzicht?

Wenn wir das Problem schnell angehen wollen, geht es derzeit nur über Verzicht. Denn die Transformation weg von der fossilen Energie hin zu erneuerbaren Energien wird nicht schnell genug sein. Wenn wir den Ressourcenverbrauch immer weiter steigern, was wir durch weiteres Wachstum ja tun, werden sich auch die bestehenden ökologischen Krisen verstärken. Es geht nicht ohne ein Weniger. Gleichzeitig ist klar, dass dies politisch eine vermutlich nicht zu meisternde Herausforderung ist.

Kanzler Scholz hat zum Regierungsantritt einen grünen Turbokapitalismus angekündigt.

Das zeigt die politische Hilflosigkeit. Es hat die Illusion genährt, das Problem ließe sich einfach durch technologischen Fortschritt und Investitionen lösen, ohne dass es irgendjemandem wehtun wird. Dies funktioniert nicht, weil die grüne Transformation viel zu langsam vorankommt, denn sie ist enorm teuer und auch ein solch riesiges Projekt, dass sie sich über viele Jahrzehnte erstrecken wird.

Auf grünes Wachstum zu setzen, ist insofern auch eine politische Beruhigungsstrategie. Natürlich muss die Energiewende vorangebracht werden. Doch das wird uns nicht zu den Pariser Klimazielen bringen. Auch in Deutschland haben fossile Energien noch einen Anteil von fast 80 Prozent am Energieverbrauch.

Klimapolitik international denken: Lokale Aktion statt Kolonialismus und Ausbeutung

Wenn wir bestimmte Technologien stärker fördern wie den batteriebetriebenen Pkw etwa, beuten wir dann nicht den Süden aus?

Es ist eine Fortsetzung von Geschäftsmodellen, die aus dem Kolonialismus seit Jahrhunderten bekannt sind. Der globale Süden wird zum Rohstofflieferanten für den globalen Norden. Der globale Süden wird an der Wertschöpfung sehr wenig beteiligt, hat aber zusätzliche ökologische und soziale Negativfolgen zu tragen, etwa bei indigenen Gemeinschaften oder bei der Umweltverschmutzung. Der Lithiumabbau in Südamerika ist ein Beispiel dafür. Für die Lösung unserer Umweltprobleme verstärken wir die Umweltkrisen in anderen Weltregionen.

Was müsste Ihrer Meinung nach jetzt passieren?

Wir müssen uns der Situation stellen, dass es zu einer deutlichen Temperaturerhöhung kommen wird. Damit rücken Fragen der Klimaanpassung in den Vordergrund. Und dann müssen wir uns fragen, wie Politik auf die Klimaerwärmung besser reagieren könnte. Dafür bedarf sie der Unterstützung der Wähler. Die Bevölkerung wird Klimapolitik eher unterstützen, wenn sie deren konkreten Nutzen erfahren kann.

Dafür kommt es stark auf die Ebene von lokalem Handeln an, wo sich Menschen begegnen und austauschen und an der Festlegung von Wegen und Zielen beteiligt sind. Möglicherweise wachsen dabei Einstellungen, die politisch robuster sind als eine allgemeine Zustimmung zum Umweltschutz, die wir ja auch heute in Meinungsumfragen sehen.

Staat nicht mehr als Wirtschaftsschützer? Die Rolle des Staates im Klimawandel

Das betrifft das Bürgertum. Und der Staat?

Ein wichtiger Schluss ist, dass wir über eine andere Rolle des Staates nachdenken müssen, über ein anderes Modell als die starke Marktgläubigkeit, die wir in den letzten Jahrzehnten hatten. Ich meine eine sehr viel aktivere Rolle des Staates, der energischer in Gemeinschaftsgüter der kollektiven Daseinsvorsorge investiert.

Wir brauchen ein funktionierendes Gesundheitssystem, einen funktionierenden Katastrophenschutz in der Klimakrise, aber wir benötigen auch einen funktionierenden Nahverkehr auf dem Land und sehr viel Geld für die Energiewende. Der Staat wird sich hier viel stärker engagieren müssen, als wir es uns im Moment vorstellen können.

Haben Sie noch Hoffnung?

Die Hoffnung ist, dass wir politische Instrumente finden, die einen besseren Umgang mit dem Klimaproblem ermöglichen. Wenn die Klimaerwärmung dadurch etwas geringer ausfällt, ist dies bereits ein Erfolg.

 

Jens Beckert: Verkaufte Zukunft
Suhrkamp 3-2024 (Auszug, Schlusskapitel)
 

9 WIE WEITER?

Der Ausstoß riesiger Mengen Treibhausgase lässt sich mit einem Tanker vergleichen, der einen Bremsweg von vielen Jahrzehnten hat. Dass er so lange braucht, um zum Stillstand zu kommen, liegt aber nicht allein an seinem Gewicht. Darüber hinaus erlauben die Steuerinstrumente nur bestimmte Manöver, andere hingegen sind blockiert. Auf der Kommandobrücke und im Maschinenraum des Tankers arbeitet eine Vielzahl von Menschen. Einige von ihnen wollen scharf bremsen, andere einfach weiterfahren. Noch dazu besteht die Vermutung, dass der Tanker sich überhaupt nicht stoppen lässt, ohne auseinanderzubrechen.
Bisher habe ich einen Blick auf die Konstruktionspläne, auf die Kommandobrücke und in den Maschinenraum dieses Tankers ge- worfen, um zu einem Verständnis der Mechanismen zu gelangen, welche die Welt in die Klimakrise gebracht haben und auch den Ausweg versperren. Der in dem Buch zum Ausdruck gebrachte nachdenkliche Realismus bedeutet an erster Stelle, die Kräfte in Wirtschaft und Politik sowie bei Bürgern und Konsumenten zu verstehen, die die Handlungsweisen im Kampf gegen die Klima- krise bestimmen und angemessene Reaktionen verhindern.
Niemand kann genau wissen, welche Klimabedingungen am Ende des 21. Jahrhunderts vorherrschen werden, doch so viel ist klar: Wir werden in den kommenden Jahrzehnten von weiterer bedeutender Erderwärmung betroffen sein. Die Auswirkungen werden erheblich sein, sie werden global sein und sie werden zwischen Ländern und innerhalb von Gesellschaften ungleich verteilt sein. Bisher konnten Gesellschaften die Kontinuität der natürlichen Lebensgrundlagen als gegeben voraussetzen, hin und wie-
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der erschüttert durch vorübergehende Naturkatastrophen. Mit dem Klimawandel entsteht eine, wie es der Kulturwissenschaftler Martin Müller ausdrückt, "neue Unzuverlässigkeit der Natur"!
Die Natur selbst wird zu einer Variablen, indem sie sich als zer- brechlich offenbart. Dies fordert die gesellschaftlichen Steue- rungsmechanismen heraus, eine drastisch erhöhte Komplexität zu verarbeiten. Doch bislang löst die Klimaveränderung nicht die notwendigen sozialen Kräfte aus, die bestehenden gesellschaft- lichen Strukturen so zu verändern, dass die notwendige Eingren- zung des Klimawandels möglich würde. Der Kampf gegen den Kli- mawandel scheitert an den Macht- und Anreizstrukturen des auf Gewinnerwirtschaftung, Konsum und unbegrenztes Wachstum geeichten Gesellschaftssystems - trotz des Wissens um die Gefah- ren zukünftiger Klimaveränderung. Dabei läuft die Zeit auch politisch davon, weil der Klimawandel sich dynamisch weiterentwickelt und damit immer schwieriger zu handhaben sein wird.
Das heißt nicht, dass nichts geschehen würde. Aber es reicht nicht. Es heißt auch nicht, dass es keine Besorgnis gäbe. Es gibt soziale Bewegungen von Klimaschützern, die mit teils spektakulären Aktionen auf die Misere aufmerksam machen. Auch Wissenschaftler und Medien warnen vielfach. Und in Meinungsumfragen sehen in vielen Ländern die allermeisten Menschen den Klimawandel als ein großes oder sogar als das größte Problem unserer Zeit. Dies gilt ebenso für viele Politiker. Und auch die Konzernlenker haben Familien, deren zukünftiges Leben ihnen vermutlich nicht gleichgültig ist. Doch diese Besorgnis stößt auf Strukturen, die machtvoller sind als Einsicht und Sorge. Investitionsentscheidungen werden unter Gesichtspunkten der Rentabilität getroffen, egal, welche Diskussionen morgens am Frühstückstisch der Manager stattfinden. Politiker müssen Mehrheiten organisieren und gehen dafür Kompromisse ein. Konsum und dessen Steigerung, die Angst vor dem Verlust vertrauter Lebensstile und von Arbeitsplätzen sind wirkmächtige Zutaten in der sozialen Ordnung moderner
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Gesellschaften. Und selbst bei größtem individuellen Umweltbewusstsein kommen Menschen nicht gegen die Infrastrukturen an, die für ein Leben mit fossilen Brennstoffen errichtet wurden.
Die Antworten auf den Klimawandel bewegen sich inerhalb strukturell bedingter Schranken und können daher die notwendigen Veränderungen nicht hervorbringen. Nötig wäre eine Vollbremsung, die schnelle Reduzierung der verschiedenen Ressourcenbelastungen unter die zuvor geschilderten planetaren Grenzen. Möglich wäre dies nur durch die Abkehr vom Wachstumsimperativ der Wirtschaft, durch politisch beschlossene und forcierte Maßnahmen zum Klimaschutz und durch die Umstellung auf Lebensformen, bei denen der exzessive Konsum seine vorherrschende Rolle verliert. Doch all dies geschieht nicht. Stattdessen steigt die Verbrennung fossiler Energieträger weiter, finden politische Entscheidungen ihre Grenzen an der kippenden Zustimmung der Wähler sowie den Renditeerwartungen privater Investoren und verteidigen Konsumenten ihre etablierten Lebensformen.

Das wirft die Frage nach den verbleibenden Möglichkeiten auf. Worauf sollte sich die Aufmerksamkeit richten, wenn wir davon ausgehen, dass sich die Erde in diesem Jahrhundert möglicherweise um 2,5 Grad im Vergleich zur Temperatur des vorindustriellen Zeitalters aufheizt? Am Ende dieses Buches möchte ich versuchen, ein Bild davon zu zeichnen, was es heißen könnte, angesichts des- sen klug und moralisch zu handeln.
Überlegungen zum politischen Handeln können nach den Betrachtungen der voranstehenden Kapitel nicht leicht von der Hand gehen. Denn meine Ausführungen zeigten ja gerade, wie die durch die kapitalistische Moderne gesetzten Macht- und Anreizstrukturen die angemessene Reaktion auf den Klimawandel blockieren. Daher wäre Resignation eine durchaus nachvollziehbare Schlussfolgerung. Es ist jedoch nicht die, die ich ziehe. Denn ganz gleich, welche Folgen der Klimawandel in den nächsten Jahrzehnten haben wird: Gesellschaften müssen auf die Situation reagieren. Alles andere würde auf die Hinnahme eines zivilisatorischen Zusammenbruchs hinauslaufen.
Wenn also nicht Resignation, was dann? Der eine oder andere mag aus dem Gesagten vielleicht die Forderung ableiten, den Ka- pitalismus selbst abzuschaffen. Denn wäre, so die Überlegung, das Gesellschaftssystem der kapitalistischen Moderne erst bezwungen, würde Raum für eine soziale Ordnung entstehen, die frei ist von Wachstumszwang und der Übernutzung natürlicher Ressourcen. Dies ist die Position von Verfechtern einer Postwachstumsgesellschaft. Weiter oben habe ich bereits das bemerkenswerte Buch von Jason Hickel erwähnt, in dem dieser sehr überzeugend zeigt, wie der Kapitalismus die natürlichen Grundlagen des Planeten zerstört und dass die Lösung nur in einer Verringerung des Ressourcenverbrauchs liegen kann. Auf vielen Seiten skizziert er sehr ansprechend die Konturen einer alternativen Postwachstumsgesellschaft. Die amerikanische Philosophin Nancy Fraser stieß jüngst in dasselbe Horn. Um der Klimakrise zu begegnen, so stellt sie fest, müsse "zuallererst die Macht, unser Verhältnis zur Natur zu bestimmen, der Klasse entrissen werden, die sie derzeit monopolisiert, damit wir dieses Verhältnis endlich von Grund auf neu erfinden können".3
Ich bin ebenfalls der Auffassung, dass für ein Leben innerhalb der planetarischen Grenzen kein Weg an nachhaltigen Beschränkungen von wirtschaftlichem Wachstum und exzessivem Konsum vor allem in den hoch entwickelten Ländern vorbeiführt und dass solche Einschränkungen nicht mit den bestehenden Strukturen der kapitalistischen Moderne vereinbar sind. Und dennoch frage ich mich, ob hinter den eingängigen Forderungen nach einem radikalen Systemwechsel mehr steht als eine routinierte Attitüde.4 Denn sie lassen völlig offen, wie es Gesellschaften gelingen soll, sich angesichts der bestehenden Macht- und Anreizstrukturen in solche Postwachstumsgesellschaften zu verwandeln. Und ebenso schweigen sie sich darüber aus, wie sich eine schrumpfende Wirt-
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schaft mit gesellschaftlicher Stabilität verträgt. Solange die Systemwechsel-Forderung nicht als eine schöne Utopie, in die sich wohlwollende Leser kurzzeitig flüchten können. Darüber hinaus produzieren derartige Erlösungserzählungen zuverlässig neue Enttäuschungen, weil sich bald herausstellt, dass die in ihnen ausgeschmuckten Veränderungen nicht - oder zumindest nicht in absehbarer Zeit - eintreten werden. In der akuten Sache des Klimawandels helfen sie jedenfalls nicht weiter.
Zweifelsohne ist die kapitalistische Moderne auch nur eine ge schichtliche Epoche, die wie alle historischen Formationen irgendwann enden wird. Es gibt keine Ewigkeitsgarantie für den Kapitalismus. Irgendwann einmal wird ein Museum der Geschichte des Kapitalismus errichtet, das die Besucher mit ähnlich ungläubigem Blick durchschreiten werden, wie wir uns heute eine Ausstellung über das antike Rom, die Hochkultur der Maya oder den Feudalismus anschauen. Doch wer heute mit wachem politischen Blick durch die Welt geht, sieht einen quicklebendigen Kapitalismus, der zwar hin und wieder durch Krisen erschüttert wird, aber offensichtlich imstande ist, sich chamäleonesk an veränderte Bedingungen anzupassen. Bestätigt wird dies auch durch die tatsächlich eingeschlagenen Wege zur Reduzierung des Treibhausgasausstoßes, die eher auf einen grünen Turbokapitalismus hindeuten als auf ein Ende dieses Wirtschaftssystems. Eine breit getragene antisystemische Protestbewegung, wie von Nancy Fraser angemahnt, gibt es derzeit nicht, sosehr sie sich einige auch wünschen. Das heißt natürlich nicht, dass es sie nie geben wird.
Die Frage "Wie weiter?" verlangt nach einer Antwort, in der gangbare Wege aufgezeigt werden, wie Druck von den ökologischen Systemen der Erde genommen werden könnte. Hierfür wäre der Sturz der gesamten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung möglicherweise noch nicht einmal zielführend. Denn dieser würde ja nicht per Handschlag vereinbart werden und friedlich von-
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stattengehen, sondern sich im Rahmen politischer und wirtstaftlicher Kämpfe vollziehen, in deren Verlauf Klimapolitik vermutlich keine Priorität hätte. Außerdem erstrecken sich solche fundamentalen sozialen Wandlungsprozesse über Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte. Angesichts des unbarmherzigen Zeitplans, den uns der Klimawandel diktiert, kann man nur sagen: Wir haben schlicht nicht die Zeit, erst die bestehende Gesellschaftsordnung umzustoßen, dann eine neue zu errichten, um schließlich irgend wann einmal das Klimaproblem anzugehen. Ganz abgesehen davon, dass man die Zuversicht haben müsste, dass ein anderes politisches und wirtschaftliches System tatsächlich der natürlichen Umwelt Priorität einräumen würde und dies auch global durchsetzen könnte. Dies alles mag man der gegenwärtigen Situation als zusätzliche Paradoxie hinzurechnen. Sie lässt sich aber nicht wegwünschen.

Für mich folgt aus dem Gesagten die Aufgabe, realistische Ansatzpunkte für die Klimapolitik zu benennen, und zwar im klaren Bewusstsein, dass diese keinen gordischen Knoten zerschlagen werden und daher auch von weiterer Klimaerwärmung ausgegangen werden muss. Klimapolitik findet in einem Gefüge komplexer Verschachtelungen von Interessen und Strukturen, Lebensformen und Überzeugungen sowie Möglichkeiten und Alternativen statt, die sich als Dilemmata auf der ganzen Bandbreite vom Lokalen zum Globalen bemerkbar machen und teilweise enorm weite Zeithorizonte umfassen. Das ist der Grund, warum der Klimawandel ein tückisches Problem ist, das mit hoher Ungewissheit hinsichtlich der weiteren Entwicklungen einhergeht und keine klaren Lösungen erwarten lässt, die auf einfache Weise umsetzbar wären und es damit aus der Welt schaffen. Zu erwarten sind allenfalls partielle Lösungen - und dass die Lösungswege sich im Lichte der Entwicklungen und Erfahrungen ständig verändern und grundsätzlich umstritten bleiben. Darüber hinaus müssen bei allen Vorschlägen stets die sozialen und politischen Bedingungen und Folgen der
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Umsetzung im Blick bleiben. Mit anderen Worten: Tückische Probleme sind politisch besonders schwer zu handhaben.
Auf einer allgemeinen Ebene kann es daher nur darum gehen, eine Perspektive zu entwickeln, deren Umsetzung politisch machbar ist und dabei helfen würde, Zeit zu gewinnen, damit sich Gesellschaften besser auf den Klimawandel einstellen können, die Defossilisierung der Energiegewinnung beschleunigt und das Wachstum der Ressourcennutzung reduziert werden kann. Erneut sei daran erinnert, dass der Klimawandel keine Entweder-oder-Angelegenheit ist, sondern eine des Mehr-oder-weniger. Eine Ver- langsamung des Klimawandels verschafft lediglich mehr Zeit, in der aber gesellschaftliche und technische Entwicklungen stattfin den könnten, die neue politische Optionen eröffnen. Hierzu könnten auch die absehbar dramatischer werdenden Erfahrungen mit den Folgen des Klimawandels selbst beitragen, die vielleicht die Handlungsbereitschaft bei Wirtschaft, Politik und Bürgerinnen und Bürgern erhöhen."
Auszugehen ist jedenfalls von der Realität. Der Klimawandel ist längst da, er wird sich verstärken und eine große Dramatik entfalten. Ein Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um 2,7 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau würde nach Meinung von Experten dazu führen, dass ein Drittel der Weltbevölkerung aus der sogenannten Klima-Nische herausfiele. Das hieße für ungefähr drei Milliarden Menschen auf dem Globus im 22. Jahrhundert ein Leben in Gebieten, die aufgrund großer Hitze und Trockenheit für den menschlichen Organismus eigentlich unbewohnbar sind. Schon heute lassen die Hitzeperioden in Indien und Thailand oder die gestiegenen Temperaturen in den arabischen Ländern erahnen, was dies konkret bedeuten wird. Und auch in den Vereinigten Staaten und in Europa gibt es längst Vorboten von klimatischen Bedingungen, unter denen sich Gesellschaften gleichzeitig mit den Ursachen und mit den Folgen des Klimawandels auseinandersetzen müssten. Klimaschutz ist schon allein deshalb
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eine epochale Aufgabe, weil ein ungebremster Klimawandel Folgen hätte, die so verheerend wären, dass sie sich nicht mehr durch Anpassungsmaßnahmen beherrschen liegen. Zusätzlich mussen Gesellschaften aber verstärkt dazu übergehen, Anpassungen an die zu erwartenden veränderten klimatischen Bedingungen vorzunehmen.
Wenn sich zunehmend Trockenheit ausbreitet, ist es erforderlich, Wassersysteme neu zu konzipieren, damit die Wasserversor gung von Haushalten, Industrie und Landwirtschaft gesichert ist. Prioritäten müssen gesetzt, derzeit praktizierte Formen der Landwirtschaft und des Tourismus müssen überdacht werden. Wie kann Landwirtschaft so gestaltet werden, dass ihr Wasserverbrauch sinkt? Wenn die Temperaturen im Sommer auf über 40 Grad ansteigen, müssen Städte bewohnbar gehalten werden, beispielsweise durch Begrünung, Verschattung von öffentlichen Plätzen oder die Errichtung öffentlicher Räume zur Abkühlung. Wenn in Teilen der Welt sich lange anhaltende Hitzeperioden häufen, dann muss die Bevölkerung geschützt werden, etwa mithilfe der Installation von Klimaanlagen - sei es in asiatischen Großstädten oder in französischen Altersheimen - und der Bereitstellung eines öffentlichen Gesundheitssystems, das auf die gesundheitlichen Folgen von Hitzeperioden vorbereitet ist. Gleichzeitig müssen Stromnetze so ausgebaut werden, dass diese dem erhöhten Energiebedarf standhalten. Und wenn der Meeresspiegel steigt, sind küstennahe Ortschaften zu schützen oder aber Entscheidungen zu ihrer Räumung zu treffen. Dies sind nur wenige Beispiele für notwendige und politisch zu beschließende Anpassungen an eine Welt, in der die Folgen des Klimawandels immer stärker in den Vordergrund rücken werden. Sie stellen sich als Herausforderungen bereits heute.

Klimaanpassung ist allerdings nicht bloß eine ingenieurwissenschaftliche Aufgabe. Auch gesellschaftliche und politische Ordnungen müssen resilienter werden gegen den sozialen Stress, der aus den veränderten klimatischen Bedingungen entsteht. Diese
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erfährt aus meiner Sicht noch zu wenig Aufmerksamkeit, und die Sozialwissenschaften, in deren Bereich sie fällt, sind aufgefordert, hier ihren Beitrag zu leisten. Fakt ist: Je stärker die Folgen des Klimawandels spürbar werden, desto stärker kommen auch soziale und politische Ordnungen unter Druck, weil sich innergesellschaftliche und zwischenstaatliche Konflikte verstärken. Diese Konflikte werden um die Nutzung knapper werdenden Wassers, um die Art von Landwirtschaft und Bebauung, die künftig möglich ist, um die Extraktion von Ressourcen und um die Veränderung von Lebensweisen kreisen. Verstärkt werden sie dadurch, dass ein immer größerer Anteil der vorhandenen finanziellen Ressourcen für kurzfristige Anpassungen und Schadensbehebung verwendet werden muss und damit nicht für den Klimaschutz zur Verfügung steht. Und übrigens auch nicht für die zahlreichen anderen Aufgaben, die in jedem Gemeinwesen nach wie vor anfallen, die finanziert werden müssen und politische Aufmerksamkeit benötigen.
Darüber hinaus geht es um die Eindämmung gewaltsamer Konflikte, die der Klimawandel verstärkt, und um eine angemessene Reaktion auf die prekärer werdende Versorgungssicherheit aufgrund sinkender landwirtschaftlicher Produktivität und wachsender sozialer Konflikte. Für Naturkatastrophen gilt allgemein, dass ärmere Bevölkerungsgruppen weniger geschützt sind und größere Schäden erfahren als reichere. Das gilt auch in Bezug auf den Kli- mawandel. Die stärksten Schäden werden im globalen Süden er- wartet, das heißt in Ländern, die noch dazu die geringsten Mittel haben, sich vor den Folgen zu schützen.
Die Zunahme von Schäden durch den Klimawandel und die Notwendigkeit, mehr Ressourcen für Klimaschutz und Klimaanpassung aufwenden zu müssen, führen zu einer brisanten sozialen und politischen Lage. Denn verteilt werden in der Zukunft immer weniger Zugewinne und immer mehr Verluste. 10 Das kratzt an Selbstverständnis und Zukunftsversprechen der kapitalistischen
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Moderne und befördert Polarisierungen und Konflikte. In dieser Situation eine inklusive Struktur sozialer Ordnung aufrechtzuer halten, wird alle Aufmerksamkeit verlangen. Sonst droht ein Szenario, das der US-amerikanische Soziologe und Historiker Mike Davis vor einigen Jahren wie folgt beschrieben hat:

"Anstatt kühne Innovationen und internationale Zusammenarbeit zu beflügeln, könnten wachsende ökologische und so- zioökonomische Verwerfungen einfach dazu führen, dass die Eliten noch fieberhafter nach Wegen suchen, sich vom Rest der Menschheit abzuschotten. In diesem wenig erkundeten, aber nicht unwahrscheinlichen Szenario würde eine globale Schadensbegrenzung stillschweigend aufgegeben [...] zu- gunsten von forcierten Investitionen in eine selektive Anpassung der First-Class-Passagiere der Erde. Das Ziel wäre die Schaffung von grünen, eingezäunten Oasen des perma- nenten Wohlstands auf einem ansonsten leidgeprüften Planeten."

Wie also ist soziale Ordnung unter Bedingungen einer unzuverlässiger werdenden Natur und der zuvor beschriebenen unvermeid- lichen Umverteilung vorhandener Ressourcen möglich? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich auf das analytische Modell zurückkommen, das ich in Kapitel 2 präsentiert habe. Auf der Grundlage einer Unterscheidung zwischen Wirtschaft, Politik und Bevölkerung (Bürger und Konsumenten) habe ich dort behauptet, dass die Akteure nach zwar je eigenen Prinzipien handeln, aber auch wechselseitig voneinander abhängig sind und aufeinander Einfluss nehmen. Daran schließt sich nun die These an, dass Maßnahmen zur Klimaanpassung und zum Klimaschutz nur dann eine realistische Chance auf Umsetzung haben, wenn ihre einzelnen Schritte so zugeschnitten werden, dass sie die jeweiligen Logiken der Handlungssphären und deren wechselseitige Ein-
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flusskanäle nutzen. Daraus ergeben sich konkrete Ansatzpunkte für eine realistische Klimapolitik.
Schauen wir als Erstes auf die Ökonomie, Wie dargelegt, ist es für
Wirtschaftsunternehmen gleichgültig, womit sie ihren Gewinn zielen. Allein Gewinnaussichten als solche motivieren Investitionen, den Ausschlag geben die veranschlagten Kosten und die zu erwartenden Erlöse der jeweiligen Geschäftsmodelle. Der Mechanismus der Veränderung wirtschaftlichen Handelns kann daher nur in der Umgestaltung von unternehmerischen Anreizstrukturen bestehen: sowohl durch finanzielle Anstöße als auch durch regulative Vorgaben. Die strukturelle Macht der Wirtschaft, also ihre Möglichkeit, Investitionen zu verlagern oder zu unterlassen, bringt es mit sich, dass für die Unternehmen "akzeptable" Gewinnerwartungen bestehen bleiben müssen. Doch durch die Förderung klimaverträglicher Geschäftsmodelle, die konsequente finanzielle Belastung von Treibhausgasemissionen mittels Besteuerung und die regulative Beschränkung von Emissionen verändern sich Rentabilitätserwartungen. Natürlich werden die Platzhirsche im Markt gegen solche Veränderungen Widerstand leisten, um bestehende Pfade der Gewinnerwirtschaftung weiterführen zu können. 12 Zumindest ist aber der Steuerungsmechanismus klar benennbar und die bestehende Herausforderung ist beschreibbar: Wie kann Wettbewerbspolitik so gestaltet werden, dass die Rolle der Herausforderer gegenüber den Platzhirschen gestärkt wird? Wie können innerhalb von Unternehmen und Politik Koalitionen befördert werden, die den Klimaschutz voranbringen?
Da die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft politisch festgelegt werden, kommt es auf die Schlagkraft politischer Macht an, Regulierungen so festzulegen, dass sich Dekarbonisierung beschleunigt. Der Handlungsspielraum der Politik hängt wiederum davon ab, ob für die Regierenden die Aussicht besteht, dass wirtschaftliche Prosperität und Steuereinnahmen sowie Loyalität der Bevölkerung erhalten bleiben. Genutzt werden müssen bestehende po-
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litische Spielräume, um Investitionen in den Klimaschutz und die Klimaanpassung zu lenken. Und Politiker müssen für den Klimaschutz Überzeugungsarbeit leisten. Das Rechtssystem kann dabei eine wichtige Rolle übernehmen, denn über dessen Bindewirkung können die Freiheitsrechte zukünftiger Generationen und der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen einen größeren Stellenwert für die beiden Funktionssysteme Wirtschaft und Politik erlangen. 14
Der zweite Ansatzpunkt zur Stärkung politischer Durchsetzungsfähigkeit in der Klimapolitik schaut auf die Wählerschaft. Es geht um die Ausweitung politischer Unterstützung für den Klimaschutz und für Maßnahmen der Klimaanpassung in der Bevölkerung, und zwar nicht nur in der abstrakten Form einer generellen Zustimmung in Meinungsumfragen, sondern auch dann, wenn Maßnahmen Belastungen und bedeutende Veränderungen mit sich bringen. 15 Es ist ja offensichtlich, dass Klimaschutzmaßnahmen Ablehnung erfahren, wenn damit nennenswerte persönliche Einschränkungen verbunden sind. Sie rufen dann regelmäßig politische Konflikte hervor, an denen Klimapolitik schlussendlich scheitert.
Forschungen zeigen, dass die Zustimmungsbereitschaft von Wählern bei Maßnahmen zur Klimaanpassung höher liegt als bei Maß- nahmen zum Klimaschutz. 16 Die Erklärung hierfür ist, dass letztere viel eher konkret als lebenspraktischer Gewinn erfahrbar sind. Die Errichtung von Anlagen zum Hochwasserschutz am eigenen Ort, die Ausstattung von Schulen mit einer Klimaanlage oder die Bepflanzung städtischer Plätze mit Bäumen sind konkret erlebte Verbesserungen des Schutzes vor den Folgen des Klimawandels. Sie betreffen Kollektivgüter, an denen alle Menschen teilhaben können. Anders sieht es häufig bei Maßnahmen aus, die auf den Klimaschutz zielen. Die Verpflichtung zum Einbau von Wärmepumpen oder die Erhöhung von Benzinpreisen führen zu Belastungen, deren Nutzen abstrakt bleibt. Die Frage lautet dann nicht
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selten: Welche Rolle spielt mein Opfer angesichts der globalen Dimension des Problems?
Mein Vorschlag wäre, sich stärker an ebenjenen als lebenspraktische Verbesserung erfahrbaren Maßnahmen der Klimaanpassung zu orientieren, auch in der Hoffnung, dass sich dadurch das Bewusstsein für die Bedeutung der Klimaproblematik bei den Menschen insgesamt erhöht und allmählich ein soziales Klima entsteht, das die Handlungsbereitschaft stärkt. Dies gilt vermutlich umso mehr, je mehr die Bevölkerung in die vor Ort umzusetzenden Maßnahmen eingebunden ist und deren konkreten Nutzen anerkennt. Aber Achtung: Das heißt natürlich nicht, dass Klimaschutz vernachlässigt werden darf.
Politisch kluges Handeln muss auch berücksichtigen, dass Einstellungen zur Klimapolitik sich zwischen sozialen Gruppen unter- scheiden. Der Soziologe Sighard Neckel hat darauf hingewiesen, dass unterschiedliche Bevölkerungsgruppen auch an unterschied- licher Klimapolitik interessiert sind. Während urbane Mittelschichtsmilieus dabei an den klimagerechten Umbau ihrer Wohnquartiere denken, mit fahrradfreundlichen und verkehrsberuhigten Straßen, städtischer Begrünung, ökologisch orientierter Bebauung und nachhaltigen Einkaufsmöglichkeiten, kommt es für traditionale und weniger finanzstarke soziale Schichten nicht auf einen solchen grünen Lifestyle an, sondern vor allem darauf, dass kollektive Infrastrukturen der Daseinsvorsorge vorhanden sind, mit denen ihre Umweltbelastung sinkt und gesunde Lebensformen ermöglicht werden. Hierzu zählen dann grüne Naherholungsgebiete, gesundes Schulessen oder ein gut funktionierender Nahverkehr. "Über wessen Nachhaltigkeit sprechen wir?", zitiert Neckel die Stadtforscherin Miriam Greenberg. 17 Das verweist darauf, dass Klimapolitik möglicherweise dann breitere gesellschaftliche Unterstützung mobilisieren kann, wenn sie diese unterschiedlichen Interessen durch vielschichtige politische Maßnahmen berücksichtigt Ein weiterer wichtiger Schritt, die Zustimmungsbereitschaft zur
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Klimaschutzpolitik zu erhöhen, besteht unweifelhaft darin, dass Belastungen sozial ausgeglichen werden. Auf die verteilungspolische Problematik von Klimapolitik habe ich in diesem Buch verschiedentlich hingewiesen. Seien es CO₂-Steuern, Wärmepumpen oder Elektrofahrzeuge: Die für die oberen zehn Prozent der Bevölkerung leicht zu schulternden zusätzlichen Belastungen überfordern Haushalte bis in die obere Mittelschicht hinein, zumal vor dem Hintergrund, dass die weitgehende Stagnation bei den Einkommen, von der die Mitte der Gesellschaft während der letzten Jahrzehnte betroffen war, viele Menschen ohnehin bereits in eine finanziell bedrängte Lage gebracht hat. Aus dadurch entstehenden Ängsten vor sozialer Deklassierung entwickelt sich politisches Ressentiment, das ebenjene politischen Mobilisierungen erleichtert, die Klimapolitik zu Fall bringen. Je unabweisbarer und höher die Schäden durch Klimaveränderungen und der Aufwand für Klimapolitik angesichts fortschreitenden Klimawandels werden, desto größer ist die Gefahr, dass Klimapolitik zur neuen Spaltlinie der Gesellschaft wird und einem autoritären Populismus Vorschub leistet.

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Reduzieren ließe sich diese Gefahr, wenn einerseits vermieden würde, klimapolitische Maßnahmen mit einem Gestus der moralischen Überlegenheit zu kommunizieren, der mindestens gefühlt zu Abwertungen und dem Verlust an Anerkennung bei einem Teil der Bevölkerung führt. Andererseits müssten individuelle finanzielle Belastungen bis in die obere Mittelschicht aufgefangen werden, entweder indem die Aufwendungen ohnehin kollektiv - also aus öffentlichen Haushalten - bestritten werden oder, wo dies nicht möglich ist, individuelle Mehraufwendungen konsequent kollektiv - also aus öffentlichen Haushalten - kompensiert werden. Dabei ergeben sich bei klimapolitischen Maßnahmen auch Gelegenheiten, einzelne Regionen gezielt strukturpolitisch zu unterstützen und dadurch politische Zustimmung von sozialen Gruppen zu gewinnen, die der Klimapolitik eher skeptisch begegnen."
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Auch hinsichtlich der notwendigen Unterstützung des globalen Südens gilt es, Widerstände zu überwinden. Hierfür ausreichend Geld zu mobilisieren, ist politisch enorm schwierig, weil es kaum vermitteln ist, dass knappe Steuergelder für Südafrika oder Indonesien verausgabt werden. Doch möglicherweise hilft es, wenn zu deutlich gemacht werden kann, wie stark die eigene Lebenssituation mit der in den ärmeren Ländern verzahnt ist. Treibhausgase entfalten ihre schädliche Wirkung völlig unabhängig davon, wo auf dem Globus sie emittiert werden. Zudem sind Klimaschutzmaßnahmen im globalen Süden häufig besonders effizient, weil dort etwa veraltete Kohlekraftwerke stillgelegt werden können. Verbunden sind globaler Süden und Norden auch bei den sozialen Folgen der Klimaveränderung. Globale Klimapolitik und Migrationspolitik werden in der Zukunft untrennbar miteinander verknüpft sein. Menschen werden einer lebensfeindlichen natürlichen Umwelt zu entfliehen versuchen, was zur Zunahme von Migration führt - in erster Linie innerhalb der Herkunftsregion. Doch auch der globale Norden wird früher oder später verstärkt zum Migrationsziel werden. Diesen Migrationsdruck zu mindern, ist ein politisch attraktives Ziel.
Wie auch immer dies gehandhabt wird: Klimaschutz wird ohne kompensierende Sozial- und Strukturpolitik und ohne Ausweitung der finanziellen Unterstützung des globalen Südens nicht zu haben sein. Und hier liegt die vielleicht zentrale politische Botschaft meines Buches. Die letzten 40 Jahre haben in fast allen Ländern eine Verschiebung im Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft zugunsten der Steuerung gesellschaftlicher Entwicklung durch Marktkräfte gesehen. Es setzte sich die Idee durch, dass der Staat sich zugunsten der freien Entfaltung von Märkten zurücknehmen solle, um der Maximierung gesellschaftlichen Wohlstands nicht im Weg zu stehen. Diese Doktrin hat zur Verschärfung sozialer Ungleichheit innerhalb von Ländern geführt und damit erhebliche soziale Spannungen produziert. Das Ausbluten öffentlicher
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Haushalte, vor allem auf der kommunalen Ebene, hat dabei auch, ganz unabhängig vom Klimawandel, zu einer Krise öffentlicher Infrastrukturen geführt. Der miserable Zustand von öffentlichen Verkehrsnetzen, die verfallenden Gebäude von öffentlichen Schulen und Universitäten sowie die Unterfinanzierung der öffentlichen Gesundheitsversorgung sind nur einige Beispiele hierfür. Ausgetrocknet wurde die Versorgung der Bevölkerung mit Gemeinschaftsgütern der öffentlichen Daseinsvorsorge, deren Erstellung und Erhalt der auskömmlichen staatlichen Finanzierung bedürfen.
Mit dem Klimawandel kommt eine riesige neue Aufgabe öffent licher Daseinsvorsorge hinzu: Kollektivgüter zum Schutz vor Kli- maerwärmung und für Anpassungsmaßnahmen an die Klimaveränderungen müssen eingerichtet und instand gehalten werden. In dieser Situation wird schmerzhaft bewusst, wie fehlgeleitet die einseitig auf den Markt setzende Politik der letzten Jahrzehnte war. Für den Erhalt des Gemeinschaftsgutes Klima müssen öffentliche Mittel in drastisch erweitertem Umfang mobilisiert werden. Auch muss der Spielraum für staatliche Investitionen erhöht werden, um "grüne" Infrastrukturen schaffen zu können, die allen Bürgerinnen und Bürgern bei der Anpassung an den Klimawandel zugutekommen. Hierfür bedarf es der Ausweitung des fiskalischen Handlungsspielraums des Staates durch höhere zweckgerichtete Staatsverschuldung, differenzierte Zinssätze und die Erhöhung des Steueraufkommens. Die notwendige Steigerung in der Erstellung dieser Kollektivgüter verlangt eine Fiskal- und Geldpolitik, die sich vom Dogma der "schwarzen Null" löst, und braucht Steuererhöhungen bei dem wohlhabendsten Teil der Bevölkerung, der während der letzten Jahrzehnte seinen privaten Reichtum massiv steigern konnte. Eine solche Umkehr des wirtschaftspolitischen Dogmas stößt auf politische Widerstände all derer, die aufgrund ihres Reichtums sich zur Not auch privaten Ersatz für die fehlenden öffentlichen Güter verschaffen können. Doch möglicherweise
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lässt sich für die Erhöhung öffentlicher Ausgaben für die Erstellung dieser Kollektivgüter bei den anderen sozialen Gruppen politische Unterstützung mobilisieren, weil damit ein Reichtum geschaffen würde, der allen zur Verfügung steht, statt Gesellschaften in Arm und Reich zu spalten. 22
Unterstützung muss Klimaschutzpolitik schließlich auch im Verhalten jedes Einzelnen finden. Doch auch hier geht es um kollektive Veränderungen, nicht um die Manipulation von Individuen durch "Anstupsen" oder um symbolische Ersatzhandlungen, wie den Kauf undurchsichtiger Kompensationszertifikate. Zu nennenswerten individuellen Verhaltensänderungen wird es erst kommen, wenn einerseits die genannten öffentlichen Infrastrukturen umgebaut werden, so dass umweltschonendes Handeln Unterstützung in den Alltagsstrukturen findet. Menschen werden öffentliche Nahverkehrsangebote vermehrt nutzen, wenn diese zuverlässig und bequem sind und häufig genug verkehren. Flug- und Autoverkehr werden sich reduzieren, wenn Bahnen pünktlich und effektiv Städte miteinander verbinden. Elektromobilität wird sich durchsetzen, wenn die angebotenen Fahrzeuge preislich mit den Verbrennern konkurrieren und eine flächendeckend ausgebaute Ladeinfrastruktur existiert. Es geht um die Schaffung von Strukturen, denen sich das individuelle Verhalten anpassen kann. Benötigt werden lebenspraktische Alternativen, für die sich politische Unterstützung mobilisieren lässt, weil sie konkrete Verbesserungen bei der Alltagsbewältigung in Aussicht stellen. Die Schaffung dieser Infra- strukturen ist Aufgabe des Gemeinwesens, sie kann nicht vom Markt erwartet werden. Erneut geht es um die Erstellung von Kol- lektivgütern der Daseinsvorsorge.
Andererseits braucht es eine Stärkung von gemeinwohlorientiertem Handeln. Klimaschutz scheitert, wenn das Handeln der Bürger allein dem Prinzip individueller Nutzenmaximierung folgt. In diesem Sinn bedarf es nicht nur klugen, sondern auch tugendhaften Handelns. Nichts beschreibt dies klarer als die in der ök-
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onomischen Theorie so deutlich gesehene Kollektivgutproblematik. wonach die Schaffung von Gemeinschaftsgütern missglückt, weil die Einzelnen die Beteiligung an den diesbezüglich anfallenden Kosten verweigern. 23 Erkennbar wird die Relevanz dieses Problems, wenn dem Klimaschutz mit der Begründung Unterstützung ver weigert wird, dass der eigene Beitrag ohnehin keine Bedeutung habe. Was für den Einzelnen zutreffend ist, wird für die Welt zur Katastrophe, weil das Kollektivgut Klima zerstört wird und Maß nahmen zur Klimaanpassung ausbleiben. Dass derartiges Trittbrettfahren weit verbreitet ist, widerspricht der kulturell so einflussreichen Erzählung von der wohltuenden Wirkung, die die unsichtbare Hand des Marktes und das am Eigennutz orientierte Handeln angeblich entfalten.

Doch diese Erzählung hat ohnehin ihre Grenzen. Es ist durchaus nicht so, dass Menschen sich grundsätzlich der Schaffung von Gemeinschaftsgütern verweigern. Die ökonomische Theorie verbreitet vielmehr ein verkürztes Bild des Handelns, denn Menschen machen sich vielfach auf der Grundlage von Wertüberzeugungen für andere und für gemeingutförderliche Regeln und Hand- lungsweisen stark. Und sie setzen diese teilweise selbst dann um, wenn sie wissen, dass dies mit individuellen Kosten verbunden ist und es Trittbrettfahrer gibt. Menschen können das Richtige tun, auch wenn es individuelle Kosten mit sich bringt und der Erfolg unwahrscheinlich ist. 24 Studien zeigen, dass Maßnahmen zur Klimaanpassung besonders dann Unterstützung finden, wenn sie als soziale Norm wahrgenommen werden, Menschen sie als zielführend erkennen und sie für sich selbst Möglichkeiten sehen, sich an ihnen zu beteiligen.
In Wirtschaft und Politik werden solidarische Handlungsweisen durch systemische Zwänge weitgehend unterbunden und die Funktionsweise von Märkten sowie die Kultur des Individualismus der kapitalistischen Moderne verhalten sich parasitär be- ziehungsweise zerstörerisch gegenüber diesen Ressourcen. Stär-
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kung erfahren sie jedoch im Handeln außerhalb dieser Funktionssysteme: in den familiären Nahbeziehungen und in Freundschaften ohnehin, aber auch in der Sphäre zivilgesellschaftlichen Handelns. An diesen Orten sozialer Bindung und sozialen Austauschs entstehen und gedeihen moralische Handlungsressourcen. 26 Sie kommen zum Ausdruck in politischen Reflexionen und Handlungen, die das Gemeinwohl zum Maßstab nehmen. Die unterschiedschen Klimabewegungen sind ein Beispiel hierfür, aber auch und nicht zuletzt die unzähligen lokalen Initiativen, in denen Menschen sich aktiv fur den Klima- und Umweltschutz einsetzen.

Diese zivilgesellschaftlichen Ressourcen sind aber nicht einfach vorauszusetzen, sondern basieren auf den Erfahrungen sozialer Be- ziehungen und Praktiken und werden in Sozialisationsprozessen eingeübt. Sie gedeihen im Kontakt zu formalen und informellen Institutionen, die Wertüberzeugungen stützen und einen sittlichen Druck auf das Handeln von Individuen und Organisationen aus- üben. Die moralischen Handlungsorientierungen der Lebenswelt sind für Wirtschaft und Politik durchaus relevant. Denn beide sind auf gesellschaftliche Legitimation angewiesen und können daher die Wertüberzeugungen der Bürgerinnen und Bürger nicht einfach ignorieren. Das führt zu der Frage, wie sich Wertorientierungen, die der Unterstützung von Klimaschutz in die Hände spielen, politisch stärken lassen.
Der Ort der Entstehung moralischer Handlungsstrukturen sind die sozialen Beziehungsgeflechte im Gemeinwesen, in den Familien und den Freundschaften sowie im bürgerschaftlichen Engagement. Klimaschutzpolitik müsste daher gerade auf dem sozialen Nahbereich der demokratischen Zivilgesellschaft aufbauen.27 Dies würde eine viel stärkere Einbeziehung von Bürgern vor Ort in Entscheidungen zum Klimaschutz und bei Anpassungsmaßnahmen nahelegen und betont die Ebene lokaler Politik - obwohl der Klimawandel zweifelsohne ein globales Problem ist. Doch daraus folgt eben nicht, dass widerstandsfähige Überzeugungen,
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die politische Unterstützung für eine angemessene politische Reaktion auf den Klimawandel befördern könnten, aus den Verlaut- barungen internationaler Klimakonferenzen entstünden.
Viel eher entstehen sie aus Begegnungen, die sich im Handeln als Staatsbürger, Arbeitnehmer und Konsument ergeben und die auch Grundlage für soziale Bewegungen werden können, die Klimaschutzanliegen politisch gegenüber Staat und Wirtschaft vertreten. Wir beobachten das auch längst, sei es in lokalen Umweltschutzinitiativen zum Stopp des Kohleabbaus in Südafrika, sei es in Klimastreiks von Schülern und Studierenden in Schweden, sei es in lokalen Initiativen an der Ahr, in denen Bürger darum ringen, den Wiederaufbau der Region nach den Überflutungen im Sommer 2021 vorausschauend zu gestalten. In solchen sozialen Strukturen werden kulturelle Einstellungen zu umweltgerechtem Verhalten geformt. Das ist nicht deshalb wichtig, weil von diesen Initiativen politische Entscheidungen getroffen würden, sondern weil hier Einsichten wachsen können, die anerkennen, dass es sich beim Klimawandel um ein bedeutendes Thema handelt, das einschneidende politische Maßnahmen erfordert, für die es sich lohnt, Ressourcen einzusetzen. Es kann eine klimaorientierte Haltung entstehen, an der auch Wirtschaft und Politik nicht völlig vorbeischauen können und die auch andere Ebenen politischen Handelns beeinflusst. Sighard Neckel bringt diesen Gedanken unter Bezugnahme auf den amerikanischen Philosophen und Sozialreformer John Dewey auf den Punkt:

"Akteure [sind] in selbstreflexiver Weise in der Lage [...], sich von ihren Eigeninteressen zu distanzieren, um diese mit den Interessen derer in Einklang zu bringen, mit denen sie den politischen Raum teilen. Demokratie ist somit tief im koope- rativen Charakter des menschlichen Gemeinschaftslebens verwurzelt." 28

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Solche sozialen Einbettungen können im besten Fall kognitive und moralische Rahmungen in der Gesellschaft insgesamt beeinflussen, wenn sie auf weitere Menschen ausstrahlen. Die gemeinschaftsorientierten Handlungsressourcen sind zu unterstützen in der Hoffnung auf Diffusionsprozesse, die auf "moralischer Ansteckung" beruhen. Wenn überhaupt, ist die Bereitschaft zur Unterstützung von Maßnahmen gegen die Übernutzung natürlicher Ressourcen nur unter Beteiligung der Zivilgesellschaft zu erreichen, also von unten und nicht von oben. Für die Durchführung, Finanzierung und Koordinierung klimapolitischer Maßnahmen bedarf es selbstredend der gesetzgeberischen Macht der Politik, allein: Diese benötigt Unterstützung in den Einstellungen und Handlungsorientierungen der Bürger.
Natürlich kann das Wachsen solcher Einstellungen auch politisch unterstüzt werden, etwa durch die Förderung beispielhafter Projekte, die als Lernorte wirken. 30 Der amerikanische Soziologe Erik Olin Wright hatte einst für »reale Utopien« geworben, das heißt für lokale Initiativen, wie etwa Reallabore, die praktisch erfahrbare Beispiele für veränderte soziale Lebensformen umsetzen und als Modelle einer gewandelten Sozialordnung weitere Menschen überzeugen können. 31 Wie schon erwähnt, scheint gerade die konkrete Erfahrbarkeit geänderter Lebensformen für die Unterstützung von sozialen Veränderungsprozessen bedeutsam. In beispielhaften Projekten sammeln die Menschen womöglich Erfahrungen, die im politischen Raum geteilt werden können. Wenn sie zu funktionierenden materiellen Infrastrukturen ausgebaut werden, können sich unter den veränderten Rahmenbedingungen
neue Routinen umweltverträglichen Handelns ausbilden.
Zu solchen Infrastrukturen gehören auch positiv besetzte Zukunftsbilder einer an die Erhaltensbedingungen der natürlichen Umwelt angepassten Gesellschaft. 33 Wie sieht eine solche Gesellschaft aus? Wie lebt es sich darin? Welche Gewinne an Lebensqualität entstehen? Hier spielen die zuvor angeführten Vorstellungen
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einer Postwachstumsgesellschaft durchaus eine wichtige Rolle, weil sie die bestehenden, als selbstverständlich wahrgenommenen Lebensformen mit möglichen Alternativen konfrontieren, die viel beicht zunehmend attraktiv erscheinen. Die Orientierung an Zu- kunftsbildern, die zugleich in Teilen bereits ausprobiert werden können und so neue Erfahrungen ermöglichen, könnte eine Mo- tivationsquelle für die politische Unterstützung von Veränderungen und den Aufbau zivilgesellschaftlichen Drucks gegenüber Wirtschaft und Staat sein. Ebenso gehört hierzu das öffentliche Betrauern von mit der Klimakrise einhergehenden Verlusten - sei es der Verlust des eigenen Hauses durch Überschwemmung oder einen Waldbrand, der Verlust der Lebensgrundlage weit entfernt lebender Menschen aufgrund des Schmelzens von arktischem Eis oder der Erhöhung des Meeresspiegels. Auch die Zerstörung intakter Natur, wie sie in der Schilderung des Autors Tom Kizzia zum Ausdruck kommt, mit der ich dieses Buch begonnen habe, sollten wir betrauern. Und auch die Tatsache, dass bisher gepflegte und als wertvoll erachtete Lebensformen sich schlicht so nicht werden fortsetzen lassen. Solches Trauern zeugt von der emotionalen Verbundenheit, die wir mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen im Moment des Verlustes spüren. Wenn dieser Gram in der Sphäre der Öffentlichkeit Ausdruck und Gehör findet, kann dies möglicherweise die Bereitschaft auch zu zugreifenden Entscheidungen befördern.34
Staatliche Politik und unternehmerisches Handeln werden zwar auch weiterhin ihren systemischen Logiken folgen und dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen nur dann Raum geben, wenn dies mit den Prinzipien des Profits und der Macht kompatibel ist. Vielleicht aber können die Parameter dieser Logiken durch das Handeln der Bürger zumindest ein wenig verschoben werden. Das wäre keine Kleinigkeit, auch wenn das nicht zu einer hinreichenden Reaktion auf den Klimawandel führen wird. Denn die Folgen des Klimawandels könnten zumindest ein wenig weiter abgefedert
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werden, und ein gesellschaftlicher Umbau, der dazu beiträgt, den Anstieg der Temperaturen zu verlangsamen und Gesellschaft, den die neuen klimatischen Bedingungen anzupassen, könnte besser in Gang kommen, als dies aktuell geschieht. Nichts davon ist einfach, nichts davon ist wahrscheinlich, denn all dies muss sich gegen Strukturen behaupten, die solchen Veränderungen entgegen arbeiten. Doch schon die schwache Hoffnung auf Verzögerung und weitere Abmilderung des Klimawandels macht ein Engagement mit diesem Ziel folgerichtig und begründet auch eine moralische Pflicht dazu. Inwieweit dies tatsächlich gelingt, wird darüber entscheiden, wie unsere Kinder und Enkelkinder leben und über uns urteilen.

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Wut und Trauer bleiben

Die Katastrophe von Rana Plaza hat die Textilbranche verändert

Bis heute kämpfen Angehörige der Opfer und Arbeiter*innen der Textilfabrik in Bangladesch mit den Folgen des Unglücks vom 24. April 2013. Seitdem konnten sie einige Verbesserungen erkämpfen.

Haidy Damm, 24.04.23, nd

»Auf einmal gab es einen Stromausfall. Ich hatte furchtbare Angst, dass das Gebäude jeden Moment einstürzen könnte. Dann, in dem Moment als die Generatoren angeschaltet wurden, wackelte das ganze Gebäude so heftig, und es stürzte tatsächlich ein! Danach erinnere ich mich daran, mich nicht mehr bewegen zu können.« Mit diesen Worten beschreibt die Näherin Rita Akher Josna in einem Interview, wie sie den Morgen des 24. April vor zehn Jahren erlebte. An diesem Tag stürzte in Bangladesch der achtstöckige Fabrikkomplex Rana Plaza ein.

Mehr als 5000 Arbeiter*innen befanden sich in den zahlreichen Textilwerkstätten, die in dem Gebäude neben Geschäften und einer Bank untergebracht waren. Schon am Tag vor dem Unglück waren Risse in dem Gebäude entdeckt worden, die Geschäfte im Erdgeschoss hatten bereits reagiert und geschlossen. Die Arbeiter*innen wurden jedoch gezwungen, ihre Arbeit fortzusetzen. Ihnen wurde damit gedroht, dass der Lohn für zwei Monate einbehalten würde, wenn sie nicht wieder an die Arbeit gingen. Dann kam es zum Einsturz. Mehr als 1100 Menschen starben in den Trümmern, 2500 wurden verletzt. Tausende Familien standen plötzlich vor dem wirtschaftlichen Abgrund, da die verunglückten Näherinnen oft Alleinverdienerinnen waren.

In den Trümmern wurden Etiketten zahlreicher europäischer Unternehmen und Modemarken gefunden, darunter Primark, Benetton, Mango, C&A sowie die deutschen Unternehmen KiK und Adler. Zwar wiesen diese zunächst jegliche Verantwortung von sich, den öffentlichen Druck konnte die Textilbranche jedoch nicht ignorieren. Letztlich erklärte sich ein Teil der Unternehmen bereit, in einen Entschädigungsfonds einzuzahlen. Mehr als 30 Millionen US-Dollar wurden bis Mitte 2015 gesammelt, um an die rund 2800 Antragsteller*innen ausgezahlt zu werden. »Wir haben jahrelang dafür gekämpft, dass es Entschädigungen gibt«, sagt Gisela Burckhardt von Femnet gegenüber »nd«. »Aber das Geld reicht bei weitem nicht.«

 

Zur Verantwortung sollten auch die Verantwortlichen in Bangladesch gezogen werden. 2016, drei Jahre nach dem Unglück, wurden in einem Gerichtsprozess insgesamt 41 Menschen angeklagt, 38 wegen Mordes und drei wegen Beihilfe zur Flucht des Hauptangeklagten. Den Beschuldigten wird vorgeworfen, bewusst mangelhafte Baustandards unterschrieben zu haben. Zudem sollen sie Mitarbeiter*innen gezwungen haben, in dem achtstöckigen Gebäude zu arbeiten, obwohl sie wussten, dass es strukturell nicht intakt war. Das Verfahren wurde im Februar 2022 wieder aufgenommen, nachdem es jahrelang immer wieder ausgesetzt worden war. Der Hauptangeklagte Sohal Rana, Eigentümer des Fabrikkomplexes, wurde im August 2017 zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt, weil er sich weigerte, seine Vermögensverhältnisse offenzulegen. Er war bisher der einzige Angeklagte, der in Haft war. Im April nun wurde auch Rana gegen Kaution freigelassen. Der stellvertretende Generalstaatsanwalt Mohiuddin Dewan hat allerdings angekündigt, vor dem Obersten Gerichtshof Berufung einlegen zu wollen.

Doch unterstützt durch die weltweite Aufmerksamkeit konnten die Textilgewerkschaften in Bangladesch nach der Katastrophe auch Verbesserungen erreichen. »Heute gibt es in vielen Fabriken Sicherheitskomitees, die Zahl der Gewerkschaften hat sich erhöht, die Einkäufer sind sensibilisiert«, sagt Amirul Hague Amin, Präsident und Mitbegründer der Nationalen Gewerkschaft der Textilarbeiter in Bangladesch. Allerdings gelte das nicht für alle, so Amin bei der Pressekonferenz zum Jahrestag der Katastrophe in Dhaka. »Besonders die kleinen Fabriken brauchen dringend mehr Sicherheit.« Dafür müssten die Hindernisse – auch die unsichtbaren – bei der Gründung von Gewerkschaften beseitigt werden.

Noch immer kommt es zu Entlassungen, wenn Arbeiter*innen sich zusammenschließen. Als Weckruf will der Gewerkschaftsvorsitzende die Katastrophe von Rana Plaza nicht verstanden wissen. »Ein Weckruf war der Unfall am 27.12.1990 bei Saraka Garments in Dhaka.« Damals waren 27 Arbeiter*innen gestorben, weil in der Fabrik ein Feuer ausgebrochen war, Hunderte wurden verletzt. Rana Plaza dagegen sei die Botschaft, »der Tötung von Arbeiter*innen endlich vorzubeugen«.

Die Näherin Rita Akher Josha erlitt bei dem Unglück eine schwere Wirbelverletzung. »Ich möchte echte Gerechtigkeit für die Freunde, die ich in der Tragödie verloren habe.« Dass kurz vor dem Gedenktag der Fabrikbesitzer Rana gegen Kaution freigelassen wurde, gehört wohl nicht dazu. Am 8. Mai wollen Gewerkschaften vor dem Obersten Gericht in Dhaka dagegen demonstrieren.

 

»Die sozialen Standards haben sich nicht erhöht«

Gisela Burckhardt vom Verein Femnet über den Einsturz des Fabrikkomplexes Rana Plaza und die Folgen

Interview: Haidy Damm

Am 24. April vor zehn Jahren stürzte in Bangladesch der Fabrikkomplex Rana Plaza ein. Über 1000 Arbeiter*innen starben, 2500 wurden verletzt. Erinnern Sie sich noch an den Tag?

Sicher erinnere ich mich, es war ein furchtbarer Schock. Wir haben damals sofort versucht, mit den Arbeiter*innen in Kontakt zu kommen, das war nicht so einfach wie heute. Ich selbst bin nach dem Unglück dorthin gefahren und habe verletzte Arbeiter*innen im Krankenhaus besucht und mit Hinterbliebenen gesprochen. Nachdem die ganzen Verwundeten und Toten geborgen waren, haben unsere Partnerorganisationen, zu denen wir als Mitglied der Clean Clothes Campaign enge Kontakte pflegen, vor Ort nach Labeln und Etiketten gesucht. Wir wollten wissen, wer in der Fabrik produziert hat, wer verantwortlich ist.

Die Katastrophe hat die Arbeitsbedingungen in der Textilbranche weltweit in die Schlagzeilen gebracht. International wurde das Brandschutzabkommen Accord verabschiedet. In Deutschland rief der damalige Bundesentwicklungsminister Gerd Müller das Textilbündnis ins Leben. Wie schätzen Sie diese Initiativen heute ein?

Das Brandschutzabkommen Accord war auf jeden Fall ein wichtiger Fortschritt, der leider auch erst durch den öffentlichen Druck nach dem Unglück möglich geworden ist. Rund 220 vor allem europäische Unternehmen haben es zusammen mit Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen ausgehandelt, um verpflichtende Standards für mehr Arbeitssicherheit und Gesundheit durchzusetzen. Inzwischen liegt die Zuständigkeit bei der Regierung in Bangladesch. Gleichzeitig wurde das Abkommen international ausgeweitet, so wurde es auch in Pakistan unterzeichnet. Ebenfalls als Reaktion wurde in Deutschland das Textilbündnis aus der Taufe gehoben. Das war immerhin ein erster Schritt, Gewerkschaften, Unternehmen und Zivilgesellschaft an einen Tisch zu bringen.

Und heute?

Beim Textilbündnis bin ich inzwischen ziemlich ernüchtert. Wir hatten große Hoffnung auf den Dialog mit den Unternehmen gesetzt. Bei einigen hat sich das Bewusstsein zwar geändert, dennoch hat sich vor Ort bis heute nichts verbessert. Wir überlegen immer wieder, ob es noch Sinn macht, im Textilbündnis zu bleiben. Klar ist, wir brauchen auf jeden Fall gesetzliche Regelungen. Ich finde, diese ganze Freiwilligkeit ändert kaum etwas. Insgesamt stellen wir fest: Die sozialen Standards haben sich nicht erhöht – im Gegenteil. Die Löhne wurden in Bangladesch seit fünf Jahren nicht heraufgesetzt trotz gravierender Inflation. Frauendiskriminierung und geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz sind weiter vorhanden. In den Corona-Jahren sind massenhaft Einkommen weggebrochen, weil die Näher*innen keine Löhne bekamen, als die Fabriken geschlossen hatten. Nur sehr wenige waren bereit, die gesetzlich vorgeschriebenen Entschädigungszahlungen auszuzahlen.

Minister Müller hat dann den Grünen Knopf gestartet. Das ist ein staatliches Textilsiegel, das 26 soziale und ökologische Produktkriterien und 20 Unternehmenskriterien umfasst...

Ich denke, der Grüne Knopf ist auch entstanden, weil das Textilbündnis aus Sicht von Gerd Müller nicht schnell genug Ergebnisse geliefert hat, die Aushandlungsprozesse waren doch sehr zäh. Es war zudem für Verbraucher*innen kaum sichtbar und hatte insgesamt wenig Auswirkungen. Er hat wohl auch deshalb das Siegel zusätzlich ins Leben gerufen.

Welche anderen Ansätze beobachten Sie?

Aktuell wird das Thema Recycling heftig diskutiert in der Branche. Dabei geht es aber nicht in erster Linie um Arbeitsbedingungen, sondern um Umweltverschmutzung und Klimawandel. Durch Wiederverwertung will man etwa den CO2-Ausstoß reduzieren. Aber das ist zum großen Teil Augenwischerei. Bei der Baumwolle etwa ist es gar nicht möglich, 100 Prozent zu recyceln. Bei den Chemiefasern wird oft nicht Kleidung recycelt, sondern anderes Plastik wie PET Flaschen. Das macht überhaupt keinen Sinn, denn es reduziert nicht die Menge an Kleidung.

Inzwischen gibt es verschiedene Label und Zertifikate, die faire Kleidung vertreiben oder zertifizieren. Sehen Sie da gute Ansätze?

Dieser ganze Bereich ist sehr problematisch. Sicher gibt es gute Ansätze wie beim Grünen Knopf oder dem Fair Trade Siegel für den Baumwollanbau. Aber auch letzteres zahlt ja keine existenzsichernden Löhne, sondern einen etwas höheren Preis für die Baumwolle. Der Rest der Lieferkette wird damit noch nicht abgedeckt. Gut ist beim Grünen Knopf, dass die Unternehmen geprüft werden und nicht nur das Produkt. Aber mit existenzsichernden Löhnen hat das alles nichts zu tun. Grundsätzlich schwierig bei den Siegeln ist, dass Unternehmen denken, super, wir bekommen ein Siegel und haben unserer Sorgfaltspflicht genüge getan. Aber das reicht einfach nicht aus. Als Unternehmen muss man die Lieferkette kennen, man muss intensiv in den Dialog mit seinen Lieferanten gehen. Erst wenn man diese gut kennt, ist es möglich, Schwächen zu verbessern und sicherzustellen, dass gute Standards umgesetzt werden. Tatsächlich ist es aber so, dass viele Unternehmen ihre Lieferkette überhaupt nicht kennen.

Hier könnte ja das neue Lieferkettengesetz greifen.

Das ist auf jeden Fall ein Ansatz. Es geht ja darum, dass Unternehmen auch in der tieferen Lieferkette, also beispielsweise in der Spinnerei aktiv werden müssen, wenn Vorkommnisse oder Verstöße gemeldet werden. Gleichzeitig gibt es aber kein Klagerecht für Betroffene vor deutschen Gerichten, das sehen wir kritisch. Insgesamt müssen wir wohl erst die Umsetzung abwarten und beobachten, wie gründlich die Unternehmen eigentlich geprüft werden.

Auch auf EU-Ebene wird ja ein neues Lieferkettengesetz diskutiert...

Der Entwurf hat an vielen Stellen noch Mängel, ist aber besser als die deutsche Variante. So soll es Klagemöglichkeiten für Betroffene geben. Gleichzeitig soll aber die Beweispflicht, dass Arbeitsrechte verletzt werden, bei den Betroffenen liegen. Da muss nachgebessert werden: Das Unternehmen sollte nachweisen müssen, dass es Umwelt- und Sozialstandards eingehalten hat.

In der Debatte nach der Katastrophe von Rana Plaza ging es medial und bei vielen Aktivist*innen um das »Problem Billigklamotten«. Besonders Unternehmen wie Kik standen im Fokus. Geht es um günstige Klamotten?

Nein, überhaupt nicht. Besonders Wirtschaftsvertreter*innen behaupten das immer gerne. Aber es stimmt nicht. Ich bin selbst immer wieder in Fabriken unterwegs, da läuft in der einen Reihe Kik und in der nächsten Hugo Boss oder Gucci. Alle lassen in denselben Fabriken produzieren. Der Unterschied liegt dann in der Verarbeitung oder der Auswahl der Stoffe. Bei den Arbeitsbedingungen jedoch gibt es keinen. Wer teure Kleidung kauft, sorgt nicht dafür, dass Arbeits- und Sozialstandards eingehalten werden.

Was also tun?

Man muss genau schauen, von wem man kauft. Aber es ist natürlich eine Zumutung, wenn Verbraucher*innen das alles selbst per Recherche herausfinden sollen. Deshalb braucht es das Lieferkettengesetz, das diesen Schritt leistet und die Unternehmen prüft. Auch wenn wir im Grunde durch zahlreiche Studien ja schon wissen, dass Arbeitsrechte in den Textilfabriken verletzt werden. Die Näherinnen werden entlassen, wenn sie sich etwa gewerkschaftlich organisieren. Seit der Pandemie ist der Arbeitsdruck sogar gestiegen, das Produktionssoll wurde gesteigert. Das sind die Fakten, die wir längst kennen.

Wenn Sie heute auf die Textilbranche blicken. Was sehen Sie?

Das größte Problem der Textilbranche ist die Überproduktion. Die Anzahl der weltweiten Kleidungskäufe hat sich zwischen 2000 und 2015 auf 100 Milliarden verdoppelt. Davon wird sehr sehr viel ungetragen weggeworfen, anderes ein, zweimal angezogen, bevor es in der Tonne landet. Das ist ein massiver Schaden, sowohl für die Umwelt wie auch für die Arbeiter*innen. Die von ihnen unter schlimmen Arbeitsbedingungen hergestellte Kleidung wird ungetragen weggeworfen. Das ist doch Wahnsinn! Wir brauchen weniger Produktion, weniger Kleidungsstücke, die dafür länger haltbar sind – auch im Gedenken an die Opfer von Rana Plaza, die für Fast Fashion gestorben sind.

Interview

Dr. Gisela Burckhardt ist Gründerin und Vorstandsvorsitzende von Femnet e.V. Seit 2015 ist sie gewählte Vertreterin der Zivilgesellschaft im Bündnis für nachhaltige Textilien.