Ausgabe 376 von: Kontext, Wochenzeitung
Noch immer sind die Quellen unbekannt, aus denen die AfD ihre üppige Finanzierung während des Bundestagswahlkampfes bezog. Millionenbeträge kamen der Partei über einen dubiosen, formell unabhängigen "Verein zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und bürgerlichen Freiheiten" zugute, der den Wahlkampf der Rechtsextremisten durch groß angelegte Plakataktionen und den massenhaften Vertrieb von Gratiszeitungen (Kontext berichtete) unterstützte. Professionell Lücken in den Gesetzen zur Parteifinanzierung ausnutzend, deuteten viele Spuren der finanzkräftigen Hintermänner des Vereins in die Schweiz, insbesondere zu dem dort lebenden, erzreaktionären deutschen Mövenpick-Milliardär August von Finck. Seinen formellen Sitz hat der AfD-nahe Verein, der gerne im Hintergrund operiert, ausgerechnet in Stuttgart.
Es scheint auf den ersten Blick absurd, dass gerade in Stuttgart, der Kernregion der deutschen Exportwirtschaft, ein dubioses Finanzvehikel einer Partei seinen Stammsitz hat, die mit ihrer xenophoben Rhetorik den Freihandelsinteressen der Exporteure zuwiderläuft. Kürzlich etwa, nach einer ressentimentgeladenen Bundestagsrede der AfD-Frontfrau Alice Weidel, platzte Siemens-Chef Joe Kaeser der Kragen: Ihm seien die von Weidel verteufelten "Kopftuch-Mädel" lieber als der "Bund Deutscher Mädel", so der Vorstandsvorsitzende des Großkonzerns. Die AfD sei dabei, "mit ihrem Nationalismus dem Ansehen unseres Landes in der Welt" zu schaden, gerade dort, "wo die Haupt-Quelle des deutschen Wohlstands" liege.
Die liberale Welt scheint hier noch in Ordnung: Der weltoffene, global denkende Manager, dessen Unternehmen von der neoliberalen Globalisierung profitierte, stellt sich gegen den dumpfen Neo-Nationalismus der Rechtspopulisten, die daran gehen, die "Haupt-Quelle des deutschen Wohlstands" zu untergraben. Indes verdecken diese aktuellen Konflikte nur die tiefen ideologischen Kontinuitätslinien: Denn der rechtspopulistische Neonationalismus ist ein Produkt des neoliberalen Zeitalters mit seinen krisenbedingt zunehmenden sozioökonomischen Widersprüchen. Was am Beispiel der Bundesrepublik kurz skizziert werden soll.
Vom kranken Mann Europas zur Deutschland AG
Charakteristisch für den Neoliberalismus sind dessen sogenannte Reformen, die als Reaktion auf wirtschaftliche Stagnationstendenzen implementiert werden. So war es in der Bundesrepublik als dem vormals "kranken Mann Europas" ("Economist", 1999) die Agenda 2010 samt den Hartz-IV-Arbeitsgesetzen, mit denen das Nachkriegsmodell der sozialen Marktwirtschaft endgültig zu Grabe getragen wurde – und die zur Ausrichtung der Gesamtgesellschaft als "Deutschland AG" entlang des betriebswirtschaftlichen Kalküls führte. Die mit drakonischen Einschnitten bei Sozialleistungen, breiter Prekarisierung und krasser sozialer Spaltung einhergehende Hebung der Konkurrenzfähigkeit Deutschlands schien tatsächlich erfolgreich, sie führte ja zur Erringung von Exportweltmeisterschaften, von denen gerade Konzerne wie Siemens profitierten.
Doch zugleich lastet Hartz IV wie ein Alb über der deutschen Arbeitsgesellschaft. Die beständig mitschwingende Drohung mit totaler Verelendung hat die Machtverhältnisse endgültig zugunsten der Unternehmer verschoben. Die zunehmende Verdichtung und Entgrenzung des Arbeitslebens ließ nicht nur die Zahl der arbeitsbedingten psychischen Erkrankungen explodieren, sie verfestigte auch autoritäre Tendenzen bei vielen Lohnabhängigen, wie etwa der Sozialpsychologe Oliver Decker ausführt: "Die ständige Orientierung auf wirtschaftliche Ziele – präziser: die Forderung nach Unterwerfung unter ihre Prämissen – verstärkt einen autoritären Kreislauf." Sie führe zu einer "Identifikation mit der Ökonomie", so Decker, "wobei die Verzichtsforderungen zu ihren Gunsten in jene autoritäre Aggression münden, die sich gegen Schwächere Bahn bricht". Je stärker der zunehmende Druck auf den autoritär fixierten Lohnabhängigen lastet, desto größer sein Bedürfnis, schwächere Menschen genauso ausgepresst und ausgebeutet zu sehen.
Die neoliberale Verzichtspolitik fördert somit die autoritäre Aggression gegen die Krisenopfer, auf der rechtspopulistische wie rechtsextremistische Ideologien gleichermaßen beruhen. Evident wurde dies während der Sarrazin-Debatte, dem irren Urknall der Neuen Deutschen Rechten, als die mit der Agenda-Politik gerechtfertigte neoliberale Hetze gegen sozial marginalisierte Bevölkerungsschichten erstmals erfolgreich öffentlich mit rassistischen und sozialdarwinistischen Ressentiments angereichert wurde. Das neoliberale Feindbild des schmarotzenden, faulen Arbeitslosen verschmolz hierbei mit dem rechten Wahnbild des ausländischen, islamischen Schmarotzers, dessen ökonomische Unterlegenheit quasi genetisch kodiert sei.
Träger dieser ersten großen neurechten Hasswelle im Rahmen der "Sarrazin-Debatte" waren nicht etwa verarmte Bevölkerungsschichten, sondern die Mittelklasse als "Mitte" der Gesellschaft, die hier ihre Abstiegsängste nach dem Krisenausbruch in den Jahren 2007 und 2008 in Hass und Ausgrenzungsreflexe transformierte. Die Begriffe des Extremismus der Mitte und der konformistischen Rebellion sind folglich unabdingbar, um den Erfolg der Neuen Rechten und des Neo-Nationalismus als die ungeliebten Erben des Neoliberalismus zu verstehen.
Die Neue Rechte wähnt sich ja tatsächlich im Aufstand, während sie die schwächsten Gesellschaftsmitglieder angreift. Sie verschafft ihrer Anhängerschaft somit ein Gefühl von Rebellion, ohne sie den Gefahren der Rebellion – die sich immer gegen Herrschaft richtet – auszusetzen. Der Extremismus der Mitte ist das Geheimnis des Erfolgs der Rechten: Man verbleibt im eingefahrenen weltanschaulichen Gleis. Es findet hier kein ideologischer Bruch statt, sondern ein Ins-Extrem-Treiben der bestehenden Ideologie; der latent immer mitschwingende, barbarische Kern kapitalistischer Vergesellschaftung wird nun krisenbedingt manifest.
Zuallererst ist hier das Konkurrenzdenken mitsamt Sozialdarwinismus zu nennen, das der Neoliberalismus forcierte und gesamtgesellschaftlich entgrenzte – und das von der Neuen Rechten mit einem kulturalistischen oder rassistischen Überbau versehen wird. Das Survival of the Fittest findet nun nicht nur zwischen den Marktsubjekten statt, sondern auch zwischen Kulturen und Religionen. Aufbauen kann die AfD dabei auf den Hetzkampagnen der Massenmedien, die etwa während der Eurokrise daran arbeiteten, die Krisenursachen zu personalisieren (Faule Griechen/Italiener). Es findet faktisch eine Verselbstständigung dieser medial geschürten Ressentiments statt, die in den unkontrollierbaren Wahnräumen des Internets eine Eigendynamik entwickelten. Die Neue Rechte fordert Hetze in Permanenz. Die Krise scheint immer von außen durch bösartig agierende Gruppen in die anscheinend widerspruchslose Arbeitsgesellschaft hineingetragen zu werden.
Schon die frühere britische Premierministerin Margret Thatcher begründete ihre neoliberalen Reformen mit der Macht des Faktischen: "There is no Alternative". Die Personalisierung der Ursachen der gegenwärtigen Systemkrise baut folglich auf der Naturalisierung der spätkapitalistischen Gesellschaften auf: Diese erscheinen dem Neoliberalismus (Markt) und Neonationalismus (Nation) – mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung – als natürlicher Ausdruck der menschlichen Natur. Die zunehmenden Krisentendenzen können folglich nicht auf innere Widersprüche der natürlichen spätkapitalistischen Gesellschaften zurückgeführt werden, wie etwa die Krise der Arbeitsgesellschaft, sondern werden im schädlichen Wirken der Krisenopfer verortet. Die negativen Folgen der widersprüchlichen kapitalistischen Vergesellschaftung können so vom Neoliberalismus und Neonationalismus externalisiert werden: Sie erscheinen als negatives Wesensmerkmal einer Gruppe (Sozialschmarotzer, Flüchtlinge, etc.), mit der entsprechend zu verfahren ist.
Dabei bediente sich der Neoliberalismus schon immer gerne des Nationalismus, um seine gesellschaftliche Legitimität zu erhöhen. In der Bundesrepublik wurde im Gefolge der Agenda-Politik ebenfalls ein anscheinend unverkrampfter Patriotismus forciert, der seinen Durchbruch während der Fußball-Weltmeistersaft erlebte. Die nationale Identitätsproduktion diente auch als ideologischer Kleister, der die zunehmenden sozialen Gegensätze in der neoliberalen Krisenperiode überdecken soll. Eine zentrale Rolle spielte hierbei der Standortnationalismus: Die globalisierte Weltwirtschaft als eine Art Kampfschauplatz der nationalen Standorte, wobei die Exporterfolge der Deutschland AG als Ausweis der nationalen Überlegenheit begriffen wurden – und als Quelle von Ressentiments dienten.
Hieran, an das neoliberale Bild des im globalen Kampf stehenden nationalen Standortes, kann der Neo-Nationalismus nahtlos anknüpfen – und den einen Schritt weitergehen, der zum Bruch führt. Der qualitative ideologische Umbruch zwischen Neoliberalismus und Neo-Nationalismus vollzieht sich vor allem entlang der Haltung zur Globalisierung, die von der Neuen Rechten als Urquell aller krisenbedingten Übel, als Werk einer Verschwörerclique von "Globalisten" imaginiert wird.
Neonationaler Protektionismus wird neue Krisen auslösen
Dabei verwechselt die Neue Rechte einfach den historischen Krisenverlauf mit den systemischen Ursachen der Krise. Die Globalisierung mit ihren globalen Handelsungleichgewichten und dem globalen Schuldenturmbau bildete eine Systemreaktion auf eben jene zunehmenden inneren Widersprüche der kapitalistischen Warenproduktion, die weder Neoliberale noch die Neue Rechte wahrnehmen wollen: Der Spätkapitalismus ist längst zu produktiv für sich selbst geworden. Nur noch durch Kreditaufnahme kann die Massennachfrage für eine Weltwirtschaft aufrecht erhalten werden, die mit immer weniger Arbeitskräften immer größere Warenberge fabriziert. Deswegen stieg in den vergangenen Jahrzehnten die globale Verschuldung, mit Schwerpunkt USA, stärker an als die Weltwirtschaftsleistung.
Diesen Schuldenturmbau, der die entsprechenden Handelsdefizite zur Folge hat, wollen die USA unter Trump nun nicht mehr aufrecht erhalten. Dem qualitativen Umbruch in der Ideologie entspricht somit ein Umbruch im Krisenprozess: von der neoliberalen Globalisierung zum neonationalen Protektionismus, der einen neuen Krisenschub auslösen wird. Die Ideologie der neuen Rechten legitimiert diese neue, verschärfte Krisenphase, indem sie diese mit einer irren Binnenlogik auflädt: Als nationale Befreiung der Völkerschaften vom Joch der Globalisten-Verschwörung.
Der Neo-Nationalismus ist somit ideologischer Ausfluss der krisenbedingten Zuspitzung der sozioökonomischen Widersprüche im Spätkapitalismus, die der Neoliberalismus nicht mehr unter Kontrolle halten kann. Es ist mittlerweile eine Massenbewegung mit einer organisatorischen und ideologischen Eigendynamik. An die Macht kommt diese konformistische Rebellion aber nur dann, wenn nennenswerte Teile der Funktionseliten sie unterstützen. Und dies ist – noch – nicht der Fall, wie es die eingangs erwähnte Kritik von Joe Kaeser an Weidel illustriert. Entscheidend ist hier die Begründung des Siemens-Managers, der die Quellen des deutschen Wohlstands im globalisierten Ausland sieht. Doch was passiert, wenn der Protektionismus diese Quellen versiegen lässt? Dann dürfte die Ideologie der Neuen Rechten auch für weite Teile der deutschen Funktionseliten an Attraktivität gewinnen. Siemens-Chef Joe Kaeser repräsentiert somit die neoliberale Vergangenheit, AfD-Frau Weidel samt dem neurechten Abschottungswahn die Zukunft. Sie symbolisieren keine Gegensätze, sondern zwei Phasen in der voranschreitenden Barbarisierung des spätkapitalistischen Weltsystems.
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