Im Gespräch. Union und SPD wollen Hunderte Milliarden zusätzlich für Rüstung ausgeben. Außenpolitikexperte August Pradetto hält dagegen: Das sei militärisch kontraproduktiv.
Von Dorian Baganz Der Freitag - 13.03.2025
Das Sondierungspapier der in den Startlöchern stehenden schwarz-roten Koalition spricht eine klare Sprache: „Unser Ziel ist es, die innere und äußere Verteidigungsfähigkeit Deutschlands zu stärken." Konkret sollen alle Militärausgaben, die über einem Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) liegen, künftig von der Schuldenbremse ausgenommen sein; ein Gegenvorschlag der Grünen schlägt 1,5 Prozent des BIP vor. Der Politikwissenschaftler August Pradetto hält das für unnötig.
der Freitag: Herr Pradetto, wie blicken Sie auf die Aufrüstungspläne von Schwarz-Rot?
August Pradetto: Ganz prinzipiell gilt: Deutschland und Europa brauchen eine eigene und gut aufgestellte Verteidigungsfähigkeit. Jedes Land und die europäischen Staaten kollektiv müssen in der Lage sein, sich militärisch zur Wehr zu setzen, wenn eines von ihnen angegriffen wird. Das ist nach dem Wegfall der US-Garantien umso wichtiger. Was fehlt, ist eine Analyse, was Landes und europäische Bündnisverteidigung im Jahr 2025 und in den nächsten Jahren heißt. Denn Russland ist zwar ein militärischer Gegner für die Ukraine, aber kein wirklicher militärischer Gegner mehr für die NATO. Putin hat in diesem Krieg nicht nur die Ukraine zerstört, sondern auch seine eigenen Streitkräfte.
August Pradetto - (geboren 1949) ist ein emeritierter deutscher Politikwissenschaftler. 1992 wurde er an die Universität der Bundeswehr in Hamburg berufen. Über den Ukrainekrieg schrieb er unter anderem in den Blättern für deutsche und internationale Politik
Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, behauptet: Russland wird in fünf Jahren in der Lage sein, das NATO-Gebiet anzugreifen.
Das halte ich für eine Fehleinschätzung. Die russischen Streitkräfte sind trotz höchster Anstrengung in den letzten drei Jahren gegen die vergleichsweise schwache ukrainische Armee nicht weiter als 100 Kilometer vorgedrungen und dort stecken geblieben. Praktisch alle Truppen mussten aus dem Fernen Osten an der japanischen und chinesischen Grenze wie an der langen NATO-Grenze zu Finnland abgezogen und in die Ukraine gebracht werden, um die gigantischen Verluste zu kompensieren. Die russischen Streitkräfte
sind heute in der prekärsten Lage seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Laut BBC sind 220.000 russische Soldaten und 4.595 Befehlshaber in der Ukraine gestorben, dazu kommen Hunderttausende Versehrte. Ein groBer Teil des Materials, das Moskau für einen Landkrieg einsetzen konnte, ist vernichtet. Das heißt, der gesamte Kern der russischen Streitkräfte ist in diesem Krieg zerschlagen worden. Russland wird Jahre brauchen, um auch nur seine eigene Verteidigungsfähig keit wiederherzustellen.
Was bedeutet das für unsere Sicherheitspolitik?
Wir müssten erst mal eine Bedrohungsanalyse vorlegen, die nicht auf irgendwelchen Fantasien russischer Nationalisten über die Wiederherstellung der Sowjetunion basiert, sondern auf militärischen und ökonomischen Fakten. Die Wirtschaftsleistung Russlands ist die von Italien oder Spanien: Das ist die Basis für Kriegswaffenproduktion und militärischen Aufwuchs. EU- und NATO-Europa steht unvergleichlich besser da.
Die Ostflanke der NATO ist mittlerweile gut gesichert, an die 20 Nationen arbeiten dort militärisch zusammen und schrecken erfolgreich ab. Deutschland will 4.800 Soldaten in Litauen stationieren, ein Teil ist schon dort. Die NATO ist Russland also auch im Osten haushoch überlegen. Gegen die NATO kann Russland heute im Wesentlichen nur noch hybrid Krieg führen, nicht konventionell. Was Russland heute sichert, ist nur noch die Drohung mit seinen Nuklearwaffen. Die gegenwärtigen Panikkäufe sind enorme Geldverschwendung.
„Russlands Armee ist in der prekärsten Lage seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die NATO ist haushoch überlegen."
40 Prozent der Waffen, die die Ukraine im Krieg einsetzt, kommen aus den USA. Welche Folgen hat es, dass Trump die Lieferungen eingestellt hat?
Das ist fast die Hälfte, also schon ein erheblicher Teil. Natürlich wird das die ukrainische Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen, stark be-einträchtigen. Wenn dann auch noch die Kommunikations- und Aufklärungskapazitäten der USA wegfallen, ist das eine dramatische Situation für das Land. Der Druck auf Kiew, zu einem Ende des Krieges zu kommen, steigt dadurch ganz erheblich. Und das hat auch Folgen für die EU: Die europäische Ukrainestrategie muss sich jetzt verändern. Schließlich wissen die Europäer, dass sie die amerikanische Unterstützung kurzfristig nur unzureichend ersetzen können. Wenn die noch amtierende Außenministerin Annalena Baerbock weiterhin sagt: Die Ukraine muss so lange von uns militärisch unterstützt werden, bis sie aus einer Position der Stärke in Verhandlungen einsteigen kann, dann ist das Gerede von gestern.
Friedrich Merz hat kürzlich eben-falls gesagt: „Die Ukraine muss die Systeme bekommen, die sie zu ihrer Verteidigung benötigt, auch Marschflugkörper."
Die Ukraine muss bis zu einem Waffenstillstand weiter bei der Verteidigung ihres Territoriums unterstützt werden, aber der Taurus ist eine Debatte von gestern. Herr Merz hinkt der politischen Entwicklung hinterher. Nach der Kehrtwende in den USA will der größte Teil der Politiker in den europäischen Ländern sich umso weniger in einen Krieg mit Russland verwickeln lassen. Emmanuel Macron und Keir Starmer sind schon einen Schritt weiter: Sie stellen sich und uns auf eine Nachkriegssituation ein und reden mit der amerikani-schen Administration darüber, zu welchen Bedingungen der Krieg zu einem Ende kommen kann. Ich wage die These: Da wird unser Kanzler in spe auch noch hinkommen.
Ursula von der Leyen will auf EU-Ebene 800 Milliarden Euro für Aufrüstung mobilisieren.
Der gegenwärtige Panikmodus und der Überbietungswettbewerb in Fragen der Aufrüstung ist völlig verfehlt. Wir können ganze ruhig die notwendigen Schwerpunkte bei der kollektiven Verteidigung der europäischen Länder setzen. Die NATO in Europa ist auch ohne die USA Russland konventionell weit überlegen. Was die Europäer brauchen, wenn die USA als Verbündeter ausfallen, ist ein eigenes Kommunikations- und Aufklärungssystem vor allem über Satelliten. Und zweitens: militärische Transportkapazitäten, also Groß-raumtransporter. Das Satellitensystem können sie ohne übermäBige Anstrengungen in den kommenden Jahren aufbauen, europäische Firmen können das bewerkstelligen. Die Transportflugzeuge können zum Beispiel von den USA gekauft werden. Außerdem sind die Lehren aus dem Ukrainekrieg zu ziehen.
Welche sind das?
Neben Patriot-Systemen und ähnlichem sind Drohnen die Abwehrwaffen der Zukunft, nicht Panzer und Kampfflugzeuge. Der vom Verteidigungsministerium schon 2022 in die Wege geleitete Kauf von sündteuren F-35 Kampf-flugzeugen von den USA ist ein Fehlkauf, genauso wie die Massenbestellung von Panzern. Ein Panzer, der 20 oder 25 Millionen Euro kostet, kann von einer 350-Euro-Drohne außer Gefecht gesetzt werden. Die gegenwärtigen Panikkäufe sind also nicht nur Geldverschwendung, sondern militärisch auch noch äußerst kontraproduktiv. Eine adäquate Ausstattung unserer Streitkräfte muss ohne Zweifel gewährleistet sein. Aber um Deutschland und Europa sicher zu machen, muss viel mehr in Bildung, Innovation, Zukunftstechnologien, Infrastruktur, den Kampf gegen den Klimawandel und in die Kohäsion Europas investiert und eine solide Haushaltsführung beachtet werden.
Das Dümmste, das wir machen können, ist, uns selbst totzurüsten.