Raketen. Die Debatte um US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland ist von der Ukraine-Frage zu trennen.
Es geht um viel mehr.


von Wolfgang Richter, aus dem FREITAG, 19.12.2024

Die moralische Empörung über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist berechtigt. Sie darf aber dennoch nicht den Blick für die strate-
gischen Realitäten trüben: Die ab 2026 geplante Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland wird weder der Ukraine helfen noch die Sicherheit des Landes stärken, sondern die nukleare Rüstungskontrolle gefährden und strategische Risiken steigern. Mit Reichweiten von 1.700 bis 3.000 Kilometern würden Tomahawk-Marschflugkörper und Dark-Eagle-Hyperschallraketen von deutschem Boden aus Ziele im gesamten europäischen Russland bedrohen - erstmals seit 1991, als die letzten der nach dem NATO-Doppelbeschluss von 1979 stationierten Pershing-II-Raketen verschrottet wurden.

Die 40 bis 60 „Long-Range Fires" (LRF) plus Nachladungen, um die es geht, sind im Sinne des Systems der Rüstungskontrolle keine „überfällige Antwort" auf russische Iskander-Kurzstreckenraketen in Kaliningrad. Denn die fielen mit maximal 500 Kilometern Reichweite nicht unter den 1987 geschlossenen INF-Vertrag (Interme-diate-Range Nuclear Forces Treaty). Als Präsident Donald Trump diesen 2019 kündigte, ging es um die gM729-Systeme, die aus US-amerikanischer Sicht mit hohen Reichweiten den Vertrag verletzten. Allerdings wurden sie nie kooperativ verifiziert; in der Ukraine traten sie bislang nicht in Erscheinung.
Vielmehr hat Moskau am 21. November 2024 mit Oreschnik eine neue Mittelstreckenrakete „getestet", offenbar eine reichweitenverkürzte Variante der Interkontinentalrakete RS-26. Sie existiert in geringer Zahl, Präsident Wladimir Putin hat aber die Serienproduktion angekündigt. Damit reagiert er nicht nur auf ukrainische Angriffe mit amerikanischen und britischen Raketen auf Russland - sondern ausdrücklich auch auf die deutsch-amerikanische Erklärung vom 10. Juli 2024, jene LRF in Deutschland zu stationieren.

Trump wollte 2019 vor allem China dazu bewegen, dem INP-Vertrag beizutreten und auf die Raketen zu verzichten, die es um die Taiwan-Straße stationiert hat. Denn diese haben die Risiken für US-Interventionen in einer regionale Krise stark erhöht.
Um ihren Zugang zu solchen besonders geschützten Räumen zu erzwingen, haben nun alle US-Teilstreitkräfte kombinierte Verbände mit eigenen Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern aufgestellt.
Das Heer verfügte schon seit 2017 über „Multi-Domain Task Forces" (MDTF), die „Anti-Access/Area Denial"-Fähigkeiten des Gegners überwinden sollen. Drei der fünf MDTF richten sich auf den strategischen Schwerpunkt, den asiatisch-pazifischen Raum. Die zweite MDTF wurde indes 2021
- also vor dem Angriff auf die Ukraine - in Wiesbaden stationiert, während die zugehörigen Raketen zunächst im Bundesstaat New York verblieben. Sie sind es, die ab 2026 erst temporär, dann dauerhaft nach Deutschland kommen sollen.

Alles ist anders als 1979


Der sensible Raum, um den es den NATO-Planern geht, ist die „Suwatki-Enge". Zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und Belarus könnte NATO-Truppen der Landweg nach Litauen versperrt werden. Doch ist das nur 180 auf 100 Kilometer messende Kaliningrader Gebiet nur schwer zu verteidigen. So sind die fraglichen LRF weit mehr als ein operatives Gegengewicht zu den je zwölf Iskander-Systemen in Kaliningrad und Luga, die 2018 dort stationiert wurden und bis knapp vor Berlin reichen.
Weit über die Exklave hinaus könnten sie Moskau in zehn und den Ural in 15 Minuten treffen. So bedrohen sie Ziele im europäischen Russland, die für das nukleare Gleichgewicht wichtig sind. Ihre konventionelle Bestückung ist dabei unerheblich; sie können auch ohne Atomsprengkopf strategische Ziele zerstören.
Dies ist seit Jahren Gegenstand der bilateralen strategischen Stabilitätsgespräche zwischen Moskau und Washington, auch wenn diese seit 2022 nur noch informell stattfinden. Neben der regionalen Vorwärtsstationierung von LRF werden dort auch andere konventionelle Störfaktoren des nuklearen Gleichgewichts thematisiert, etwa die strategische Raketenabwehr. Dieses Gleichgewicht beruht auf gegenseitiger Vernichtungsfähigkeit.
Dazu muss die Überlebens- und Eindringfähigkeit atomarer Interkontinentalwatten gesichert sein, um einen vernichtenden Zweitschlag führen zu konnen. Wer dazu absehbar die Mittel nicht hat, müsste kapitulieren.

Um nun einen instabilen Rüstungswettlauf zu verhindern, haben sich beide Seiten seit Ennde der 1960er darauf verständigt, das nukleare Gleichgewicht durch bilaterale Verträge zu stützen. Zuletzt durch den New-START Vertrag (Strategic Arms Reduction Treaty) von 2010. Parallel sollte der ABM-Vertrag von 1972 (Ant Ballistie Missile Treaty) die strategische Raketenabwehr begrenzen, die gleichfalls die Zweitschlagfähigkeit bedroht. Die regionale Vorwärtsplatzierung präziser, eindringfähiger und durchschlagskräftiger Langstreckenwaffen wie der jetzt in Frage stehenden LRF könnte wiederum einen Erstschlag verstärken. Dann blieben nämlich weniger Zweitschlagwaffen, die von der Raketenabwehr mit höherer Wahrscheinlichkeit abgefangen werden könnten.
Ausschlaggebend für solche Lagebewertungen sind nicht wandelbare Absichtserklärungen, sondern technische Fähigkeiten.  Zwar werden sie in beiden Lagern unterschiedlich beurteilt; aber um die Stabilität zu wahren, kommt es auf die jeweiligen Perzeptionen an. Daher tragen alle Schritte, die das Gleichgewicht unterminieren könnten, zur Verschärfung der Bedrohungsperzeptionen und zur Destabilisierung der Sicherheitslage bei.

Um eine globale strategische Raketenabwehr aufzubauen, hatten sich die USA 2002 aus ABM zurückgezogen. Dass sich dies nur gegen „Schurkenstaaten" wie den Iran richtete, hat Moskau nie geglaubt. Der Kreml sieht diesen Schritt als Gefahr für das strategische Gleichgewicht und hat mit neuen Systemen reagiert, um die US-Raketenabwehr zu überwinden - nuklear getriebene Langstreckentorpedos, Marschflugkörper globaler Reichweite und Hyperschallgleitkörper. Das wiederum sorgt die USA, sie wollen diese Systeme künftig in New START erfassen. Gleichzeitig streben sie aber eine Anhebung der quantitativen Obergrenzen oder eine temporäre Aussetzung des Vertrages an, um ein trilaterales Gleichgewicht mit der aufstrebenden Nuklearmacht China zu gewährleisten. Dagegen rechnet Moskau die Atomwaffen Frankreichs und Großbritanniens zum westlichen Arsenal.
Dass ab 2026 wieder von Deutschland aus strategische Ziele im europäischen Russland bedroht werden sollen, ist eine weitere Belastung der Stabilitätsgespräche. Und anders als beim NATO-Doppelbeschluss von 1979 wird die bilaterale Stationierungsentscheidung Washingtons und Berlins diesmal nicht von einem Dialog-Angebot an Moskau begleitet. Die strategischen Folgen sind schwerwiegend und relativieren die vermeintlichen operativen Vorteile der LRF, etwa die Fähigkeit, überraschend Ziele in der Tiefe Russlands anzugreifen - auch solche, die bisher nur durch frühzeitig erkennbare Interkontinentalraketen erreichbar waren. Diese Fähigkeit, russische Raketen zu „zerstören, bevor sie abgefeuert werden", also zuerst zu schießen, passt in kein plausibles politisches Szenario.

Moskau wird solche Waffen nicht bloß als Mittel der Abschreckung bewerten, sondern als Gefährdung des strategischen Gleichgewichts und der nationalen Sicherheit. Wegen der gegebenen geopolitischen Asymmetrie können landgestützte Mittelstreckenraketen nicht gegen die USA wirken, solange sie nicht in Kuba oder Venezuela stehen. Derartiges haben die USA in der Kuba-Krise von 1962 unter Androhung des Atomkriegs unterbunden. Die Stationierung solcher Waffen in Deutschland brächte nun Moskau in eine „Kuba-Situation".
Sollte der Kreml befinden, dass ein militärischer Konflikt unabwendbar ist, müsste er nach militärischer Logik diese Systeme präemptiv zerstören. Um einer existenziellen Gefährdung der Sicherheit Russlands zuvorzukommen, würde dabei der Einsatz taktischer Atomwaffen erwogen.

Wer das Risiko trägt

Die Risiken dieses Szenarios trägt Deutschland allein. Sie übersteigen deutlich die Bedrohung, der es als Drehscheibe für die Verteidigung der NATO-Ostflanke ohnehin ausgesetzt wäre. Denn es ginge dann nicht mehr um defensive Truppenbewegungen, die von deutschem Boden aus nach Polen und Litauen rollen, sondern um die Fähigkeit zum Überraschungsangriff gegen strategische Ziele in der Tiefe Russlands.
Es liegt daher im deutschen Sicherheitsinteresse, die Unterstützung der Ukraine klar zu trennen von der Bewertung der strategischen Folgen einer LRF-Stationierung. Um die strategische Stabilität und Sicherheit Europas zu gewährleisten, sollte Moskau angeboten werden, einen Wettlauf bei der Stationierung landgestützter Mittelstreckenraketen durch Dialog abzuwenden. Dies ist zentral für eine künftige europäische Sicherheitsordnung und muss bei einer Beilegung des Ukraine Konflikts mitbetrachtet werden.

Deutschland muss zurück zum Konzept der Risiko- und Lastenteilung, um eine strategische Isolierung zu vermeiden. Es ist bemerkenswert, dass die bilaterate Entscheidung Deutschlands und der USA, diese LRF auf deutschem Boden zu stationieren, im NATO-Kommuniqué vom selben Tag nicht einmal erwähnt wird. Das von Paris und Berlin geprägte Projekt ELSA (European Long-Range Strike Approach) ist etwas anderes: Es zielt darauf, die Reichweiten europäischer Marschflugkörper zu erhöhen und Bodenstartsysteme zu entwickeln, greift aber nicht in das strategische Gleichgewicht zwischen den USA und Russland ein.
Wiederum anders als 1979 will derzeit kein anderer europäischer Staat diese LRF auf seinem Gebiet sehen. Dafür gibt es gute Gründe. Weniger nachvollziehbar ist - nüchtern betrachtet und trotz des Ukraine-Kriegs - die neue sicherheitspolitische Dringlichkeit, mit der hierzulande die Stationierung der in Frage stehenden LRF begründet wird. Denn heute sind die verbündeten See- und Luftstreitkräfte mit 2.200 Kampfjets und mehr als 3.000 weitreichenden Marschflugkörpern in Europa Russland qualitativ wie quantitativ weit überlegen: Moskau verfügt nur über rund 1.200 Kampfflugzeuge - und sein Raketenpotenzial, das Kiew jüngst mit 1800 bezifferte. wird trotz hoher Produktionsraten im Krieg stetig dezimiert.
Dennoch wurde nun eine Maßnahme angekündigt, welche die Zukunft der nuklearen Rüstungskontrolle in Gefahr bringt. Wenn der New-START-Vertrag im Februar 2026 ohne Interimsvereinbarung ausläuft, gäbe es keine verbindlichen Begrenzungen eines atomaren Rüstungswettlaufs mehr. Deutsches Interesse muss es sein, die nukleare Rüstungskontrolle zu fördern - und nicht einen weiteren Grund für ihr Ende schaffen.

Wolfgang Richter (Oberst a. D.) war Leitender Militärberater in den deutschen UN- und OSZE-Vertretungen. Heute ist er Associate Fellow beim Genfer Zentrum f Sicherheitspolitik (GESP) - andere Veröffentlichungen auf der Seite der "Friedrich-Ebert-Stiftung" (FES)

weitere Infos z.B. hier beim IMI e.V.:
https://www.imi-online.de/2025/01/07/friedensfaehig-statt-erstschlagfaehig/