Plump aufdringliches Theater: IMEC soll Europa, Mittleren Osten und Indien verbinden. Beijing gelassen
Knut Mellenthin

Während des G20-Gipfeltreffens in Neu-Delhi am 9. September haben die relevanten Staatschefs ein »Memorandum of Understanding« (MoU), also eine rechtlich unverbindliche und inhaltlich substanzlose Absichtserklärung, veröffentlicht. Gegenstand des kurzen Papiers ist die Schaffung eines »Wirtschaftskorridors Indien–Nahost–Europa«, englisch abgekürzt IMEC. Unterschrieben haben Saudi-Arabien, Indien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Frankreich, die BRD, Italien, die USA und die EU.

Der geplante IMEC soll der Absichtserklärung zufolge aus zwei separaten Korridoren bestehen: einem östlichen, der Indien mit der arabischen Halbinsel verbindet, und einem nördlichen, der von dort aus nach Europa weiterführt. Der erste Abschnitt soll vom indischen Mumbai (früher Bombay) über See zu Häfen in den Emiraten oder Saudi-Arabien verlaufen. Dazu steht zwar im MoU nichts Genaues, aber laut Presseberichten sind fünf verschiedene Häfen zur Auswahl ins Auge gefasst.

Zentraler Teil des Projekts ist eine noch zu bauende Eisenbahnlinie, die durch Saudi-Arabien über Jordanien weiter nach Israel führen soll. Dort sollen die zu transportierenden Güter vermutlich – auch das wird in dem Papier nicht konkretisiert – im Hafen von Haifa wieder auf Schiffe geladen und über das Mittelmeer nach Europa gebracht werden. Entlang der Eisenbahnlinie wollen die Beteiligten die Verlegung von Stromkabeln und digitalen Verbindungen sowie von Rohrleitungen für den Export von »sauberem« Wasserstoff ermöglichen. Der Korridor werde die Effizienz steigern, die Kosten verringern, »die wirtschaftliche Einheit fördern«, Arbeitsplätze schaffen und zu niedrigeren Emissionen von Treibhausgas führen, heißt es weiter in der gemeinsamen Absichtserklärung.

Konkrete Angaben fehlen in diesem MoU vollständig. Man erfährt nichts über den künftigen Verlauf der Bahnstrecke zwischen der Arabischen Halbinsel und Israel. Von einem Zeitrahmen für die Umsetzung des Projekts ist ebensowenig die Rede wie von den voraussichtlichen Kosten oder einer seriösen Berechnung des erhofften Nutzens. Auch die Frage, welche Staaten und Privatunternehmen zu den erforderlichen umfangreichen Investitionen bereit sein könnten, ist völlig offen. Aus all diesen Defiziten lässt sich schließen, dass das Projekt sich höchstens im ersten Stadium der Planung befindet. Die Beteiligten wollen sich innerhalb der nächsten 60 Tage treffen, um über einen »Aktionsplan mit diesbezüglichen Zeittafeln« zu diskutieren, heißt es im MoU.

Nicht einmal die einzige relevante Zahl, die in diesem Zusammenhang von der Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, genannt wird, ist sachlich begründet: Der geplante »Korridor« werde den Frachtverkehr zwischen Indien und Europa um 40 Prozent schneller machen, behauptete sie am 9. September in Neu-Delhi. Wissenschaftlich errechnet ist das gewiss nicht, zumal der Verlauf der geplanten Bahnstrecke noch nicht festgelegt ist und die Zeitdauer des Frachtverkehrs von und nach Indien für verschiedene Regionen Europas ungleich ist. Für Indiens wichtigste Handelspartner würde sich durch den »Korridor« nichts ändern. An erster Stelle stehen laut Trading Economics die USA, die 18 Prozent der indischen Exporte aufnehmen, gefolgt von den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien (zusammen 9,3 Prozent der Exporte) und China (3,4 Prozent).

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Präsentation des IMEC während des G20-Gipfels als Propaganda- und Wahlkampfshow für Joseph Biden dar, dem die Gastgeber die Vorstellungsrede überließen, obwohl die finanzielle und politische Rolle der USA bei einer eventuellen Umsetzung des Plans anscheinend ungeklärt ist. Der US-Präsident, der für das höchstens auf dem Papier stehende Projekt nichts Erkennbares getan hat, erwähnte seinen »Stolz, heute dieses historische Abkommen zu verkünden«, und sprach gleich zweimal hintereinander den Satz: »This is a big deal.«

Westliche Medien feierten den Vorgang pflichtbewusst als gelungenen und ziemlich genialen Schlag der Biden-Regierung gegen Chinas »Neue Seidenstraße«, die meist auf englisch als »Belt and Road Initiative« (BRI) bezeichnet wird. Der US-Sender CNN sprach von einer »Herausforderung für Chinas Ambitionen«. Der Spiegel phantasierte dreist vereinnahmend: »Doch hinter den Kulissen nutzen die Amerikaner die Chance – und schmieden ein mächtiges Bündnis gegen Peking«. Überschrift: »Wie die USA den Rivalen China an den Rand drängen«. Offensichtlich haben die Macher des Magazins eine geringe Meinung von der Sachkenntnis und Intelligenz ihres Publikums.

Das Außenministerium in Beijing demonstrierte angesichts des plump-aufdringlichen Theaters Gelassenheit: China begrüße alle Initiativen, die wirklich dazu verhelfen, die Infrastruktur der sich entwickelnden Länder auszubauen. »Gleichzeitig treten wir dafür ein, dass die verschiedenen Initiativen zur Vernetzung offen, inklusiv und und auf Synergie ausgelegt sind, und dass sie nicht zu geopolitischen Instrumenten werden.«

Deutlicher fiel die Kritik in der englischsprachigen chinesischen Tageszeitung Global Times aus: Angesichts früherer Lippenbekenntnisse der USA frage man sich allgemein, »ob dies nicht ein neues amerikanisches Influencerprojekt ist, das darauf abzielt, gewisse Länder ›einzuwickeln‹«. Die reale wirtschaftliche Bedeutung des IMEC sei gering, da die EU mit Indien nur etwa zwei Prozent ihres Außenhandels abwickle.

Hintergrund: Wirtschaftskorridor

Der Frachtverkehr zwischen Indien und Europa findet gegenwärtig hauptsächlich per Schiff durch den Suezkanal statt. Das Projekt eines neuen »Wirtschaftskorridors« sieht statt dessen, wenigstens auf dem Papier, den Seeweg von Indien zur arabischen Halbinsel und weiter per Bahn über Jordanien nach Israel vor. Das ist zweifellos kürzer und auch schneller. Ob es aber auch billiger würde, wie die EU behauptet, ist eine offene Frage. Neben den voraussehbar hohen Investitionskosten ist auch zu berücksichtigen, dass alle Frachtgüter zweimal zusätzlich umgeladen werden müssten: zuerst in einem Hafen der arabischen Halbinsel vom Schiff auf die Bahn und dann wieder in Israel, vermutlich in Haifa, von der Bahn aufs Schiff.

Unabhängig von diesem ambitionierten Projekt, dessen sämtliche Details erst noch festgelegt werden müssten, ist die »Gulf Railway« ein mindestens seit 2009 geplantes Vorhaben, das während der letzten Jahre nach mehrfachen Verzögerungen und Unterbrechungen in den Vereinigten Arabischen Emiraten und in Saudi-Arabien zu erheblichen Teilen umgesetzt wurde, während die anderen Beteiligten mehr oder weniger hinterherhinken. Das Ziel besteht darin, die wichtigsten Städte der sechs Mitgliedstaaten des Golfkooperationsrates, also aller Länder der arabischen Halbinsel mit Ausnahme Jemens, durch Bahnlinien stärker miteinander zu verbinden. Ausgegangen wurde von einem Schienennetz von mehr als 2.100 Kilometer Länge und Baukosten in Höhe von mehr als 200 Milliarden US-Dollar.

Die gegenwärtig schon vorhandenen Bahnstrecken sind aber selbstverständlich nicht darauf ausgerichtet, zusätzliche große Gütermengen nach Jordanien und von dort aus weiter nach Israel zu transportieren. Noch steht nicht einmal fest, in welchem Hafen oder welchen Häfen die Frachtgüter aus Indien von Schiff auf die Bahn umgeladen werden sollen. (km)