Die Klimafolgen bringen massive soziale Verwerfungen mit sich. Die herrschende Politik wird das Problem nicht lösen, sondern eher verschärfen. Wir brauchen dringend Konzepte der Anpassung von links.

Stellen wir uns einen Hitzesommer im Jahr 2050 in einer deutschen Großstadt vor. Tropische Nächte, in denen die Temperatur nicht unter 20 Grad sinkt, verhindern über Wochen erholsamen Schlaf und setzen besonders alten und geschwächten Menschen zu. In den schlecht sanierten, dicht besiedelten Wohngegenden staut sich die Hitze – während es in Stadtvierteln mit Grünflächen und Gärten bis zu zehn Grad kühler sein kann.

Das ist nur ein Schlaglicht auf die Un­­gleich­heit in einer klimaveränderten Welt – und es ist nicht das bedrückendste. In vielen Weltregionen werden zu diesem Zeitpunkt die Lebensverhältnisse unerträglich sein, zahllose Existenzen durch Umweltkrisen bedroht oder zerstört.

Doch auch die Hitzesommer in Deutschland werden massive Folgen haben und Tote fordern. Dass sie kommen, lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagen. Dass sich daraus dringender Handlungsbedarf ergibt, ebenfalls. Dennoch werden die Klimafolgen in ihrer Tragweite weithin verdrängt. Die Folge: Wir sind im schlechten Sinne »unangepasst«. Es fehlt an ausreichenden Infrastrukturen und Ressourcen, um mit Hitzewellen, Dürreperioden, Starkregen und Wasserkrisen umgehen zu können. Den Preis zahlen vor allem diejenigen, die am wenigsten haben. Klimaanpassung ist damit eine soziale Frage, eine der Fragen unserer Zeit, an der sich die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung entscheidet. Dennoch wird sie auch in der Linken oft beiseitegeschoben. »Anpassung« wirkt defensiv, resignativ. Wer will schon über die Verwaltung des Mangels sprechen – damit lässt sich keine Zustimmung gewinnen. Und: Wäre es nicht besser, alle Anstrengungen auf den Klimaschutz zu richten, als sich jetzt schon mit den Folgen abzufinden?

Dabei ist gerade das Gegenteil richtig: Sich den Klimafolgen zu stellen, ist ein reality check, der die Dringlichkeit des Klimaschutzes umso deutlicher macht. Wenn wir verstehen, welcher Handlungsbedarf durch einen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um zwei Grad entsteht, begreifen wir, warum ein weiterer Anstieg um jeden Preis verhindert werden muss. Das Verdrängte zu konfrontieren und ein glaubwürdiges Bild davon zu zeichnen, was auf uns zukommt, kann der Resignation eher entgegenwirken und zu kollektivem Handeln motivieren.

Denn selbst in den wohlhabenden Ländern des globalen Nordens sind die Herausforderungen immens. Starkregen und Hitzesommer häufen sich und verursachen in Großstädten schon jetzt jährlich mehr Todesfälle als der Straßenverkehr (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt Berlin, 2016, 16). In einigen Regionen sind traditionelle Pflanzensorten nicht mehr anbaubar und zahlreiche Tierarten vom Aussterben bedroht (vgl. Reimer in diesem Heft). Unsere Infrastrukturen und Lebensgewohnheiten sind auf ein klimatisch stabiles 20. Jahrhundert ausgerichtet. Über Anpassung zu reden, ist also keine Option, es wird uns von der Realität aufgezwungen. »Change is coming whether you like it or not«, sagte Greta Thunberg und analog ließe sich formulieren, dass Anpassung stattfinden wird, ob wir wollen oder nicht.

Die gegenwärtige Anpassung ist jedoch vielerorts nicht proaktiv, sondern reaktiv, nicht demokratisch, sondern autoritär, nicht öffentlich und universal, sondern privatisiert und technokratisch. Allzu oft blendet sie die enorme soziale Ungleichheit aus, die von den Klimafolgen noch verschärft wird. Anpassungspolitik müsste diejenigen ins Zentrum stellen, die am stärksten betroffen sind, und auf gute Lebensverhältnisse für alle zielen. Dafür muss sie die engen Grenzen des »realpolitisch Möglichen« sprengen und Ressourcen mobilisieren, die der Aufgabe angemessen sind. Wenn Anpassung nicht Teil einer grundlegenden sozial-ökologischen Transformation wird, wird sie für den Großteil der Menschen scheitern und soziale Spaltungen weiter vertiefen.

Die herrschende Anpassung

Die herrschenden Politiken der Anpassung werden diesen Herausforderungen nicht gerecht. Die klimatischen Veränderungen haben nicht nur graduelle Auswirkungen, sie werden unsere Produktions- und Reproduktionsverhältnisse grundlegend beeinträchtigen. Im globalen Süden sind die sozialen Verwerfungen infolge der Klimakrise bereits deutlicher zu erkennen. Krisen und Konflikte, Armut und Ungleichheit verschärfen die Auswirkungen von Klimafolgen und beeinträchtigen die Anpassungsfähigkeit von Menschen und Gesellschaften. Die Klimagerechtigkeitsbewegung im globalen Süden fordert daher in erster Linie Reparationen für die »Klimaschulden« des globalen Nordens, dessen fossilistisches Produktionsmodell und hegemoniale Lebensweise für den Großteil der globalen Emissionen verantwortlich sind und waren. Doch stattdessen dominieren Abschottung und Externalisierung – die Regierungen der nördlichen Industrieländer weisen nicht nur Menschen zurück, die vor unhaltbaren Lebensverhältnissen fliehen, sondern auch ihre historische Verantwortung und die Forderung nach globaler Umverteilung. Die reichsten Länder geben inzwischen mindestens doppelt so viel für Grenzsicherung und Migrationsabwehr aus wie für die Klimafinanzierung (vgl. Buxton in diesem Heft). Und zur Absicherung von Schäden und Verlusten werden marktbasierte individuelle Versicherungsmodelle propagiert (vgl. Nera-Lauron in diesem Heft).

Zwar wird auch hierzulande die Dringlichkeit des Themas allmählich erkannt. Doch die politischen Antworten greifen zu kurz. Im Rahmen der Deutschen Anpassungsstrategie (DAS) erarbeiten Behörden und wissenschaftliche Netzwerke unter Leitung des Umweltministeriums seit 17 Jahren detaillierte Risikoanalysen – von der Land- und Forstwirtschaft über den Verkehr bis zur Gesundheitsversorgung. Die Aktionspläne versammeln umfangreiche Empfehlungen, die Kommunen werden angehalten, lokale Bedarfe zu ermitteln und Pläne vorzulegen, was auch vielerorts geschieht. Doch der Prozess stockt auf unterschiedlichen Ebenen und weist deutliche Leerstellen auf.

Die Maßnahmen bleiben nicht nur im Umfang weit hinter dem – formulierten und realen – Handlungsbedarf zurück, sie werden zudem in dem vermachteten und bürokratischen Handlungsrahmen von Kommunalregierungen und Verwaltungen ausgebremst. Angesichts der Größenordnung des Problems wäre eine Investitionsoffensive vonnöten, die die Infrastrukturen der Wasserwirtschaft, des Verkehrs, des Katastrophenschutzes, der Gesundheitsversorgung und Stadtentwicklung an die neuen klimatischen Risiken anpasst, und zwar so schnell wie möglich. Doch ein solcher Aufbruch ist nicht zu erkennen. Es fehlt an Personal und Finanzmitteln, die großen Aufgaben sind unter den Bedingungen prekärer Kommunalfinanzen kaum umsetzbar (vgl. Tebje in diesem Heft). Während man Aktionspläne verfasst, die allmählich in die politischen Apparate sickern sollen, werden gleichzeitig anderswo Fakten geschaffen: Es wird weiterhin versiegelt, es werden Autobahnen ausgebaut und Glastürme hochgezogen (vgl. Witt in diesem Heft).

Zudem konzentriert sich die Deutsche Anpassungsstrategie auf technische Maßnahmen wie Deichbauten, Abwassersysteme und Baunormen, die die Wirkung von Klimarisiken abmildern sollen. Andere Handlungsfelder in der Sozial-, Gesundheits-, Wohnungs- oder Stadtentwicklungspolitik werden jedoch kaum berücksichtigt, obwohl sie unmittelbar Einfluss haben auf die Auswirkungen der Klimafolgen. Die sozialen Determinanten der Vulnerabilität, der Verwundbarkeit durch die Folgen des Klimawandels, wurden in den Risikoanalysen erst spät überhaupt berücksichtigt und bleiben auch heute hinter einem ganzheitlichen Verständnis von Anpassung zurück, wie es etwa in den Berichten des Weltklimarates (IPCC) formuliert wird. Maßnahmen ›impliziter‹ Anpassung, die auf den Schutz von einkommensarmen und besonders gefährdeten Personen zielen – etwa mieter*innenfreundliche Finanzierungskonzepte für energetische Sanierung – werden ausgeklammert. Diese Engführung ist ein folgenschwerer Fehler. Denn auch innerhalb der reichen Länder treffen Umweltrisiken nicht alle gleich: Es sind die dicht bebauten, verkehrsbelasteten Innenstadtquartiere, die unsanierten Wohnungen ohne Grünflächen, wo Smog und Hitzestau am größten sind. Dass insbesondere Menschen in prekären Arbeits- und Wohnverhältnissen, ältere, gesundheitlich beeinträchtigte oder auch behinderte Menschen leiden, wenn soziale Dienstleistungen ausgedünnt werden, ist nicht neu und als »Krise der Reproduktion« analysiert worden. Mit der Zuspitzung der Klimafolgen wird sich auch diese Krise vertiefen. Anpassung müsste hier gezielt entgegensteuern und Fragen der Wohnungs- und Gesundheitspolitik, der sozialen Sicherungssysteme, der demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten und die Eigentumsfrage mitberücksichtigen. Davon ist die DAS weit entfernt.

Anpassung, die Ungleichheit verschärft

Wenn Anpassungspolitik lediglich auf technische Maßnahmen setzt und den breiteren Kontext ihres Wirkens ausblendet, kann sie den Verteilungswirkungen der Klimakrise nicht begegnen und droht die Ungleichheit noch zu verstärken. Selbst der Weltklimarat moniert, dass eine »Anpassungspolitik, die nicht die negativen Auswirkungen für unterschiedliche soziale Gruppen in Betracht zieht, […] zu erhöhter Verwundbarkeit führen […] und Ungleichheit verschärfen [kann]« (IPCC 2022: 29, eigene Übersetzung). Ein Blick auf die Stadt verdeutlicht das: Auch sinnvolle Maßnahmen der Klimaanpassung wie die Entsiegelung von Grünflächen und energetische Sanierungen können auf einem deregulierten Wohnungsmarkt soziale Segregation verschärfen. Die Schaffung verkehrsberuhigter »grüner Zonen« kann zur Aufwertung von Quartieren beitragen und zur weiteren Verdrängung von ärmeren Bewohner*innen führen. Isabelle Angueolvski hat die segregierende Wirkung städtischer Klimaanpassung in unterschiedlichen Ländern und Städten analysiert und beschreibt eine »Green Gentrification«, die im Extremfall »luxuriöse klimaresiliente Elitegettos für die Privilegierten« hervorbringen könne (vgl. Anguelovski/Pellow in LuXemburg-Online). Städtische Anpassungspolitik ignoriert meist, dass Resilienz auch eine Klassenfrage ist, und stützt stattdessen die Tech- und Immobilienfirmen als Treiber von Wachstum. Häufig wird top-down agiert und die Interessen von Betroffenen werden ignoriert. Im globalen Süden gibt es Infrastrukturmaßnahmen, die im Namen der Klimaanpassung zur Vertreibung von Bevölkerungsgruppen geführt und deren Verwundbarkeit noch erhöht haben (vgl. Yanez in diesem Heft). Auch im Zuge von Katastrophenhilfe und Wiederaufbau kommt es häufig zur weiteren Privatisierung von Land und zu verschärfter Segregation, wenn nicht alle ehemaligen Bewohner*innen es sich leisten können, ihre Existenzen neu aufzubauen, oder gar gezielt umgesiedelt werden, wie beispielsweise in New Orleans nach dem Hurrikan Katrina 2005.

Ist eine andere Politik der Anpassung möglich?

Dass die herrschende Anpassungspolitik den unterschiedlichen Dimensionen des Pro­blems kaum gerecht wird, dürfte auch damit zusammenhängen, dass sie auf soziale und physische Infrastrukturen aufbaut, die durch neoliberale Kahlschlagpolitik jahrzehntelang heruntergewirtschaftet wurden. Es kann daher kaum überraschen, dass es in den staatlichen Apparaten auch an personellen Kapazitäten und den damit verbundenen Wissensbeständen fehlt, die für eine effektive Klimaanpassung erforderlich wären. Anpassungspolitik ist aber wesentlich Infrastrukturpolitik und kann folglich nur durch öffentliche Programme und Investitionen angemessen betrieben werden. Wenn diese notwendigen Maßnahmen ausbleiben oder strukturell versperrt sind – was heißt das für die Hebelpunkte, Möglichkeiten und Grenzen einer linken Anpassungspolitik?

Die absehbaren Verwerfungen infolge der Klimakrise werden zu erheblichen Legitimationsproblemen der herrschenden Politik und des kapitalistischen Staates führen. Sie werden innergesellschaftlich und international so einschneidend sein, dass die existierenden In­stitutionen kaum mehr in der Lage sein werden, die Konflikte zu prozessieren, die sich daran entzünden. Der Widerspruch zwischen der Akkumulations- und der Legitimationsfunktion des Staates, also zwischen der Aufgabe, einerseits die Verwertungsbedingungen für das Kapital zu organisieren und andererseits die Zustimmung zu einer strukturell ungleichen Gesellschaftsordnung abzusichern, wird sich verschärfen. Die Frage der Legitimation, verbunden mit der Frage nach der Effektivität von Politik, stellt sich damit immer dringlicher. Das spielt bekanntlich nicht automatisch der Linken in die Hände. Es eröffnet aber – wenn die Linke sich nicht unvorbereitet davon überraschen lässt – die Möglichkeit, in einem radikal-reformistischen Sinne zu intervenieren: mit Maßnahmen, die den Schutz und die Lebensbedingungen der Vielen konkret verbessern. Strategisch sollte daher genau überlegt werden, welche Maßnahmen im Fokus einer progressiven Anpassungspolitik in den kommenden Jahren stehen sollten und welche Bündnisse für die Durchsetzung der jeweiligen Maßnahmen erforderlich wären, um diesen eine reale Durchsetzungsperspektive zu geben.

Dafür müssen jedoch die staatlichen und gesellschaftlichen Kapazitäten der Klimaanpassung wieder oder neu aufgebaut werden. Gleichzeitig müssen die strukturellen Grenzen, an die solche Bemühungen im kapitalistischen Staat notwendigerweise stoßen, reflektiert werden. Entscheidend wäre es unter anderem, den Kampf auch um die staatlichen Institutionen der Anpassung aufzunehmen. Im Bündnis mit progressiven Akteuren in den staatlichen Apparaten (z. B. im Umweltministerium, im Umweltbundesamt, in vielen Kommunalverwaltungen) gilt es, die Grenzen des Machbaren zu verschieben. Das geht allerdings nur, wenn entsprechende Forderungen auch von sozialen Bewegungen mit Nachdruck verfolgt werden und ein politischer Druck entsteht, der dafür Räume öffnet. Zwar ist die Klimabewegung im globalen Norden in den letzten Jahren deutlich erstarkt, sie konzentriert sich aber primär – und im (berechtigten) Interesse künftiger Generationen – auf die Defizite beim Klimaschutz. Anpassungsfragen lassen sich demgegenüber viel schwerer politisieren. Klimagerechtigkeit müsste im Feld der Anpassungspolitik erst als zentrale Forderung zur Geltung gebracht werden. Darin liegt eine Herausforderung, aber auch eine Möglichkeit, das Feld der Anpassungspolitik von links zu besetzen. Wie in kaum einem anderen Bereich wird hier die ökologische als soziale und internationalistische Frage sichtbar. Die gesellschaftliche Linke muss Anpassung daher als Richtungsfrage stellen: Geht es primär darum, die sozial-ökologisch destruktiven Folgen einer Produktionsweise abzufedern, ohne deren Mechanismen infrage zu stellen? Oder begreifen wir Anpassung als Einstieg in den grundlegenden Umbau dieser Gesellschaft? In diese Auseinandersetzung muss sich die Linke mit konkreten Konzepten solidarischer Anpassungspolitik einmischen.

Das ist schwierig, beinhaltet aber auch eine Chance: Durch die massiven klimatischen Umbrüche wird jedes realistisch-realpolitische ›Weiter so‹ der Realität völlig unangemessen. Nur durch tiefgreifende Veränderungen in der Produktions- und Reproduktionsweise, in den Eigentumsverhältnissen, der demokratischen Teilhabe und mit einer internationalistischen Perspektive kann tatsächlich eine Klimaanpassung im Sinne der Vielen gelingen. Dafür zu streiten, könnte in Zukunft zentral sein für die Erneuerung der gesellschaftlichen und politischen Linken.

Linke Klimafolgenanpassung will mehr!

Klimafolgenanpassung wäre aus einer linken Perspektive daher umfassend zu begreifen: Neben der ›expliziten‹ Anpassung wäre – als differentia specifica linker Politik – die ›implizite‹ Anpassung zu stärken. Explizite Maßnahmen sind primär baulicher und technischer Art: Deiche werden erhöht, Flächen entsiegelt, Kühlräume geschaffen, neue Pflanzensorten gezüchtet oder Schwammstadt-Konzepte umgesetzt. Das alles ist unabdingbar. Es kann Leben retten und dazu beitragen, dass besonders von der Klimakrise betroffene Räume bewohnbar bleiben.

Implizite Anpassung geht darüber hinaus, weil sie die sozialen Verhältnisse in den Blick nimmt, die die Auswirkungen der Klimakrise bestimmen und insgesamt für ungleiche Lebensverhältnisse verantwortlich sind. Sie verbindet den Schutz vor den nicht mehr vermeidbaren Auswirkungen der Klimakrise und den Fokus auf die am stärksten Betroffenen mit der Frage, wie wir eigentlich leben wollen und können.

All das, was für einen effektiven Schutz vor den Folgen der Klimakrise notwendig ist, sind Dinge, für die aus linker Perspektive ohnehin gestritten wird, weil sie die Gesellschaft egalitärer machen. Dazu zählen die energetische Sanierung des sozialen Wohnungsbaus, der Ausbau des Gesundheitswesens, die Förderung einer ernährungssouveränen ökologischen Landwirtschaft mit an die Klimakrise angepassten regionalen Anbaumethoden und solidarischen Stadt-Umland-Beziehungen bei der Versorgung mit Lebensmitteln ebenso wie die Förderung von öffentlichen Orten und Gemeinschaftsgärten. Global sind ein Ende der Abschottungspolitik und offene Grenzen für (Klima-)Migrant*innen und -Flüchtlinge ebenso wichtig wie die massive Unterstützung des globalen Südens für die Linderung oder Behebung von Klimaschäden sowie der Verzicht auf eine Klimapolitik, die Anpassungskapazitäten im globalen Süden untergräbt, wie etwa die Förderung der ressourcenintensiven Elektroautomobilität. Konkrete Maßnahmen zur Umweltgerechtigkeit reichen vom Rückbau großer Straßen, an denen meist die Ärmeren wohnen, zugunsten von Grünflächen und dem gleichzeitigen Ausbau des öffentlichen Transports bis zu besseren Arbeitsbedingungen in Branchen wie der Bau- und Landwirtschaft, die eine hohe Vulnerabilität gegenüber ökologischen Krisenphänomenen aufweisen. Schließlich geht es auch um eine Arbeitszeitverkürzung, die die Voraussetzungen für die immer wichtigere sorgende Arbeit an Mensch und Natur verbessert.

Das alles sind Essentials linker Politik. Sie sind nicht neu, aber sie erhalten eine besondere Dringlichkeit durch die notwendige Anpassung an die Klimafolgen und die zunehmend notwendigen Reparaturarbeiten angesichts massiver Umweltschäden. Von der Linken immer schon geforderte Veränderungen werden nun zum Schlüssel einer solidarischen Resilienz gegen die Klimakrise. Die »egalitären Aspekte des Stadtlebens [bieten] die besten soziologischen und physikalischen Voraussetzungen für Ressourcenschonung und Reduktion des CO2-Ausstoßes« (Davis 2010; vgl. IPCC-Bericht 2022), schrieb Mike Davis vor über zehn Jahren. Das lässt sich umstandslos auf die Klimaanpassung und auf ländliche Regionen übertragen. Es markiert den Horizont einer linken Anpassungspolitik, in der sich der Abbau von sozialer Herrschaft und der Abbau von Naturbeherrschung wechselseitig bedingen und gemeinsam die Grundlage für eine solidarische Bewältigung der Klimakrise schaffen – dafür, dass im Schlechten etwas Besseres entstehen kann, und zwar von unten.

Was dürfen wir hoffen?

Zoomen wir nochmal in den urbanen Hitzesommer 2050, aber diesmal unter anderen Vorzeichen. Was wäre möglich, wenn Anpassungspolitik tatsächlich die Lebensverhältnisse der Vielen ins Zentrum stellte? Natürlich würden die tropischen Nächte weiterhin viele Menschen gesundheitlich an ihre Grenzen bringen. Doch es wären zumindest Frischluftzufuhr und Kühlung für alle garantiert. Es wären Vorkehrungen getroffen worden – insbesondere für die am stärksten betroffenen Gruppen: Eine öffentliche Warn-App liefert dann täglich aktuelle Klimadaten, empfiehlt individuelle Schutzmaßnahmen und informiert über die am nächsten gelegenen Kühlräume, öffentlichen Wasserfontänen und Trinkbrunnen. Durch Entsiegelung würden gezielt Frischluftschneisen geschaffen, Brachen zur Nutzung an soziale und kulturelle Projekte übergeben. Als Neubau sticht dann insbesondere der öffentliche soziale Wohnungsbau hervor. Hier wurde Wohnraum für alle geschaffen, der modellhaft klimaangepasstes Wohnen zeigt: Der Energie- und Kühlungsbedarf ist durch intelligente Architektur und natürliche Baustoffe gering, Fassadenbegrünung wirkt als Kühlung. Auf dem Dach sind Grünflächen, die auch der Naherholung und Begegnung dienen. Viele Großsiedlungen wurden in den 2020er Jahren saniert. Mit der Vergesellschaftung der Wohnungsbestände wurden die Mieten auf niedrigem Niveau gedeckelt. Auf Quartiersebene und auf kommunaler Ebene gibt es demokratische Strukturen, die über weitere Baumaßnahmen und die gemeinschaftliche Nutzung entscheiden. Kühlräume, aber auch andere Gebäude wie etwa Kirchen, stehen allen offen, mit besonderen Kapazitäten für ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen, die aktiv angesprochen und bei Bedarf dorthin begleitet werden. Freibäder sind kostenfrei. Der Autoverkehr ist aus den Innenstädten verbannt, was den Hitzestau bremst und die Luftqualität verbessert. Die Straßen wurden zurückgebaut oder zu sicheren und breiten Fahrradstraßen. Parkhäuser und Parkplätze wurden in Grünanlagen und Gemeinschaftsgärten umgewandelt. Viele Menschen bevorzugen dennoch, außerhalb der großen Städte zu wohnen, da es klimatisch wesentlich angenehmer ist. Schnelle und zuverlässige öffentliche Verkehrsverbindungen machen es möglich.

Natürlich ist auch diese Welt keine heile Welt. Extremwetterereignisse häufen sich, Land-, Forst- und Wasserwirtschaft sind massiv im Umbruch, immer wieder gilt es, auf neue Krisen zu reagieren und Ausfälle und Schäden zu kompensieren. Die Länder des globalen Südens, die mit schweren sozialen Verwerfungen zu kämpfen haben, erhalten umfangreiche Reparationszahlungen von den ehemaligen Profiteuren des fossilen Kapitalismus im globalen Norden. Darüber hinaus gibt es einen dauerhaften Mechanismus der kollektiven Haftung und solidarischen Umverteilung von Krisenkosten weltweit. Nicht nur für den Klimaschutz, sondern auch für Klimaanpassung sowie Schäden und Verluste werden umfangreiche Ressourcen zur Verfügung gestellt, über die selbstbestimmt und demokratisch verfügt wird. In den Gesellschaften des globalen Südens fließen massive öffentliche Investitionen in den Ausbau von technischen und sozialen Infrastrukturen und in den Aufbau sozialer Sicherungsnetze zum Schutz der Menschen, deren Existenzen von den Klimafolgen bedroht oder zerstört sind. Dort wo Anpassung schwer oder unmöglich ist, haben Migrationsbewegungen zugenommen. Den Menschen Bewegungsfreiheit zu ermöglichen und eine neue Existenz zu sichern, ist eine zentrale politische Aufgabe.

Spätestens hier wird die Reichweite der skizzierten Utopie deutlich. Eine Welt, in der Klimafolgen solidarisch getragen und Anpassung im Sinne aller umgesetzt wird, wäre eine ganz andere, eine radikal veränderte Welt. Der Weg dahin kann nur ein internationalistischer sein. Ohne globale Perspektive ist keine solidarische Klimaanpassung möglich. Das Schlaglicht auf die klimagerechte Stadt im Sommer 2050 zeigt, was zu gewinnen ist: eine Perspektive der Hoffnung, die die Herausforderungen annimmt und nicht verdrängt, und eine Zukunft, für die es zu kämpfen lohnt.

 Ulrich Brand

hier das ganze Inhaltsverzeichnis:
https://zeitschrift-luxemburg.de/

 

 

Unfairer Welthandel
Robert Habeck und Katharina Dröge behaupten, für einen fairen Welthandel einzustehen. In Wirklichkeit setzen sie die Politik auf Kosten des Globalen Südens fort.

Seit Langem steht die EU-Handelspolitik in der Kritik  (17.06.22)

Robert Habeck und Katharina Dröge wollen die europäische Handels­agenda neu gestalten. Ein „Weiter so“ dürfe es nicht geben. Profit soll nicht mehr der bestimmende Faktor dafür sein, welche Waren von A nach B transportiert werden. Vielmehr sollen Nachhaltigkeit und Fairness zukünftig die Fahrtrichtung vorgeben. Europa müsse aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und sich bei Handelsabkommen für mehr Transparenz und Partizipation von Zivilgesellschaft und Europarlament einsetzen.

Chapeau! Durch den Wechsel der Grünen von der Oppositions- auf die Regierungsbank scheint die Kritik am Freihandel zur offiziellen Politik der Bundesregierung geworden zu sein. Trotzdem bereitet der Grünen-Vorschlag Unbehagen. Die Anliegen der Gesellschaften des Globalen Südens finden keine Beachtung. Aber globale Handelsregeln, die ihre Interessen nicht respektieren, sind alles andere als fair. Es passt gut in den gegenwärtigen Zeitgeist. Europa First!

Der Artikel blendet aus, dass die EU-Handelspolitik seit Langem in der Kritik steht. Dies betrifft sowohl das Agieren bei Verhandlungen innerhalb der WTO als auch die Ausgestaltung bilateraler Abkommen. In der Hoffnung auf Zugang zum EU-Markt lassen Entwicklungsländer in Afrika, Südamerika und Südostasien ihre eigenen Märkte ungeschützt für EU-Exportinteressen. Kleinindustrien und Bäue­r:in­nen in Entwicklungsländern bleiben auf der Strecke – Arbeitsplätze gehen verloren, Hunger und Armut wachsen.


Die WTO erlaubt der EU, weiter mit Milliarden seine Landwirtschaft zu subventionieren, aber Indien wird nur ausnahmsweise erlaubt, von Bäue­r:in­nen Weizen aufzukaufen, um es in Armutsprogrammen zu verteilen. Dabei ist richtig: Entwicklungsländer stehen in einem multilateralen Handelssystem besser da, weil Entscheidungen einstimmig fallen müssen. Einzeln können sie ihre Interessen bei EU-Abkommen nicht durchsetzen.

Dagegen fordern Habeck/Dröge von der EU ein noch „mutigeres“, zur Not auch ein unilaterales Voranschreiten; sehr gerne im transatlantischen Bündnis. Dieser Ansatz ist nicht neu. Bereits die TTIP-Verhandlungen sollten für die USA und die EU die Blaupause für die Handelspolitik des 21. Jahrhunderts bilden. Neu an dem Vorschlag ist nur, dass er von den Grünen kommt. Die Autoren interessiert nicht, ob die Entwicklungsländer an der Weiterentwicklung globaler Standards beteiligt sind.

Die Ampel setzt die Politik der alten Bundesregierung fort: Pro forma wird weiterverhandelt, de facto ist Doha begraben.

Sie kommen in der neuen Welthandelsordnung der Grünen gar nicht vor beziehungsweise sind passive Empfänger von Regeln führender Industriestaaten. Symptomatisch: Habeck und Dröge verlieren kein Wort zu Doha: Mit einer 2001 in Katar gestarteten WTO-Verhandlungsrunde sollten Ausnahmen der neoliberalen Welthandelsregeln für Entwicklungsländer möglich werden, zum Beispiel verbesserter Marktschutz für Landwirtschaft und Industrien. Damit setzt die Ampel die Politik der alten Bundesregierung fort: Pro forma wird weiterverhandelt, de facto ist Doha begraben.

Apropos neue Verhandlungen im Rahmen der WTO: Unbemerkt von der Öffentlichkeit werden schon seit drei Jahren sogenannte „neue“ Themen verhandelt – allerdings ohne klarem Mandat der Welthandelsorganisation und ohne Transparenz. Verschiedene „Koalitionen der Willigen“ verhandeln jene Themen hinter verschlossenen Türen, für die sie die Gesamtheit der WTO-Mitglieder nicht gewinnen konnten. Eine dieser Verhandlungen soll zu einem Abkommen zum digitalen Handel führen. Das könnte ein Lackmustest für Robert Habeck werden. Als er noch in der Opposition war, stand Habeck einem solchen Abkommen sehr kritisch gegenüber, da es die Bemühungen der EU-Kommission beeinträchtigen könnte, die europäische Digitalwirtschaft unabhängiger von den dominanten Digitalplattformen zu machen.

Die Autoren werfen dem panasiatischen Handelsabkommen RCEP vor, keine Menschenrechtsstandards zu setzen. Sie selbst erwähnen die Menschenrechte bei ihrer Forderung nach Neuausrichtung der EU-Handelspolitik jedoch nicht. Dabei besteht für die EU dringender Handlungsbedarf. Seit Jahr(zehnt)en klafft bei der europäischen Menschenrechtspolitik eine enorme Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Dabei verpflichtet sich die EU im Lissabon-Vertrag, ihre gesamte Außenwirtschaftspolitik und damit auch die Handelspolitik menschenrechtsgeleitet auszurichten.


Menschenrechtsklausel wird gar nicht angewandt

Eine in fast allen europäischen Handelsabkommen enthaltene Menschenrechtsklausel wird nur sehr selektiv oder gar nicht angewandt. Besonders gravierend ist die Untätigkeit Brüssels beim Handelsabkommen mit Mexiko, das 2000 in Kraft trat. In dem Land werden die Menschenrechte mit Füßen getreten. Seit die Regierung den Drogenkartellen im Jahr 2006 den Krieg erklärt hat, gab es Hunderttausende Gewaltopfer. In keinem Land der Welt werden mehr Jour­na­lis­t*in­nen und Ak­ti­vis­t*in­nen ermordet.

Entsprechend problematisch sind die Verhandlungen für die Bundesregierung über ein neues EU-Mexiko-Abkommen. Für Außenministerin Annalena Baerbock, die mit dem Anspruch angetreten ist, die deutsche Außenpolitik feministisch auszurichten, ist ein solches Abkommen politisch brisant: In Mexiko gibt es die meisten Frauenmorde der Welt.

Noch ist offen, wohin sich die deutsche und europäische Handelspolitik entwickelt. Die Bundesregierung und ihr Wirtschaftsminister Habeck sind nicht einmal sechs Monate im Amt. Noch ist Zeit für Kurskorrekturen: Die noch andauernde WTO-Ministerkonferenz macht deutlich, wie dringend notwendig eine Reform des Welthandels ist. Will Habeck tatsächlich eine globale Handelsordnung unterstützen, in der – auf Kosten des Globalen Südens – die Wirtschaftsinteressen der führenden westlichen Industrienationen die Regeln setzen, oder wird er den Versuch unternehmen, eine multilaterale und ausgleichende Handelspolitik einzufordern?

GASTKOMMENTAR VON SVEN HILBIG & FRANCISCO MARÍ
Erster ist Jurist und bei Brot für die Welt verantwortlich für die Themen Handelspolitik und Umweltpolitik. Zuvor arbeitete er bei der Heinrich-Böll-Stiftung zu verschiedenen Themen an der Schnittstelle von Ökonomie und Ökologie. Von 2001 bis 2006 war er als Researcher und Rechtsberater für die brasilianische Menschenrechtsorganisation Global Justice, in Rio de Janeiro, tätig.
Der zweite ist Projektreferent bei Brot für die Welt.

 

 

 14.04.2022,   JUNGLE.WORLD    2022/15   Detlef zum Winkel
 
Die Eskalation im Ukraine-Krieg sollte nicht von außen befeuert werden


Auf der Suche nach dem verlorenen Verstand

Wenig deutet auf einen Waffenstillstand in der Ukraine hin. Die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen Russland und Nato-Staaten wächst.

Im Ukraine-Krieg rückt die Möglichkeit eines Waffenstillstands in immer weitere Ferne. Nachdem sich die russischen Truppen aus den Gebieten nördlich von Kiew hatten zurückziehen müssen, wird nun im Ostteil der Ukraine heftig gekämpft. Russland will dort den gesamten Donbass und möglicherweise auch die gesamte Schwarzmeerküste erobern. Mit jedem weiteren Tag wächst das Ausmaß der humanitären Katastrophe, die der Krieg anrichtet. Die Frage ist, ob es in dieser Situation gelingt, den Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien mehr Geltung zu verschaffen, als es bisher der Fall war. Damit ein Waffenstillstand eine Chance hätte, müsste man ihn allerdings erst einmal wollen.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat den von ihm angeordneten Überfall unter anderem damit begründet, dass er der Ukraine das Recht auf einen eigenen Staat streitig machte. Mehrfach betonte er in seiner Fernsehansprache vom 24. Februar, dass die heutige Ukraine »vollständig von Russland geschaffen« worden sei und »nie stabile Traditionen echter Staatlichkeit« gehabt habe. Es dürfte ihm schwerfallen, von diesem hohen Ross herunterzukommen, ohne hart auf dem Boden aufzusetzen. Selbst wenn es ihm gelänge, Russland Teile der Ostukraine einzuverleiben, müsste er den großrussischen Anspruch aufgeben, wonach das Nachbarland »ein unveräußerlicher Teil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unserer Religion« sei.

Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Ukraine einzugestehen, wäre demnach eine komplette Kehrtwende. Putin hat also ein starkes Motiv, die Situation offenzuhalten und den Krieg im Vertrauen auf die militärische Macht Russlands zu verlängern.
Auf der ukrainischen Seite wechselt die Haltung zu einem kurzfristigen Waffenstillstand nahezu täglich. Mal signalisiert Präsident Wolodymyr Selenskyj die Bereitschaft, auf einen Nato-Beitritt zu verzichten und über die Neutralität der Ukraine zu verhandeln. Tags darauf wirft er Angela Merkel und Nicolas Sarkozy vor, sie hätten 2008 einen Beitritt der Ukraine zur Nato verhindert und seien daher mitschuldig an der russischen Aggression. Damit bringt er zum Ausdruck, dass es, mindestens langfristig, das Ziel der Ukraine bleibt, Mitglied in dem Militärbündnis zu werden, um dort die Rolle eines Vorpostens gegen Russland zu übernehmen.

Der Krieg lenkt alle Anstrengungen auf die Bekämpfung des Feindes und duldet keine moralischen Skrupel.

Beide Kriegsparteien sehen bisher keinen Vorteil in einer Einstellung der Kampfhandlungen. Darin werden sie von außen bestärkt. China vermeidet alles, was den Eindruck einer Kritik am russischen Vorgehen wecken könnte. Die Nato-Staaten sind derart intensiv mit einer »Zeitenwende« beschäftigt – Pazifismus bereuen, Russland sanktionieren –, dass kaum jemand ernsthaft darüber nachdenkt, wie man aus der Kriegshysterie wieder herauskommt. Derartige Initiativen lässt »unsere hundertprozentige Unterstützung« (Anna­lena Baerbock) für die Ukraine nicht zu.

Diese Situation ist typisch für Krieg, der sich aus sich selbst heraus zu reproduzieren beginnt. Er duldet keine Aufweichung der Kampfmoral durch Friedensangebote oder auch nur moralische Skrupel. Es ist bezeichnend, dass die ältesten Ladenhüter des Militarismus binnen kürzester Zeit eine neue Konjunktur erlebt haben, etwa dass den Krieg vorbereiten müsse, wer den Frieden will, oder dass der Krieg »endlich wieder« der Vater aller Dinge sei, wie es in vielen Kommentaren derzeit zu lesen ist. Dabei ist der Krieg vor allem der Vater des Krieges.

Darum, wie es weitergeht – Begrenzung, Eindämmung, Waffenstillstand oder Fortsetzung des Kriegs bis zum Sieg über den Feind –, wird nun heftig gerungen. Aus der russischen Propaganda wurden Pamphlete bekannt, die nur als faschistisch zu bezeichnen sind. Ein Gastbeitrag in der größten staatlichen Nachrichtenagentur RIA Novosti rief kürzlich dazu auf, die »Entnazifizierung« der Ukraine müsse auch eine »Entukrainisierung« bedeuten, die Bevölkerung müsse bestraft und ideologisch umerzogen werden. Nationalistische Extremisten wie der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow sind dagegen, dass überhaupt mit der ukrainischen Regierung verhandelt wird: Man müsse zu Ende bringen, was man begonnen habe. Zahlreiche Augenzeugen aus den besetzten Gebieten berichten über von russischen Soldaten verübte Morde an der Zivilbevölkerung, auch Kadyrows Soldaten waren an Ort und Stelle. Die russische Armee streitet ab, solche Vergehen begangen zu haben. Wäre das ernst ­gemeint, müsste sie eine Untersuchung über die erhobenen Vorwürfe einleiten und sich von Kriegsverbrechern trennen, deren mörderisches Treiben sie nicht zum ersten Mal gern in Anspruch nimmt.

Gleichzeitig werden die Stimmen ukrainischer Scharfmacher und ihrer deutschen Unterstützer immer lauter und schriller, allen voran die des ukrainischen Botschafters in Berlin, Andrij Melnyk. Er bezeichnet gleich ein halbes Jahrhundert europäischer Politik gegenüber Russland, die dem Appeasement gefrönt habe, als Fehler. Dafür macht er namentlich führende Politiker der SPD, CDU und FDP verantwortlich, während die Grünen bisher von seinen Attacken verschont blieben, obwohl sie doch mit der aus ukrainischer Sicht so schädlichen Friedens­bewegung engstens verbunden waren.

Der Grund für diese freundliche Behandlung ist nicht ersichtlich. Liegt es an Ralf Fücks, einem altgedienten Funktionär der Grünen, der sich in einem Gastbeitrag für die FAZ für eine militärische Konfliktlösung ausspricht? Fücks war jüngst in die ukrainische Hauptstadt Kiew gereist. Von dort brachte er die Botschaft mit, zu einem Waffenstillstand sei man in der Ukraine nicht bereit; dafür sei schon zu viel Blut vergossen worden. »Und sie (die Ukrainer, Anm. d. Red.) trauen sich zu, diesen Krieg zu gewinnen, wenn der Westen sie vorbehaltlos unterstützt.« Fücks glaubt, im Kanzleramt dominiere »die Sorge vor einer militärischen Eskalation. Dabei zeigt alle Erfahrung, dass Russland sich nur durch eine Po­litik der Stärke abschrecken lässt.«
Der Politiker, der schon in seiner maoistischen Jugend gegen Russland eiferte, ist mit seiner Einstellung, Stand jetzt, nicht repräsentativ für die Grünen, wohl aber für eine Reihe von Mitgliedern des ehemaligen KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland), die in die Grünen eintraten, ohne sich durch besondere Naturliebe auszuzeichnen. Sie werden heutzutage von Nato-Falken hofiert; das haben Kritiker des KBW übrigens schon vor 40 Jahren erwartet.

Mit der Aussage »Alle Russen sind gerade unsere Feinde« erschreckte wiederum Melnyk seinen wohlmeinenden Interviewer bei der FAZ. Nach den Gräueltaten von Butscha dürfe die Weltöffentlichkeit »uns nicht mehr dazu zwingen, diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden«, sagte er. »Denn eine Waffenruhe würde bedeuten, dass Hunderte andere Städte und Dörfer womöglich ein ähnlich schreckliches Schicksal erwartet.«

Den Krieg fort­setzen, um Kriegsverbrechen zu verhindern – auf die Rationalität der Argumente kommt es nicht mehr an. Es zählt nur noch, auf der richtigen Seite zu s­tehen.

Für ihre Verteidigung braucht die Ukraine die politische, finanzielle und militärische Unterstützung der Nato-Staaten. Für einen militärischen Sieg braucht sie mehr Unterstützung, viel mehr Geld und »Waffen, Waffen, Waffen«, wie es der ukrainische Außen­minister Dmytro Kuleba zuletzt in Brüssel vortrug. Schließlich wird die Ukra­ine gegen die russische Nuklearmacht auch westliche nukleare Abschreckung fordern. Die Nato-Staaten werden dadurch zu Kriegsparteien, ohne selbst kämpfen zu müssen, das ist bequem.

Aber wenn es schiefgeht, also der Ukraine-Krieg in einen offenen Krieg der Nato gegen Russland oder einen Atomkrieg umschlägt, wird sich für alle die Frage nach dem Sieger erüb­rigen. Wir haben es nicht gewollt, kann der Westen dann sagen, Putin war schuld! Richtig, aber dass das Ergebnis nicht absehbar war, wird man kaum behaupten können. Wer diese bisher langsame, aber stetige Eskalation unterbrechen will, müsste nicht nur Russland sanktionieren, sondern auch damit aufhören, die Ukraine von einer Kornkammer in eine Waffenkammer zu verwandeln.

Es braucht ein klares Signal, dass ein dritter Weltkrieg keine Option ist. Wie üblich dürfte eine Reduzierung der Zahlungen am ehesten verstanden werden. Wer den Frieden will, darf nicht den Krieg bezahlen.  

 

 

Bundeskanzler Olaf Scholz
Bundeskanzleramt
Willy-Brandt-Str. 1
10557 Berlin

21.04.2022

Offener Brief

Deeskalation jetzt!
Dem Schutz der Bevölkerung Vorrang einräumen!

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,
wir sind Menschen unterschiedlicher Herkunft, politischer Einstellungen und Positionen gegenüber
der Politik der NATO, Russlands und der Bundesregierung. Wir alle verurteilen zutiefst diesen
durch nichts zu rechtfertigenden Krieg Russlands in der Ukraine. Uns eint, dass wir gemeinsam vor
einer unbeherrschbaren Ausweitung des Krieges mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Welt
warnen und uns gegen eine Verlängerung des Krieges und Blutvergießens mit Waffenlieferungen
einsetzen.
Mit der Lieferung von Waffen haben sich Deutschland und weitere NATO-Staaten de facto zur
Kriegspartei gemacht. Und somit ist die Ukraine auch zum Schlachtfeld für den sich seit Jahren
zuspitzenden Konflikt zwischen der NATO und Russland über die Sicherheitsordnung in Europa
geworden.
Dieser brutale Krieg mitten in Europa wird auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung
ausgetragen. Der nun entfesselte Wirtschaftskrieg gefährdet gleichzeitig die Versorgung der
Menschen in Russland und vieler armer Länder weltweit.
Berichte über Kriegsverbrechen häufen sich. Auch wenn sie unter den herrschenden Bedingungen
schwer zu verifizieren sind, so ist davon auszugehen, dass in diesem Krieg, wie in anderen zuvor,
Gräueltaten begangen werden und die Brutalität mit seiner Dauer zunimmt. Ein Grund mehr, ihn
rasch zu beenden.
Der Krieg birgt die reale Gefahr einer Ausweitung und nicht mehr zu kontrollierenden militärischen
Eskalation ‒ ähnlich der im Ersten Weltkrieg. Es werden Rote Linien gezogen, die dann von Akteuren
und Hasardeuren auf beiden Seiten übertreten werden, und die Spirale ist wieder eine Stufe weiter.
Wenn Verantwortung tragende Menschen wie Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, diese
Entwicklung nicht stoppen, steht am Ende wieder der ganz große Krieg. Nur diesmal mit
Atomwaffen, weitreichender Verwüstung und dem Ende der menschlichen Zivilisation. Die
Vermeidung von immer mehr Opfern, Zerstörungen und einer weiteren gefährlichen Eskalation
muss daher absoluten Vorrang haben.
Trotz zwischenzeitlicher Erfolgsmeldungen der ukrainischen Armee: Sie ist der russischen weit
unterlegen und hat kaum eine Chance, diesen Krieg zu gewinnen. Der Preis eines längeren
militärischen Widerstands wird ‒ unabhängig von einem möglichen Erfolg ‒ noch mehr zerstörte
Städte und Dörfer und noch größere Opfer unter der ukrainischen Bevölkerung sein.
Waffenlieferungen und militärische Unterstützung durch die NATO verlängern den Krieg und
rücken eine diplomatische Lösung in weite Ferne.
Es ist richtig, die Forderung „Die Waffen nieder!“ in erste Linie an die russische Seite zu stellen.
Doch müssen gleichzeitig weitere Schritte unternommen werden, das Blutvergießen und die
Vertreibung der Menschen so schnell wie möglich zu beenden.
So bitter das Zurückweichen vor völkerrechtswidriger Gewalt auch ist, es ist die einzig realistische
und humane Alternative zu einem langen zermürbenden Krieg. Der erste und wichtigste Schritt
dazu wäre ein Stopp aller Waffenlieferungen in die Ukraine, verbunden mit einem
auszuhandelnden sofortigen Waffenstillstand.
Wir fordern daher die Bundesregierung, die EU- und NATO-Staaten auf, die Waffenlieferungen an
die ukrainischen Truppen einzustellen und die Regierung in Kiew zu ermutigen, den militärischen
Widerstand ‒ gegen die Zusicherung von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine
politische Lösung ‒ zu beenden. Die bereits von Präsident Selenskyi ins Gespräch gebrachten
Angebote an Moskau ‒ mögliche Neutralität, Einigung über die Anerkennung der Krim und
Referenden über den zukünftigen Status der Donbass-Republiken ‒ bieten dazu eine reelle
Chance.
Verhandlungen über den raschen Rückzug der russischen Truppen und die Wiederherstellung der
territorialen Integrität der Ukraine sollten durch eigene Vorschläge der NATO-Staaten bezüglich
berechtigter Sicherheitsinteressen Russlands und seinen Nachbarstaaten unterstützt werden.
Um jetzt weitere massive Zerstörungen der Städte so schnell wie möglich zu stoppen und
Waffenstillstandsverhandlungen zu beschleunigen, sollte die Bundesregierung anregen, dass sich
die derzeit belagerten, am meisten gefährdeten und bisher weitgehend unzerstörten Städte, wie
Kiew, Charkiw und Odessa zu „unverteidigten Städten“ gemäß dem I. Zusatzprotokoll des Genfer
Abkommen von 1949 erklären. Durch das bereits in der Haager Landkriegsordnung definierte
Konzept konnten im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Städte ihre Verwüstung verhindern.
Die vorherrschende Kriegslogik muss durch eine mutige Friedenslogik ersetzt und eine neue
europäische und globale Friedensarchitektur unter Einschluss Russlands und Chinas geschaffen
werden. Unser Land darf hier nicht am Rand stehen, sondern muss eine aktive Rolle einnehmen.

Hochachtungsvoll,
PD Dr. Johannes M. Becker, Politologe, ehem. Geschäftsführer des Zentrums für Konfliktforschung in Marburg
Daniela Dahn, Journalistin, Schriftstellerin und Publizistin, Pen-Mitglied
Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist, Internationale Liga für Menschenrechte
Jürgen Grässlin, Bundessprecher DFG-VK und Aktion Aufschrei ‒ Stoppt den Waffenhandel!
Joachim Guilliard, Publizist
Dr. Luc Jochimsen, Journalistin, Fernsehredakteurin, MdB 2005-2013
Christoph Krämer, Chirurg, Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges IPPNW (deutsche Sektion)
Prof. Dr. Karin Kulow, Politikwissenschaftlerin
Dr. Helmut Lohrer, Arzt, International Councilor, IPPNW (deutsche Sektion)
Prof. Dr. Mohssen Massarrat, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler
Dr. Hans Misselwitz, Grundwertekommission der SPD
Ruth Misselwitz, evangelische Theologin, ehem. Vorsitzende von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste
Prof. Dr. Norman Paech, Völkerrechtler, ehem. Mitglied des Deutschen Bundestages
Prof. Dr. Werner Ruf, Politikwissenschaftler und Soziologe
Prof. Dr. Gert Sommer, Psychologe, ehem. Direktoriummitglied des Zentrums für Konfliktforschung in Marburg
Hans Christoph Graf von Sponeck, ehem. Beigeordneter Generalsekretär der UNO
Dr. Antje Vollmer, ehem. Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages
Konstantin Wecker, Musiker, Komponist und Autor