Unfairer Welthandel
Robert Habeck und Katharina Dröge behaupten, für einen fairen Welthandel einzustehen. In Wirklichkeit setzen sie die Politik auf Kosten des Globalen Südens fort.

Seit Langem steht die EU-Handelspolitik in der Kritik  (17.06.22)

Robert Habeck und Katharina Dröge wollen die europäische Handels­agenda neu gestalten. Ein „Weiter so“ dürfe es nicht geben. Profit soll nicht mehr der bestimmende Faktor dafür sein, welche Waren von A nach B transportiert werden. Vielmehr sollen Nachhaltigkeit und Fairness zukünftig die Fahrtrichtung vorgeben. Europa müsse aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und sich bei Handelsabkommen für mehr Transparenz und Partizipation von Zivilgesellschaft und Europarlament einsetzen.

Chapeau! Durch den Wechsel der Grünen von der Oppositions- auf die Regierungsbank scheint die Kritik am Freihandel zur offiziellen Politik der Bundesregierung geworden zu sein. Trotzdem bereitet der Grünen-Vorschlag Unbehagen. Die Anliegen der Gesellschaften des Globalen Südens finden keine Beachtung. Aber globale Handelsregeln, die ihre Interessen nicht respektieren, sind alles andere als fair. Es passt gut in den gegenwärtigen Zeitgeist. Europa First!

Der Artikel blendet aus, dass die EU-Handelspolitik seit Langem in der Kritik steht. Dies betrifft sowohl das Agieren bei Verhandlungen innerhalb der WTO als auch die Ausgestaltung bilateraler Abkommen. In der Hoffnung auf Zugang zum EU-Markt lassen Entwicklungsländer in Afrika, Südamerika und Südostasien ihre eigenen Märkte ungeschützt für EU-Exportinteressen. Kleinindustrien und Bäue­r:in­nen in Entwicklungsländern bleiben auf der Strecke – Arbeitsplätze gehen verloren, Hunger und Armut wachsen.


Die WTO erlaubt der EU, weiter mit Milliarden seine Landwirtschaft zu subventionieren, aber Indien wird nur ausnahmsweise erlaubt, von Bäue­r:in­nen Weizen aufzukaufen, um es in Armutsprogrammen zu verteilen. Dabei ist richtig: Entwicklungsländer stehen in einem multilateralen Handelssystem besser da, weil Entscheidungen einstimmig fallen müssen. Einzeln können sie ihre Interessen bei EU-Abkommen nicht durchsetzen.

Dagegen fordern Habeck/Dröge von der EU ein noch „mutigeres“, zur Not auch ein unilaterales Voranschreiten; sehr gerne im transatlantischen Bündnis. Dieser Ansatz ist nicht neu. Bereits die TTIP-Verhandlungen sollten für die USA und die EU die Blaupause für die Handelspolitik des 21. Jahrhunderts bilden. Neu an dem Vorschlag ist nur, dass er von den Grünen kommt. Die Autoren interessiert nicht, ob die Entwicklungsländer an der Weiterentwicklung globaler Standards beteiligt sind.

Die Ampel setzt die Politik der alten Bundesregierung fort: Pro forma wird weiterverhandelt, de facto ist Doha begraben.

Sie kommen in der neuen Welthandelsordnung der Grünen gar nicht vor beziehungsweise sind passive Empfänger von Regeln führender Industriestaaten. Symptomatisch: Habeck und Dröge verlieren kein Wort zu Doha: Mit einer 2001 in Katar gestarteten WTO-Verhandlungsrunde sollten Ausnahmen der neoliberalen Welthandelsregeln für Entwicklungsländer möglich werden, zum Beispiel verbesserter Marktschutz für Landwirtschaft und Industrien. Damit setzt die Ampel die Politik der alten Bundesregierung fort: Pro forma wird weiterverhandelt, de facto ist Doha begraben.

Apropos neue Verhandlungen im Rahmen der WTO: Unbemerkt von der Öffentlichkeit werden schon seit drei Jahren sogenannte „neue“ Themen verhandelt – allerdings ohne klarem Mandat der Welthandelsorganisation und ohne Transparenz. Verschiedene „Koalitionen der Willigen“ verhandeln jene Themen hinter verschlossenen Türen, für die sie die Gesamtheit der WTO-Mitglieder nicht gewinnen konnten. Eine dieser Verhandlungen soll zu einem Abkommen zum digitalen Handel führen. Das könnte ein Lackmustest für Robert Habeck werden. Als er noch in der Opposition war, stand Habeck einem solchen Abkommen sehr kritisch gegenüber, da es die Bemühungen der EU-Kommission beeinträchtigen könnte, die europäische Digitalwirtschaft unabhängiger von den dominanten Digitalplattformen zu machen.

Die Autoren werfen dem panasiatischen Handelsabkommen RCEP vor, keine Menschenrechtsstandards zu setzen. Sie selbst erwähnen die Menschenrechte bei ihrer Forderung nach Neuausrichtung der EU-Handelspolitik jedoch nicht. Dabei besteht für die EU dringender Handlungsbedarf. Seit Jahr(zehnt)en klafft bei der europäischen Menschenrechtspolitik eine enorme Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Dabei verpflichtet sich die EU im Lissabon-Vertrag, ihre gesamte Außenwirtschaftspolitik und damit auch die Handelspolitik menschenrechtsgeleitet auszurichten.


Menschenrechtsklausel wird gar nicht angewandt

Eine in fast allen europäischen Handelsabkommen enthaltene Menschenrechtsklausel wird nur sehr selektiv oder gar nicht angewandt. Besonders gravierend ist die Untätigkeit Brüssels beim Handelsabkommen mit Mexiko, das 2000 in Kraft trat. In dem Land werden die Menschenrechte mit Füßen getreten. Seit die Regierung den Drogenkartellen im Jahr 2006 den Krieg erklärt hat, gab es Hunderttausende Gewaltopfer. In keinem Land der Welt werden mehr Jour­na­lis­t*in­nen und Ak­ti­vis­t*in­nen ermordet.

Entsprechend problematisch sind die Verhandlungen für die Bundesregierung über ein neues EU-Mexiko-Abkommen. Für Außenministerin Annalena Baerbock, die mit dem Anspruch angetreten ist, die deutsche Außenpolitik feministisch auszurichten, ist ein solches Abkommen politisch brisant: In Mexiko gibt es die meisten Frauenmorde der Welt.

Noch ist offen, wohin sich die deutsche und europäische Handelspolitik entwickelt. Die Bundesregierung und ihr Wirtschaftsminister Habeck sind nicht einmal sechs Monate im Amt. Noch ist Zeit für Kurskorrekturen: Die noch andauernde WTO-Ministerkonferenz macht deutlich, wie dringend notwendig eine Reform des Welthandels ist. Will Habeck tatsächlich eine globale Handelsordnung unterstützen, in der – auf Kosten des Globalen Südens – die Wirtschaftsinteressen der führenden westlichen Industrienationen die Regeln setzen, oder wird er den Versuch unternehmen, eine multilaterale und ausgleichende Handelspolitik einzufordern?

GASTKOMMENTAR VON SVEN HILBIG & FRANCISCO MARÍ
Erster ist Jurist und bei Brot für die Welt verantwortlich für die Themen Handelspolitik und Umweltpolitik. Zuvor arbeitete er bei der Heinrich-Böll-Stiftung zu verschiedenen Themen an der Schnittstelle von Ökonomie und Ökologie. Von 2001 bis 2006 war er als Researcher und Rechtsberater für die brasilianische Menschenrechtsorganisation Global Justice, in Rio de Janeiro, tätig.
Der zweite ist Projektreferent bei Brot für die Welt.

 

 

 14.04.2022,   JUNGLE.WORLD    2022/15   Detlef zum Winkel
 
Die Eskalation im Ukraine-Krieg sollte nicht von außen befeuert werden


Auf der Suche nach dem verlorenen Verstand

Wenig deutet auf einen Waffenstillstand in der Ukraine hin. Die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen Russland und Nato-Staaten wächst.

Im Ukraine-Krieg rückt die Möglichkeit eines Waffenstillstands in immer weitere Ferne. Nachdem sich die russischen Truppen aus den Gebieten nördlich von Kiew hatten zurückziehen müssen, wird nun im Ostteil der Ukraine heftig gekämpft. Russland will dort den gesamten Donbass und möglicherweise auch die gesamte Schwarzmeerküste erobern. Mit jedem weiteren Tag wächst das Ausmaß der humanitären Katastrophe, die der Krieg anrichtet. Die Frage ist, ob es in dieser Situation gelingt, den Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien mehr Geltung zu verschaffen, als es bisher der Fall war. Damit ein Waffenstillstand eine Chance hätte, müsste man ihn allerdings erst einmal wollen.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat den von ihm angeordneten Überfall unter anderem damit begründet, dass er der Ukraine das Recht auf einen eigenen Staat streitig machte. Mehrfach betonte er in seiner Fernsehansprache vom 24. Februar, dass die heutige Ukraine »vollständig von Russland geschaffen« worden sei und »nie stabile Traditionen echter Staatlichkeit« gehabt habe. Es dürfte ihm schwerfallen, von diesem hohen Ross herunterzukommen, ohne hart auf dem Boden aufzusetzen. Selbst wenn es ihm gelänge, Russland Teile der Ostukraine einzuverleiben, müsste er den großrussischen Anspruch aufgeben, wonach das Nachbarland »ein unveräußerlicher Teil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unserer Religion« sei.

Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Ukraine einzugestehen, wäre demnach eine komplette Kehrtwende. Putin hat also ein starkes Motiv, die Situation offenzuhalten und den Krieg im Vertrauen auf die militärische Macht Russlands zu verlängern.
Auf der ukrainischen Seite wechselt die Haltung zu einem kurzfristigen Waffenstillstand nahezu täglich. Mal signalisiert Präsident Wolodymyr Selenskyj die Bereitschaft, auf einen Nato-Beitritt zu verzichten und über die Neutralität der Ukraine zu verhandeln. Tags darauf wirft er Angela Merkel und Nicolas Sarkozy vor, sie hätten 2008 einen Beitritt der Ukraine zur Nato verhindert und seien daher mitschuldig an der russischen Aggression. Damit bringt er zum Ausdruck, dass es, mindestens langfristig, das Ziel der Ukraine bleibt, Mitglied in dem Militärbündnis zu werden, um dort die Rolle eines Vorpostens gegen Russland zu übernehmen.

Der Krieg lenkt alle Anstrengungen auf die Bekämpfung des Feindes und duldet keine moralischen Skrupel.

Beide Kriegsparteien sehen bisher keinen Vorteil in einer Einstellung der Kampfhandlungen. Darin werden sie von außen bestärkt. China vermeidet alles, was den Eindruck einer Kritik am russischen Vorgehen wecken könnte. Die Nato-Staaten sind derart intensiv mit einer »Zeitenwende« beschäftigt – Pazifismus bereuen, Russland sanktionieren –, dass kaum jemand ernsthaft darüber nachdenkt, wie man aus der Kriegshysterie wieder herauskommt. Derartige Initiativen lässt »unsere hundertprozentige Unterstützung« (Anna­lena Baerbock) für die Ukraine nicht zu.

Diese Situation ist typisch für Krieg, der sich aus sich selbst heraus zu reproduzieren beginnt. Er duldet keine Aufweichung der Kampfmoral durch Friedensangebote oder auch nur moralische Skrupel. Es ist bezeichnend, dass die ältesten Ladenhüter des Militarismus binnen kürzester Zeit eine neue Konjunktur erlebt haben, etwa dass den Krieg vorbereiten müsse, wer den Frieden will, oder dass der Krieg »endlich wieder« der Vater aller Dinge sei, wie es in vielen Kommentaren derzeit zu lesen ist. Dabei ist der Krieg vor allem der Vater des Krieges.

Darum, wie es weitergeht – Begrenzung, Eindämmung, Waffenstillstand oder Fortsetzung des Kriegs bis zum Sieg über den Feind –, wird nun heftig gerungen. Aus der russischen Propaganda wurden Pamphlete bekannt, die nur als faschistisch zu bezeichnen sind. Ein Gastbeitrag in der größten staatlichen Nachrichtenagentur RIA Novosti rief kürzlich dazu auf, die »Entnazifizierung« der Ukraine müsse auch eine »Entukrainisierung« bedeuten, die Bevölkerung müsse bestraft und ideologisch umerzogen werden. Nationalistische Extremisten wie der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow sind dagegen, dass überhaupt mit der ukrainischen Regierung verhandelt wird: Man müsse zu Ende bringen, was man begonnen habe. Zahlreiche Augenzeugen aus den besetzten Gebieten berichten über von russischen Soldaten verübte Morde an der Zivilbevölkerung, auch Kadyrows Soldaten waren an Ort und Stelle. Die russische Armee streitet ab, solche Vergehen begangen zu haben. Wäre das ernst ­gemeint, müsste sie eine Untersuchung über die erhobenen Vorwürfe einleiten und sich von Kriegsverbrechern trennen, deren mörderisches Treiben sie nicht zum ersten Mal gern in Anspruch nimmt.

Gleichzeitig werden die Stimmen ukrainischer Scharfmacher und ihrer deutschen Unterstützer immer lauter und schriller, allen voran die des ukrainischen Botschafters in Berlin, Andrij Melnyk. Er bezeichnet gleich ein halbes Jahrhundert europäischer Politik gegenüber Russland, die dem Appeasement gefrönt habe, als Fehler. Dafür macht er namentlich führende Politiker der SPD, CDU und FDP verantwortlich, während die Grünen bisher von seinen Attacken verschont blieben, obwohl sie doch mit der aus ukrainischer Sicht so schädlichen Friedens­bewegung engstens verbunden waren.

Der Grund für diese freundliche Behandlung ist nicht ersichtlich. Liegt es an Ralf Fücks, einem altgedienten Funktionär der Grünen, der sich in einem Gastbeitrag für die FAZ für eine militärische Konfliktlösung ausspricht? Fücks war jüngst in die ukrainische Hauptstadt Kiew gereist. Von dort brachte er die Botschaft mit, zu einem Waffenstillstand sei man in der Ukraine nicht bereit; dafür sei schon zu viel Blut vergossen worden. »Und sie (die Ukrainer, Anm. d. Red.) trauen sich zu, diesen Krieg zu gewinnen, wenn der Westen sie vorbehaltlos unterstützt.« Fücks glaubt, im Kanzleramt dominiere »die Sorge vor einer militärischen Eskalation. Dabei zeigt alle Erfahrung, dass Russland sich nur durch eine Po­litik der Stärke abschrecken lässt.«
Der Politiker, der schon in seiner maoistischen Jugend gegen Russland eiferte, ist mit seiner Einstellung, Stand jetzt, nicht repräsentativ für die Grünen, wohl aber für eine Reihe von Mitgliedern des ehemaligen KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland), die in die Grünen eintraten, ohne sich durch besondere Naturliebe auszuzeichnen. Sie werden heutzutage von Nato-Falken hofiert; das haben Kritiker des KBW übrigens schon vor 40 Jahren erwartet.

Mit der Aussage »Alle Russen sind gerade unsere Feinde« erschreckte wiederum Melnyk seinen wohlmeinenden Interviewer bei der FAZ. Nach den Gräueltaten von Butscha dürfe die Weltöffentlichkeit »uns nicht mehr dazu zwingen, diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden«, sagte er. »Denn eine Waffenruhe würde bedeuten, dass Hunderte andere Städte und Dörfer womöglich ein ähnlich schreckliches Schicksal erwartet.«

Den Krieg fort­setzen, um Kriegsverbrechen zu verhindern – auf die Rationalität der Argumente kommt es nicht mehr an. Es zählt nur noch, auf der richtigen Seite zu s­tehen.

Für ihre Verteidigung braucht die Ukraine die politische, finanzielle und militärische Unterstützung der Nato-Staaten. Für einen militärischen Sieg braucht sie mehr Unterstützung, viel mehr Geld und »Waffen, Waffen, Waffen«, wie es der ukrainische Außen­minister Dmytro Kuleba zuletzt in Brüssel vortrug. Schließlich wird die Ukra­ine gegen die russische Nuklearmacht auch westliche nukleare Abschreckung fordern. Die Nato-Staaten werden dadurch zu Kriegsparteien, ohne selbst kämpfen zu müssen, das ist bequem.

Aber wenn es schiefgeht, also der Ukraine-Krieg in einen offenen Krieg der Nato gegen Russland oder einen Atomkrieg umschlägt, wird sich für alle die Frage nach dem Sieger erüb­rigen. Wir haben es nicht gewollt, kann der Westen dann sagen, Putin war schuld! Richtig, aber dass das Ergebnis nicht absehbar war, wird man kaum behaupten können. Wer diese bisher langsame, aber stetige Eskalation unterbrechen will, müsste nicht nur Russland sanktionieren, sondern auch damit aufhören, die Ukraine von einer Kornkammer in eine Waffenkammer zu verwandeln.

Es braucht ein klares Signal, dass ein dritter Weltkrieg keine Option ist. Wie üblich dürfte eine Reduzierung der Zahlungen am ehesten verstanden werden. Wer den Frieden will, darf nicht den Krieg bezahlen.  

 

 

Bundeskanzler Olaf Scholz
Bundeskanzleramt
Willy-Brandt-Str. 1
10557 Berlin

21.04.2022

Offener Brief

Deeskalation jetzt!
Dem Schutz der Bevölkerung Vorrang einräumen!

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,
wir sind Menschen unterschiedlicher Herkunft, politischer Einstellungen und Positionen gegenüber
der Politik der NATO, Russlands und der Bundesregierung. Wir alle verurteilen zutiefst diesen
durch nichts zu rechtfertigenden Krieg Russlands in der Ukraine. Uns eint, dass wir gemeinsam vor
einer unbeherrschbaren Ausweitung des Krieges mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Welt
warnen und uns gegen eine Verlängerung des Krieges und Blutvergießens mit Waffenlieferungen
einsetzen.
Mit der Lieferung von Waffen haben sich Deutschland und weitere NATO-Staaten de facto zur
Kriegspartei gemacht. Und somit ist die Ukraine auch zum Schlachtfeld für den sich seit Jahren
zuspitzenden Konflikt zwischen der NATO und Russland über die Sicherheitsordnung in Europa
geworden.
Dieser brutale Krieg mitten in Europa wird auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung
ausgetragen. Der nun entfesselte Wirtschaftskrieg gefährdet gleichzeitig die Versorgung der
Menschen in Russland und vieler armer Länder weltweit.
Berichte über Kriegsverbrechen häufen sich. Auch wenn sie unter den herrschenden Bedingungen
schwer zu verifizieren sind, so ist davon auszugehen, dass in diesem Krieg, wie in anderen zuvor,
Gräueltaten begangen werden und die Brutalität mit seiner Dauer zunimmt. Ein Grund mehr, ihn
rasch zu beenden.
Der Krieg birgt die reale Gefahr einer Ausweitung und nicht mehr zu kontrollierenden militärischen
Eskalation ‒ ähnlich der im Ersten Weltkrieg. Es werden Rote Linien gezogen, die dann von Akteuren
und Hasardeuren auf beiden Seiten übertreten werden, und die Spirale ist wieder eine Stufe weiter.
Wenn Verantwortung tragende Menschen wie Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, diese
Entwicklung nicht stoppen, steht am Ende wieder der ganz große Krieg. Nur diesmal mit
Atomwaffen, weitreichender Verwüstung und dem Ende der menschlichen Zivilisation. Die
Vermeidung von immer mehr Opfern, Zerstörungen und einer weiteren gefährlichen Eskalation
muss daher absoluten Vorrang haben.
Trotz zwischenzeitlicher Erfolgsmeldungen der ukrainischen Armee: Sie ist der russischen weit
unterlegen und hat kaum eine Chance, diesen Krieg zu gewinnen. Der Preis eines längeren
militärischen Widerstands wird ‒ unabhängig von einem möglichen Erfolg ‒ noch mehr zerstörte
Städte und Dörfer und noch größere Opfer unter der ukrainischen Bevölkerung sein.
Waffenlieferungen und militärische Unterstützung durch die NATO verlängern den Krieg und
rücken eine diplomatische Lösung in weite Ferne.
Es ist richtig, die Forderung „Die Waffen nieder!“ in erste Linie an die russische Seite zu stellen.
Doch müssen gleichzeitig weitere Schritte unternommen werden, das Blutvergießen und die
Vertreibung der Menschen so schnell wie möglich zu beenden.
So bitter das Zurückweichen vor völkerrechtswidriger Gewalt auch ist, es ist die einzig realistische
und humane Alternative zu einem langen zermürbenden Krieg. Der erste und wichtigste Schritt
dazu wäre ein Stopp aller Waffenlieferungen in die Ukraine, verbunden mit einem
auszuhandelnden sofortigen Waffenstillstand.
Wir fordern daher die Bundesregierung, die EU- und NATO-Staaten auf, die Waffenlieferungen an
die ukrainischen Truppen einzustellen und die Regierung in Kiew zu ermutigen, den militärischen
Widerstand ‒ gegen die Zusicherung von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine
politische Lösung ‒ zu beenden. Die bereits von Präsident Selenskyi ins Gespräch gebrachten
Angebote an Moskau ‒ mögliche Neutralität, Einigung über die Anerkennung der Krim und
Referenden über den zukünftigen Status der Donbass-Republiken ‒ bieten dazu eine reelle
Chance.
Verhandlungen über den raschen Rückzug der russischen Truppen und die Wiederherstellung der
territorialen Integrität der Ukraine sollten durch eigene Vorschläge der NATO-Staaten bezüglich
berechtigter Sicherheitsinteressen Russlands und seinen Nachbarstaaten unterstützt werden.
Um jetzt weitere massive Zerstörungen der Städte so schnell wie möglich zu stoppen und
Waffenstillstandsverhandlungen zu beschleunigen, sollte die Bundesregierung anregen, dass sich
die derzeit belagerten, am meisten gefährdeten und bisher weitgehend unzerstörten Städte, wie
Kiew, Charkiw und Odessa zu „unverteidigten Städten“ gemäß dem I. Zusatzprotokoll des Genfer
Abkommen von 1949 erklären. Durch das bereits in der Haager Landkriegsordnung definierte
Konzept konnten im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Städte ihre Verwüstung verhindern.
Die vorherrschende Kriegslogik muss durch eine mutige Friedenslogik ersetzt und eine neue
europäische und globale Friedensarchitektur unter Einschluss Russlands und Chinas geschaffen
werden. Unser Land darf hier nicht am Rand stehen, sondern muss eine aktive Rolle einnehmen.

Hochachtungsvoll,
PD Dr. Johannes M. Becker, Politologe, ehem. Geschäftsführer des Zentrums für Konfliktforschung in Marburg
Daniela Dahn, Journalistin, Schriftstellerin und Publizistin, Pen-Mitglied
Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist, Internationale Liga für Menschenrechte
Jürgen Grässlin, Bundessprecher DFG-VK und Aktion Aufschrei ‒ Stoppt den Waffenhandel!
Joachim Guilliard, Publizist
Dr. Luc Jochimsen, Journalistin, Fernsehredakteurin, MdB 2005-2013
Christoph Krämer, Chirurg, Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges IPPNW (deutsche Sektion)
Prof. Dr. Karin Kulow, Politikwissenschaftlerin
Dr. Helmut Lohrer, Arzt, International Councilor, IPPNW (deutsche Sektion)
Prof. Dr. Mohssen Massarrat, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler
Dr. Hans Misselwitz, Grundwertekommission der SPD
Ruth Misselwitz, evangelische Theologin, ehem. Vorsitzende von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste
Prof. Dr. Norman Paech, Völkerrechtler, ehem. Mitglied des Deutschen Bundestages
Prof. Dr. Werner Ruf, Politikwissenschaftler und Soziologe
Prof. Dr. Gert Sommer, Psychologe, ehem. Direktoriummitglied des Zentrums für Konfliktforschung in Marburg
Hans Christoph Graf von Sponeck, ehem. Beigeordneter Generalsekretär der UNO
Dr. Antje Vollmer, ehem. Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages
Konstantin Wecker, Musiker, Komponist und Autor

 

***  Hintergründiges zur Geopolitik und zur aktuellen Einschätzung in der Ukraiene bietet die Rosa Luxemburg Stiftung:  HIER

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Die weißen Tauben sind müde

Datum: 28. Februar 2022
Jens Berger / nachdenkseiten.de

 

Während in den Straßen Berlins mehr als 100.000 Menschen für den Frieden demonstrierten, verkündete die Bundesregierung zeitgleich nur wenige Meter entfernt das größte Aufrüstungsprogramm, das Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg jemals gesehen hat. Besonders traurig – vielen Demonstranten dürfte dieser Widerspruch noch nicht mal einmal bewusst sein. Man nutzt den Schock der russischen Invasion in die Ukraine, um Fakten zu schaffen; irreversibel, im Grundgesetz verankert. 100 Milliarden Euro „Sondervermögen“ plus mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts sollen nun in die Rüstung gehen. Das sind mindestens 171 Milliarden Euro – mehr als 4.000 Euro für jeden Haushalt in Deutschland; für Panzer, Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge, die Atombomben transportieren sollen. Und für Schulen, Universitäten und Krankenhäuser hat man kein Geld. Viele Demonstranten unter dem Banner der weißen Taube haben für die Falken applaudiert – vielleicht ja, ohne dies zu wissen. Von Jens Berger

Naomi Klein hat in ihrem großen Buch „Die Schock-Strategie“ sehr gut beschrieben, wie man Katastrophen und fürchterliche Ereignisse nutzen kann, um Fakten zu schaffen, die in einer echten, offenen gesellschaftlichen Diskussion so wohl nie mehrheitsfähig wären. Die Invasion der Ukraine ist zweifelsohne ein solcher Schock. Während Millionen Menschen den eklatanten Völkerrechtsbruch kritisieren und die Medien eine nur noch hysterisch zu nennende Kriegsangst auch in Deutschland schüren, kochen die Emotionen hoch. Eine rationale Debatte über eine künftige Friedensordnung, über die Überwindung des Blockdenkens, Entspannungspolitik und eine Friedenspolitik, die diesen Namen verdient, ist in diesen Tagen schwer möglich. Das wissen auch die Falken und sie wissen auch, dass sich dieses Gelegenheitsfenster schon bald wieder schließen könnte. Also besser Nägel mit Köpfen machen und die aufgeheizte Stimmung nutzen, um Fakten zu schaffen. Dass es ausgerechnet eine Koalition mit Regierungsbeteiligung von SPD und Grünen ist, die hier – wieder mal – das exekutiert, was die Falken sich wünschen, ist eine weitere groteske Fußnote der Geschichte.

 

„Es fehlt uns an Geld“ – dieser Satz ist spätestens seit gestern als eine der größten Lügen politischer Kommunikation enttarnt. Uns fehlte angeblich das Geld, wenn es um Bildung und die Verbesserung der Lebenschancen junger Menschen ging. Uns fehlte angeblich das Geld, wenn es um das marode Gesundheitssystem ging. Auch Corona hat daran nichts geändert, kein Cent floss seit Beginn der Pandemie in die personelle Ausstattung unserer Krankenhäuser. Uns fehlte angeblich das Geld für die Ärmsten unserer Gesellschaft, die mit Hungerlöhnen, Hartz-IV-Regelsätzen unter dem Existenzminimum und kargen Minirenten ihr Dasein fristen müssen. Uns fehlte angeblich das Geld für Infrastruktur, für die Energiewende, für Kultur und und und. Für alles fehlte angeblich das Geld. Nur für eins nicht. Für die Rüstung. Schwarze Null hin, Schuldenbremse her. Da wird selbst die FDP plötzlich kreativ und richtet ein „Sondervermögen“ ein, was auch nur ein anderer Begriff für Schulden ist. Zurückzahlen werden dieses Geld wir alle.

 

Und es geht hier beileibe nicht um Peanuts. 100 Milliarden Euro sollen nun sofort in die Rüstung gehen – das sind rund 2.500 Euro pro Haushalt. Zusätzlich will man nun Jahr für Jahr mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes dem Verteidigungsressort spendieren. Das sind bei einem BIP von 3,6 Billionen Euro mindestens 72 Milliarden Euro pro Jahr! Das ist deutlich mehr, als Russland für sein Militär ausgibt. Rechnet man das „Sondervermögen“ hinzu, wird Deutschland in diesem Jahr mehr als dreimal so viel Geld für Rüstung und Militär ausgeben wie Russland. Und Deutschland ist nur eines der dreißig NATO-Mitglieder. Alleine die USA geben schon heute dreizehnmal so viel Geld für Militär und Rüstung aus wie Russland.

 

Glaubt irgendwer ernsthaft, durch dieses absurde Hochrüsten würde die Welt auch nur ein Jota sicherer? Glaubt irgendwer ernsthaft, dass die Milliarden und Abermilliarden, die nun der deutsche Steuerzahler in Rüstung und Militär „investiert“, das Leid in der Ukraine auch nur um ein Jota mildern? Während in den Villen der Großaktionäre der Rüstungsindustrie gestern die Sektkorken knallten, dürfte sich der Jubel in den Mietwohnungen derjenigen, die den Aufrüstungsexzess bezahlen müssen, in Grenzen halten. Denn jeder Euro, der nun in die Rüstung geht, wird an anderer Stelle fehlen. Wer sich Panzer und Kampfflugzeuge für mehrere Milliarden kauft, kann halt keine zusätzlichen Lehrer, Krankenschwestern oder Sozialarbeiter einstellen.

 

Und wofür soll das ganze Geld nun ausgegeben werden? Laut Kanzler Scholz für „unsere Verteidigung“. Gerade so, als wäre die Bundeswehr heute noch wie vor 1990 als Landesverteidigungsarmee konzipiert. Deutschland beteiligt sich weltweit an Kriegen und mischt in Konflikten mit, die mit einer Landesverteidigung gar nichts zu tun haben. Zynisch könnte man sagen, wenn die Sicherheit Deutschlands am Hindukusch verteidigt wird, wo wird dann die russische Sicherheit verteidigt? Deutsche Soldaten führten bis vor kurzem Krieg in Afghanistan, sie mischten im Mali, in Syrien, in Libyen mit und neuerdings ist der Indopazifik im Fokus „deutscher Sicherheitsinteressen“. Und es wäre mehr als naiv, anzunehmen, dass die Bundeswehr mit der nun kommenden massiven Budgetsteigerung zu einer Verteidigungsarmee im Sinne des Grundgesetzes mutieren sollte. Nein, die Falken können sich nun noch besser an den Kriegen und dem Säbelrasseln des US-Imperiums beteiligen und mit dem Geld, das wir nun zusätzlich für Rüstungsgüter ausgeben, werden schon bald in irgendeinem armen Land der Welt Menschen getötet. Für die geht dann in Berlin sicherlich niemand auf die Straße.

 

Die weißen Tauben sind müde, die Falken sind stark wie nie vorher. Das ist die Realität. Und man kann nur hoffen, dass dies der Öffentlichkeit auch klar wird, sobald der Kanonendonner in der Ukraine verhallt ist und sich die Emotionen abgekühlt haben.

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Russland :

Putin-Kennerin Gabriele Krone-Schmalz: „Ich habe mich geirrt“

Die langjährige ARD-Korrespondentin glaubt, dass der Angriffskrieg eine einsame Entscheidung Putins gewesen sei, von dem auch sein Umfeld überrascht wurde.

Gabriele Krone-Schmalz, 27.2.2022 -



Ich war fest davon überzeugt, dass der Aufbau dieser gigantischen russischen Drohkulisse in den letzten Wochen und Monaten, so riskant und überzogen er auch sein mochte, einem einzigen Zweck diente: nämlich ernstzunehmende Verhandlungen mit dem politischen Westen zu erzwingen, um Russlands Sicherheitsinteressen endlich zum Thema zu machen. Ich habe mich geirrt. Nicht nur mit Blick darauf, was jetzt an Leid und Verwüstung folgt, bin ich fassungslos, sondern auch angesichts dieses Schlags ins Gesicht all derjenigen, die sich – teilweise gegen große politische Widerstände im eigenen Lager – auf den Weg nach Moskau gemacht haben, um diplomatische Lösungen für die tatsächlich vorhandenen Probleme zu finden. Es ist nicht so, als hätte ich keine Kriegsgefahr gesehen, aber dieses Risiko habe ich nicht mit einem russischen Angriff verbunden, der für mich ausgeschlossen schien, sondern mit Missverständnissen, technischen oder menschlichen Pannen zwischen Nachbarn, denen jegliches Vertrauen zueinander abhandengekommen ist. Diverse Szenarien waren denkbar auf der Grundlage von Provokationen oder Prozessen, die aus dem Ruder laufen, aber ein kalkulierter und geplanter Überfall auf die Ukraine – das habe ich nicht für möglich gehalten.

Habe ich mit meinen Positionen dazu beigetragen, diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu ermöglichen, wie jetzt manche behaupten? Bin ich für den russischen Einmarsch mitverantwortlich? Es wäre schrecklich, wenn es so wäre. Doch überzeugend finde ich diesen Vorwurf nicht. Er setzt voraus, dass die Idee der Verständigung, der Entspannungspolitik grundverkehrt war, und dass eine Abschreckungspolitik Putin hätte im Zaum halten können. Beide Punkte halte ich nicht für richtig. Denn zum einen haben sich die Entspannungspolitiker in den letzten dreißig Jahren auf internationalem Parkett mit ihrer Politik eher nicht durchsetzen können. Ich möchte die Worte von George Kennan ins Gedächtnis rufen, dem Architekten amerikanischer Eindämmungspolitik. Der für seine scharfen Analysen bekannte Diplomat hat am 2. Mai 1998 – also noch bevor Polen, Tschechien und Ungarn 1999 in die NATO aufgenommen wurden – die NATO-Osterweiterung als tragischen Fehler bezeichnet, da es überhaupt keinen Grund dafür gebe. Niemand bedrohe irgendjemanden. „Natürlich wird es auch darauf zukünftig eine böse Reaktion durch Russland geben“, so Kennan, „und dann werden sie (also die NATO-Erweiterer) sagen: So sind die Russen, wir haben es Euch immer gesagt, aber das ist komplett falsch.“

Und zum anderen scheint mir, dass jeder Versuch, die Ukraine nach 2014 in die NATO mit aufzunehmen, die jetzt erfolgte Intervention nur beschleunigt und nicht verhindert hätte. Ich denke nach wie vor, dass die NATO-Osterweiterung und die Missachtung russischer Sicherheitsinteressen durch den Westen stark dazu beigetragen haben, dass wir uns heute einem Russland gegenübersehen, das uns als Feind betrachtet und sich auch so verhält. Ich teile nicht die These, dass Putin schon immer der gewesen sei, der er jetzt ist. Vielmehr gehe ich davon aus, dass wir diesen Putin mitgeschaffen haben.

Aber letztlich ist es müßig, noch über die Vergangenheit zu streiten. Die Verständigungspolitik, deren Sinnhaftigkeit ich mit meiner Arbeit immer versucht habe zu erklären und journalistisch zu begleiten, liegt in Trümmern. Putin hat die Hand verdorren lassen, die zwar reichlich später, aber dann doch ausgestreckt war.

Nach allem was man hört, waren selbst einige russische Regierungsmitglieder von der Entscheidung ihres Präsidenten überrascht, den Einmarschbefehl zu geben, noch dazu in dieser Situation: unmittelbar vor weiteren geplanten Gipfeltreffen. Das macht die Lage nicht einfacher.

Der russische Einmarsch in die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen. Jetzt kann es nur darum gehen, möglichst sichere Wege zu finden die aus dieser Katastrophe herausführen. „Diplomatische Anstrengungen müssen erneut beginnen.“ Das hat Klaus von Dohnanyi jetzt gefordert, wobei auch ihm die Zumutung klar ist, die darin besteht, mit einem Gegenüber zu verhandeln, das dreist gelogen hat. Aber Zumutung, Gesichtsverlust und ähnliches sind keine akzeptablen politischen Kategorien, wenn es darum geht, einen Krieg zu beenden.

Was entspannungspolitisch alles möglich ist, zeigt ein Blick in die Vergangenheit. Obwohl die Sowjetunion 1968 die Demokratiebewegung in der Tschechoslowakei, den „Prager Frühling“, mit Panzern niedergewalzt hat, haben sich der damalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt und sein Berater Egon Bahr 1970 auf den Weg nach Moskau gemacht. Das war der Beginn der sogenannten Ostpolitik, die auf lange Sicht für alle Beteiligten nur Vorteile gebracht hat. Humanitär und wirtschaftlich.

An der grundsätzlichen Aufgabe hat sich nichts geändert: Wir brauchen eine umfassende Sicherheitsarchitektur, die den Bewohnern des europäischen Kontinents allen gleichermaßen Sicherheit bietet. Die war Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zum Greifen nah. Es ist erschütternd, sich vor Augen zu führen, welche Chance verspielt worden ist.

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Kai Ehlers:

Mit schrittweiser Erweiterung der Europäischen Union und in ihrem Geleitzug Erweiterung der NATO bis hart vor die Grenzen Russlands. Mit Unterstützung von „bunten Revolutionen“ in den Randgebieten der ehemaligen Sowjetunion seit 2004 bis hin zum Maidan in der Ukraine 2014. 

Angst vor Russland, warum? Ein unangepasster Blick hinter die Kulissen der Ukrainekrise

    • Bleiben wir sachlich, stellen wir die Emotionen zurück. Erinnern wir uns:
      • Von wem stammt der Vorschlag, ein „Haus Europa“ aufzubauen, samt der dazugehörigen Öffnung der Sowjetunion bis hin zur Wiedervereinigung des geteilten Deutschland? Von Michail Gorbatschow, 1989.

      Und hat Gorbatschow nicht die Zusage erhalten, dass die NATO nicht über die deutschen Grenzen nach Osten erweitert würde, wie soeben noch einmal im „Spiegel“ durch Dokumente belegt wurde?

      • Wer hat mit dem Gedanken gespielt und sogar Schritte in diese Richtung gesetzt, die NATO, nachdem sie absprachewidrig doch bereits auf Osterweiterungskurs war, durch einen Beitritt Russlands zur eurasischen Sicherheitsorganisation umzuwandeln? Boris Jelzin.
      • Wer ist 2001 als eine seiner ersten außenpolitischen Amtshandlungen im deutschen Bundestag mit dem Angebot aufgetreten, anstelle der zusammengebrochenen Ordnung des Kalten Krieges eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa von Wladiwostok bis Lissabon zu entwickeln und erhielt dafür „standing ovations“ der Abgeordneten? Wladimir Putin.
      • Wer hat das das Angebot einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur auf der Strategietagung der NATO in Lissabon im Jahr 2010 wiederholt? Dimitri Medwjedew.
      • Wer hat vor dem Ausbruch des Maidankonfliktes 2014 dafür geworben, das anstehende Assoziierungsabkommen in dreiseitiger Zusammenarbeit zwischen Ukraine, EU und Russland zu entwickeln? Russland.
      • Wer hat in der UNO immer wieder auf die Einhaltung der diversen internationalen Abkommen gedrungen…

      Und wie wurde darauf geantwortet?

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Das geheiligte Interesse

Wo Gewalt herrscht, soll es um Gute und Böse gehen? Ein Einwand

  • Von Stephan Kaufmann / nd  -  25.02.2022, 16:12 Uhr
  • Der aktuelle Konflikt zwischen Russland und den Nato-Staaten hat seinen Grund in den gegenläufigen Interessen beider Seiten: Russland will den Einfluss des Westens in Form von EU und Nato auf die Ukraine schwächen und seinen eigenen dort festigen. Letzteres will der Westen verhindern. Es geht also um eine Machtfrage, die mittels militärischem und ökonomischem Druck durchgefochten wird. Aber es ist Eigenart solcher Auseinandersetzungen, dass beide Seiten sich bemühen, das eigene Interesse mit höheren Titeln zu versehen - Frieden, Schutz der Menschen, Geschichte -, um den eigenen Zielen den Status der Rechtmäßigkeit zu verleihen. Gleichzeitig wird das Interesse des Gegners delegitimiert.
  • Eine gängige Methode ist die Personalisierung der Gegenseite. So wird statt von »russischer Regierung« von »Putin« gesprochen. In anderen Konflikten hießen die Gegner »Saddam« oder »Milosevic«, und in jüngster Zeit ist immer öfter von »Xi« statt von China zu hören. Das Anliegen der Gegenseite wird damit zu einer Art Privatsache des Staatsführers gemacht, die nicht mehr den Status einer Staatsräson beanspruchen darf. Das Handeln des Gegners wird stattdessen durch die Motive des Führungspersonals erklärt, im aktuellen Fall durch Putins »zaristische Ambitionen«. Nahe liegt stets der Übergang, dem Gegner nicht nur Räson abzusprechen, sondern Rationalität überhaupt: So wurde Saddam zum »Irren von Bagdad« erklärt (»Bild«) und Putin »scheint den Kontakt zur Realität verloren zu haben« (Bloomberg). So wird in wenigen Schritten das gegnerische Interesse zu einem Angriff auf die Menschen gemacht - auch der Russen selbst, die vor ihrem Staatschef in Schutz genommen werden müssen.
  • Ein zweites ideologisches Schlachtfeld ist die Frage, wer den Konflikt begonnen hat. Das gilt als entscheidend, denn wer anfängt, ist der Angreifer, der Aggressor, gegen den Verteidigung legitim sein soll. Daraus erklärt sich auch die Konstruktion der »False Flag Operationen«, die Angriffe des Gegners simulieren, um das eigene Eingreifen als ungewollte, aber notwendige Reaktion darzustellen. Die Nato stationiert Truppen in Osteuropa und begründet dies mit der Bedrohung durch Russland. Moskau wiederum bezeichnet seinen Einmarsch in die Ukraine als »Verteidigung gegen die Aggressionen der ukrainischen Armee«. Der Angreifer als Schuldiger - dem zugrunde liegt die Idee eines unschuldigen Zustands namens »Frieden«, den der Aggressor bricht, was wiederum den Einsatz von »Friedenstruppen« (Putin) erfordert. Der Frieden gilt als heilig, wobei beide Seiten wissen, dass er keine friedliche Angelegenheit ist: Schließlich sind es die Phasen des »Friedens«, aus denen die Gründe für Krieg erwachsen.

     

  • Ein weiterer gängiger Berufungstitel von Kriegsparteien ist das Wohl der Menschen - Russland will in eigener Darstellung in der Ukraine eine »humanitäre Katastrophe« verhindern, die deutsche Außenministerin wirft Putin vor, »mit Menschenleben zu spielen«. Oder es wird Vertragsbruch behauptet, was im aktuellen Fall die Debatte befeuert, ob der Westen in den 90er Jahren eine Nato-Osterweiterung ausgeschlossen oder dies offengelassen hat. In der Sache sind diese Legitimierungen nicht kriegsentscheidend. Nicht das höhere Recht obsiegt, sondern die Gewalt, die Waffen und Geld verleihen. Das wissen auch die politischen Entscheider, die der gegnerischen Seite ihre edlen Motive ohnehin nicht abnehmen. Dennoch führen beide Parteien das Stück »Gut gegen Böse« auf. Denn damit erhalten sie beim Publikum - zuallererst der eigenen Bevölkerung - die Fiktion, Weltpolitik sei kein Machtkampf der Interessen, sondern im Kern eine Veranstaltung zur Förderung des Richtigen gegen das Falsche.

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