Der vorliegende Text entstand im September 2025 aus den Diskussionen der ATTAC-Kampagnengruppe „Rohstofenergiehunger stoppen“. Er wurde am 28.9. im Attac-Rat diskutiert.
Zweck dieses Textes ist es nicht, eine umfassende oder gar vollständige Analyse aktueller Tendenzen der (De-)Globalisierung zu leisten. Es geht vielmehr darum, einen Diskussionsprozess zu initiieren, um zu klären,
* welche Veränderungen die Weltwirtschaft aktuell bestimmen, insbesondere ob die Generalbeschreibung „Globalisierung“ noch zutrifft,
* ob es erkennbare, nachvollziehbare Erklärungen aktueller Phänomene gibt oder ob wir es zunächst mit eher zufälligen Ereignissen zu tun haben,
* ob es dabei möglich ist, Prioritäten für die politische Bearbeitung der Situation zu bestimmen,
* ob Attac über die Kapazitäten (politisch-inhaltlich, personell, finanziell) verfügt, eine solche Bearbeitung anzugehen,
* ob sich dafür Bündnisstrukturen bestimmen ließen und ob wir diese nutzen können.
Der Text entsteht aus Überlegungen in der Kampagnengruppe RohstoffEnergieHunger stoppen. Wir waren uns schnell einig, dass Analysen, wie sie uns noch vor einem Jahr gültig erschienen, angesichts neuester Entwicklung unzureichend und unvollständig sind, auch wenn nicht alles daran falsch ist. Im folgenden greife ich (Werner Rätz) einige inhaltliche Punkte auf, die bei unseren Diskussionen eine Rolle spielten. Konkrete Formulierungen und politische Gewichtungen stammen dabei von mir, auch wenn einiges in der Kampagnengruppe ähnlich gesehen wird.
1. Die (staatlich betriebene) Energiewende ist mindestens ausgebremst, und zwar nicht nur in Ländern mit rechtsradikaler Regierung(sbeteiligung), sondern auch bei den angeblichen Vorreitern wie Deutschland. Der Green Deal der EU-Kommission scheint am Ende, Verordnungen/Gesetze wie CRMA zumindest zumindest insoweit obsolet, als sie nicht mehr alleine die strategische Agenda bestimmen.
* Damit hängen auch alle Projekte, die darauf beruhten, wie das Namibia-Wasserstoffprojekt, Rohstoff- und Energiepartnerschaften, Umnutzungsüberlegungen für EU-nahe oder -eigene Gaspipelines, in der Luft.
* Was „der Markt“ hier noch leisten kann und wird, bleibt abzuwarten. Technikoptimisten wie Rico Grimm https://www.cleantech.ing/ oder Institutionen wie IRENA https://www.irena.org/News/pressreleases/2025/Jul/91-Percent-of-New-Renewable-Projects-Now-Cheaper-Than-Fossil-Fuels-AlternativesDE erwarten da fast Wunderdinge und tatsächlich war ein großer Teil des Aufschwungs der Erneuerbaren marktgetrieben.
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Die sogenannte Dekarbonisierung als Ziel (europäischer) Politik war in diesem Zusammenhang immer schon eine Irreführung.
* Es ging den früh industrialisierten Ländern nie um den Ersatz von Kohle oder fossilen Energieträgern allgemein in größerem Ausmaß, sondern zentrales Element ihrer Strategie war die Nutzung von „Senken“, das heißt die Auslagerung der Folgen ihres Tuns in die arm gemachten Länder des Südens (und Ostens).
* Zusätzlich setzt die offizielle globale Klimapolitik, auch der UN-Konferenzen und -Wissenschaftler*innen, auf sogenannte „technische Lösungen“ wie CO2-Abscheidung.
* In dem ganzen Szenario ist obendrein der gesamte militärische Bereich schon aus der Betrachtung ausgenommen gewesen, als von „Ukraine“, „Gaza“ noch gar keine Rede war. Diese und kommende akute Kriege verschärfen diesen Aspekt noch einmal in einem mangels Daten nicht quantifizierbaren Umfang.
* Dagegen muss jede auch nur im Ansatz ernst zu nehmende Politik, die planetare Grenzen beachten will, auf die umfassende Reduktion von Energie- und Stoffverbrauch bestehen. Die fossilen Energieträger müssen in der Erde bleiben.
* Wie die daraus entstehenden Belastungen global zu verteilen sind, muss ausgehandelt werden, darf aber die notwendige Verbesserung der Lebensverhältnisse der arm Gemachten nicht behindern.
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Im Ausbau der Erneuerbaren spielt China die herausragende Rolle, allein 40 Prozent des jüngsten Zubaus gehen auf seine Kappe, genau so viel wie auf die aller Industrieländer zusammen. Danach folgen Indien und Brasilien mit jeweils fast 10 Prozent.
* Man darf das aber nicht missverstehen: China verfolgt kein Modell einer Energiewende, sondern eines der beschleunigten Industrialisierung mit Verbreiterung seiner Energiebasis und Erhöhung seiner Gesamtenergieproduktion.
* Das scheint genau der Aspekt zu sein, den Indien (jüngst) und Brasilien (schon länger) kopieren. Ob andere Länder dazu ebenfalls das Potenzial hätten (Pakistan ließ zuletzt Anstrengung dahingehend erkennen, andere BRICS könnten ebenfalls bestrebt sein) bleibt zu prüfen (s. u.).
* Die chinesische Industriepolitik umfasst Bemühungen um eine gezielte „Entwicklung“ von Kunden und Märkten. Zwar betreibt das Land keinerlei uneigennützige Außenwirtschaftspolitik, aber es behandelt die Partnerländer in der Belt and Road Initiative nicht als reine Rohstofflieferanten, sondern es bemüht sich, dort finanziell potente Sektoren aufzubauen, die Teil des eigenen kapitalistischen Universums werden könnten. Das erinnert eher an Marshallplan als an Neokolonialismus.
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Die Rückkehr (fast) nur zu den Fossilen ist eine in vieler Hinsicht unsinnige Strategie, sie ist
* ökologisch desaströs
* ökonomisch zu teuer (Erneuerbare sind fast immer deutlich billiger als Fossile, so IRENA, s. o.)
* industriepolitisch zu eng, weil sie zu wenig Energie für industriell-digitale Offensiven zur Verfügung stellt.
* Unabhängig von der Frage des Potenzials einiger Länder für solche (beschränkten) Offensiven stellt sich auch die Frage, wer deren politischen und ökonomischen Träger sein könnten. Gibt es in der Türkei, in Indonesien, in Südafrika, in Mexiko u a. (Gegen-)Eliten, die ein solches Projekt tragen und durchsetzen könnten? Das allgemeine Einknicken vor Trumps Zolldrohungen lässt eher Zweifel aufkommen.
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Die Technologieentwicklung ist zwar ebenfalls mit großen Fragezeichen verbunden, aber absehbar scheint, dass manche Erwartungen aus der jüngsten Vergangenheit sich so nicht erfüllen werden. Lithium wird nicht das „weiße Öl“ und Wasserstoff nicht das „grüne Gas“ werden.
* Trotzdem werden strategische Metalle weiterhin extrem bedeutsam sein und der Zugang zu ihnen ein Aspekt bleiben, der die Bedeutung eines Landes im internationalen Machtgefüge mit bestimmt. Der Versuch, zumindest Teile der jeweiligen Wertschöpfungsketten im eigenen Land zu halten, wird nach wie vor attraktiv sein und Machtpotenziale beinhalten.
* Darauf könnten industrie- und andere strategischen Bündnispolitiken aufsetzen, durchaus auch in begrenztem Umfang in Süd-Süd-Kooperationen. Allerdings ist da bisher nicht viel mehr zu sehen als die erweiterten BRICS.
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Ohnehin begrenzte Ressourcen werden durch die Vielzahl der Begehrlichkeiten und die steigende Menge strategischer Rohstoffe, aber auch durch ihre zunehmend schwierigere Sicherung (s. u.) noch knapper, insbesondere die Welternährung wird in absehbarer Zeit mit industrieller Landwirtschaft nicht mehr zu sichern sein. Bodendegradation, Schädlingsausbreitung, Seuchen, Umweltvergiftung fordern ihren Tribut.
* Dabei sind durchsetzungsfähige Träger*innen für eine umfassende Agrarwende, wie sie sogar die Weltbank für unausweichlich hält (https://www.weltagrarbericht.de/), weit und breit nicht in Sicht.
* Das macht das Sterbenlassen und perspektivisch auch das Sterbenmachen zu einer realen Option, die allerdings umfassend nur genutzt werden kann, wenn die Bereitschaft und Fähigkeit zum Führen (ungleichgewichtiger) Kriege vorhanden ist.
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Die allerdings werden immer leichter führbar, weil
* Länder, insbesondere in der Migrationsabwehr (s. u.), dazu offensiv angeleitet werden (Türkei, Libyen, Mexiko),
* ohne Kriege selbst begrenzte Einflusssicherungen kaum noch gelingen,
* rein „handwerklich“ Kriege partiell wieder einfacher werden (Drohnen),
* Industrialisierung perspektivisch zu Rüstungsproduktion führen muss (Ernest Mandel: Mehr Industrialisierung geht nur, wenn ein immer größerer Teil des Gesamtprodukts in die Produktion von Produktionsmitteln (Maschinen) fließt, die wiederum auf Dauer nur ausgelastet werden können, wenn sie Zeugt produzieren, das im Nu wieder entwertet wird.). Diese Tendenz ist in China, Japan, Indien deutlich zu sehen.
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Die Sicherung des materiellen Überlebens wird im Kapitalismus damit immer ungewisser. Subjektive, politisch unmittelbar beeinflussbare Umstände wie Ausgrenzung z. B. durch Krieg oder Rassismus, ebenso wie objektive, nur mittelfristig zu verändernde Bedingungen wie fehlende Nahrungsgrundlagen oder lebensfeindlich werdende Umwelten kommen hier zusammen.
* Durchgängig reagieren Bewegungen weltweit darauf mit der Forderung, die Garantie des unmittelbaren Überlebens als gesellschaftliche Aufgabe zu verstehen und nicht mehr dem (Arbeits-)Markt zu überlassen. In den letzten Jahren habe sich so unterschiedliche Autor*innen wie die Nobelpreisträger*innen Abhijit Banerjee/Esther Duflo, der Club of Rome oder der DIW-Präsident Marcel Fratzscher für die (globale) Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ausgesprochen.
* Interessant ist dabei besonders die Argumentation der feministischen Ökonomin Bengi Akbulut. Sie verweist darauf, dass „die Entkoppelung der Bedürfnisbefriedigung vom Erwerbsstatus … nicht nur den Zwang zur Arbeit in ausbeuterischen, entfremdenden und entwürdigenden Beschäftigungsverhältnissen aufheben“ würde, sondern „auch den Zwang beseitigen, das Wirtschaftswachstum wegen seines Potenzials, Arbeitsplätze zu schaffen, aufrechtzuerhalten“ (https://www.jstor.org/stable/pdf/jj.12865310.19.pdf?addFooter=false).
* Konsequent zu Ende gedacht ergibt sich damit grundsätzlich die Gleichung Arbeitsplätze = Wachstum = Krieg, auch wenn die Realität langsamer ist, als eine solche Formulierung nahezulegen scheint.
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Politische Trägerin des fossilen Rollbacks wie der antisozialen und reaktionären Politikwende ist die (radikale) Rechte. Dabei kommen deren tendenzielle faschistoide und ihre (neo-)liberale Strömung zusammen.
* Das gelingt nicht nur deshalb besonders leicht, weil der Neoliberalismus praktisch versagt und theoretisch völlig abgewirtschaftet hat, sondern auch deshalb, weil mit Feminismus- und Ausländerfeindlichkeit zwei kulturell verbindende Elemente vorliegen.
* Aber man darf sich nicht täuschen: Hier geht es nur vordergründig um (reaktionäre) „Kultur“, Migration und Feminismus sind tatsächlich die Hauptgegnerinnen des reaktionären Gewaltregimes.
* In der Migration zeigt sich der individuelle Überlebenswillen, der alle Ressourcen und Netzwerke nutzt, um scheinbar vorgezeichneten desaströsen Schicksalen zu entgehen. Dabei stört sie, die Migration, das Gewaltregime in der Regel mehr, als dass sie tatsächliche Alternativen aufzeigt.
* Das tut allerdings der Feminismus, wenn auch eher in seiner südlichen, Schwarzen oder Farbigen Variante als in der bürgerlich-weißen. Kaum irgendwo findet sich noch ein umfassender neuer Gesellschaftsentwurf, in den feministischen Mobilisierungen und Organisierungen großer Bewegungen in den arm gemachten Ländern des Südens aber sehr wohl.