Da das Freihandelsabkommen TTIP mit den USA nicht zustande kommen will, setzt die Europäische Union jetzt alles auf CETA, das Abkommen mit Kanada. Doch als Freihandelspartner scheidet auch Kanada aus

 

Von Werner Rügemer

Wahrscheinlich kommt der Freihandelsvertrag TTIP zwischen den USA und der Europäischen Union erst einmal nicht zustande. Umso mehr setzen sich die Europäische Kommission und die deutsche Regierung für CETA ein: Dieses Abkommen mit Kanada wäre "TTIP durch die Hintertür". Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Es reicht allein, sich den Vertragspartner Kanada einmal genauer anzusehen.

Streikverbote

CETA-Befürworter wie der deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel argumentieren, dass Kanada die meisten Kernnormen der Internationalen Arbeits­organisation (ILO, International Labour Organization) ratifiziert habe, das sei doch ein gutes Zeichen.

Richtig ist: In Kanada gelten sechs der acht Kernnormen. Es gilt nicht die Norm über ein Mindestalter für eine entlohnte Beschäftigung. Vor allem: Es fehlt die Norm zum Recht auf Organisation und kollektive Tarifverhandlungen (ILO-Norm C-98). Die ultrakonservative Regierung von Ministerpräsident Stephen Harper setzte zwischen 2006 bis zu ihrer Abwahl Ende 2015 ein halbes Dutzend Gesetze gegen Streiks durch, etwa gegen Eisenbahner, gegen Postler und gegen Beschäftigte der Fluggesellschaft Air Canada. Das ist staatlich erzwungene Rückkehr der Beschäftigten zur Arbeit. Ein Gesetz von 2013 schränkt Streiks ein, wenn "öffentliche Interessen" berührt werden - wobei die Regierung allein feststellen kann, welche Interessen gemeint sind. Ebenso stoppen Gesetze Einkommenserhöhungen im öffentlichen Dienst, auch Provinzregierungen haben solche Gesetze durchgesetzt.

Das bedeutet: Wenn der praktische Hebel zur Durchsetzung fehlt, wenn also vor allem keine kollektiven Tarifverhandlungen möglich sind und dafür notfalls auch nicht gestreikt werden kann, dann sieht es für theoretisch geltende Arbeitsrechte schlecht aus.

Großer Niedriglohnsektor

Die weniger schöne Seite der Arbeitsverhältnisse zeigt sich auch an anderer Stelle, wenn wir nämlich die weiteren ILO-Normen einbeziehen. Diese 177 "technischen" Normen werden von Wirtschaftsminister Gabriel - übrigens auch vom DGB - nie genannt, sind aber wesentlicher Bestandteil des klassischen Arbeitsrechts in den westeuropäischen Staaten.

Kanada gehört mit den USA zu den Staaten, die die wenigsten dieser Normen ratifiziert haben: nur 26 von 177. Im Vergleich: Deutschland hat 73 ratifiziert. Kanada hat zum Beispiel folgende Normen nicht ratifiziert: Entschädigung bei Berufskrankheiten und Invalidität; Arbeitsrechte für Migranten, Landwirtschafts- und Heimarbeiter; Sicherheit und Gesundheit in Landwirtschaft und Bergwerken; Schutz vor radioaktiven Strahlen, chemischen und krebsverursachenden Stoffen am Arbeitsplatz sowie vor Lärm, Erschütterung und Luftverschmutzung; Mutterschutz; Eingliederung Behinderter; bezahlte Weiterbildung; Verfahren zur Festlegung eines Mindestlohns.

Die Harper-Regierung hat zudem die Zahlungen an Arbeitslose abgesenkt. Saisonarbeiter werden gezielt aus Mexiko und der Karibik hereingeholt, haben geringe Rechte und werden nach Ende der Saison rigoros zurückgeschickt. Kanada hat einen höheren Anteil an Niedriglöhnern als die westlichen Industriestaaten, wie die Initiative "Living Wage Canada" aufrechnet. Auch die normal Beschäftigten werden gedrückt: "Wir haben zehn Jahre auf jegliche Lohnerhöhung verzichtet", sagt Jerry Dias, der Vorsitzende der größten Gewerkschaft im Privatsektor, Unifor.

Vorreiter für Investorenrechte

Kanada ist seit den 1980er Jahren Juniorpartner der USA bei der Durchsetzung eines neuen Typs von Freihandelsabkommen - das erste stammt von 1988. Der Begriff "Freihandel" ist hier irreführend. Es geht im Wesentlichen nicht mehr um die klassische Freihandelsfrage, nämlich um die staatlichen Zölle auf transnational gehandelte Waren. Vor allem geht es um Investitionen im jeweils anderen Staat und um die Rechte der privaten Investoren.

1994 erweiterten die USA und Kanada ihr Abkommen auf Mexiko: Im Nordamerikanischen Freihandelsvertrag (NAFTA) wurden zum ersten Mal in einem multinationalen Vertrag die verbindlichen privaten Schiedsgerichte verankert: Vor ihnen können Beschäftigte, Gewerkschaften, Städte oder Staaten nicht klagen, sondern nur Investoren - denn nur deren Rechte werden verbindlich und sanktionsbewehrt geregelt. NAFTA enthält auch den Schutz der Investoren vor "indirekter Enteignung": Wenn die "erwarteten" Gewinne durch staatliche Maßnahmen (Umweltauflagen, Mindestlohnerhöhung und mehr) eingeschränkt werden, können Investoren die Staaten auf Schadenersatz verklagen.

Manche fragen sich: Was bedeutet in der Abkürzung CETA der Begriff "comprehensive", zu deutsch "umfassend"? Er bedeutet genau das, was NAFTA schon seit 22 Jahren ausmacht: Es geht am wenigsten um die klassische Zollfrage zwischen Staaten, sondern vor allem um die Rechte der privaten Investoren und deshalb auch um Privatisierung, Patent- und Markenschutz und (möglichst unverbindliche) Arbeitsrechte.

Meistverklagter Staat der Welt

scheidet

Mit NAFTA wurde der nordamerikanische Kontinent für die Interessen der Finanzeliten der drei beteiligten Staaten reguliert. Der Handel verdreifachte sich: Zum einen durch das Hin- und Herschicken der Vorprodukte zu und von den ausgelagerten Zulieferfirmen Mexiko und Kanada, vor allem für die US-amerikanische und japanische Autoindustrie; zum anderen durch den großindustriellen Export: Die USA exportieren Mais und Fleisch, Kanada exportiert Rohstoffe (Öl, Mineralien, Holz und Autos) Mexiko exportiert Halbprodukte und Textilien. "NAFTA hat Kanada die industrielle Basis genommen", stellt Maude Barlow vom Council of Canadians fest.

NAFTA ermöglichte es Ölkonzernen - vor allem aus den USA -, in Kanada die Techniken der Öl- und Gasförderung aus Sand und Gestein zu entwickeln (Fracking). Die Konzerne dankten es nicht: Sie verstießen auch gegen die wenigen Umweltauflagen und verklagten Kanada seit 1994 zwei Dutzend Mal auf Schadenersatz. Kanada wurde zum meistverklagten Staat der Welt. Dann zogen sie sich schrittweise aus Kanada zurück und wenden die Techniken nun vor allem in den USA selbst an. Kanadas Exporte brachen ein. Die Regierung Harper kürzte Sozialausgaben.

Kanada exportiert mehr Kapital als hereinkommt

Unter den zehn größten Unternehmen Kanadas sind heute fünf Banken, eine Versicherung und eine Finanzholding: Ihnen gehören die Aktien eines großen Teils der Unternehmen, und sie organisieren Kapitalanlagen rund um die Welt - Kanada exportiert mehr Kapital als nach Kanada hereinkommt; die Öl- und Gasunternehmen Kanadas und der verbliebende Rest an Industrie gehören Investoren aus den USA, Frankreich, Großbritannien, Luxemburg und China. Kanada ist eine globale Finanzdrehscheibe.

Alle international aktiven US-Unternehmen sind in Kanada vertreten. NAFTA gilt weiter und Kanada ist nun auch an das Abkommen TPP zwischen den USA und pazifischen Staaten gebunden. An CETA will auch die neue liberale Regierung unter Justin Trudeau nichts ändern.

Nicht nur der CETA-Vertrag, sondern auch die Praktiken des Vertragspartners Kanada zeigen: Arbeitnehmer, Verbraucher, Kleinunternehmer, Handwerker und Bauern haben hier keine Vorteile zu erwarten.