Prognostizierte Extreme für verschiedene Grade der globalen Erwärmung aus dem IPCC-Bericht. Bild: RCraig09, CC BY-SA 4.0

Zum ersten Teil des CMIP6-Reports des Weltklimarates

Überall auf der Welt forschen Wissenschaftler zu Fragen des Klimas. Um die vielen verschiedenen Versionen der entwickelten Klimamodelle besser vergleichen zu können und die Forschungsbemühungen aufeinander abzustimmen, wurde Mitte der 1990er-Jahre vom Weltklimaforschungsprogramm (WCRP) das internationale Coupled Model Intercomparison Project (CMIP) ins Leben gerufen.

Die CMIP-Modelle wurden im Verlauf der letzten fast 30 Jahre mit zunehmender Komplexität und Qualität - also Genauigkeit - entwickelt. So wurde in den letzten Jahren die sechste Modellklasse (CMIP6) mit dem Bericht AR6 [1] mit größter Spannung erwartet, wobei aber schon viel davon vorab publiziert worden war.

Die Publikation des Berichtes am 9. August traf medial auf großes Echo. Es folgt noch eine zweite Publikation.

Einige Zusammenhänge, etwa die globale Wolkenbildung und die Wechselwirkung der Atmosphäre mit den Ozeanen, hatten sich lange nur unzureichend berechnen lassen.

Immer wieder zeigten sich darin neue Rückkopplungen, deren Auswirkungen nun, mit AR6, etwas besser verstanden sind - wenn auch immer noch nicht perfekt.

Mit der globalen Erwärmung und dem Abschmelzen von Eis ändert sich unter anderem der Salzwassergehalt in den Meeren. Diese Änderung beeinflusst die Meeresströmungen.

Doch wie sich dieser Effekt genau berechnen lässt und welche weiteren Temperatureffekte dies auslöst, weiß man zwar jetzt etwas besser, aber eben immer noch nicht sehr genau.


Ehrgeizige Modellgenauigkeit

Die Klimamodelle der CMIP6-Serie haben sich dieser Probleme weitaus intensiver gewidmet, doch zukünftige CMIP-Serien werden sich ihnen noch detaillierter und weiteren offenen Probleme annehmen müssen.

Die CMIP6-Modelle sind in ihrem Anspruch an die Modellgenauigkeit noch einmal wesentlich ehrgeiziger als ihre Vorgänger-Modelle. Zum Beispiel wurde in einigen von ihnen die räumliche Auflösung der Gitter, auf denen das globale Klima modelliert wird, auf unter 100 Kilometer gebracht.

Damit lassen sich die Effekte der Wolkenbildung auf das lokale und globale Klima besser erfassen. Zugleich steigt die zeitliche Dichte der Messungen deutlich an.

"Dieser Bericht ist unschätzbar für die künftigen Klimaverhandlungen und politischen Entscheidungsträger», sagte der Präsident des IPCC, der Süd-Koreaner Hoesung Lee.

Etwas dramatischer drückte es Erich Fischer, Klimaforscher an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und einer der leitenden IPCC-Autoren, aus:

    Der Klimazustand hat sich rasch weiterverändert, und das Zeitfenster, um die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen, geht allmählich zu.

Was bezeichnend für den Bericht ist, dass sich im Vergleich zu den Verhandlungen über die AR5-Publikation vor fast acht Jahren die Debatten offensichtlich viel reibungsloser verliefen.

Die IPCC-Autorenschaft setzte sich diesmal wohl klar gegen den bisher immer stattgefundenen Widerstand aus der Politik gegen klare Formulierungen durch. Zudem wurde die Wissenschaftlichkeit des Berichts nicht mehr angezweifelt.

So wird nun auch die Verantwortlichkeit klar dargestellt: Der Mensch ist gemäß IPCC klar und deutlich für die gesamte beobachtete Erderwärmung seit der vorindustriellen Zeit verantwortlich: 1,6 Grad auf dem Land, 0,9 Grad über dem Meer, 1,1 Grad im globalen Mittel.

Ihr Ergebnis fällt insgesamt erschütternd aus als von den meisten Menschen erwartet.

So könnte der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau, die ja gemäß dem Pariser Abkommen möglichst nicht überschritten werden sollte, bereits früher erreicht werden, als bisher angenommen. Mit einer hohen Wahrscheinlichkeit wird sie bereits in den frühen Dreißigerjahren erreicht sein, wenn der Ausstoß von Treibhausgasen nicht drastisch reduziert wird.

1,5 Grad Erwärmung könnten schon 2040 erreicht sein

Im IPCC-Sonderbericht von 2018 [2] lag die Schätzung, wann die 1,5 Grad erreicht unter diesen Bedingungen wird, zwischen 2030 und 2052.

Heute liegt die Schätzung des allerspätestens Zeitpunkts bei 2040. Die Weltgemeinschaft wird damit wohl die Pariser Ziele krachend verfehlen, wenn der Treibhausgasausstieg nicht schneller und drastischer sinkt, so die Aussage des Berichtes.

Die Veröffentlichung des Berichtes fiel just in die katastrophalen Wochen mit Überschwemmung in Deutschland und der Schweiz, extreme Hitze in Kanada und dem Nordwesten der USA, Hitzerekorde in Nord- und Südeuropa, massive Feuer in der Türkei, und starke Überflutungen in China.

All dies – und insbesondere die Gleichzeitigkeit all dieser Ereignisse – wäre ohne die Hitzerekorde nicht möglich gewesen, so der Konsens der Klimaforscher.

In ausnahmslos allen Erdteilen werden extrem heiße Tage deutlich zunehmen. Zugleich wird es wahrscheinlicher, dass Hitzewellen und Dürren oder Starkregen und Stürme gleichzeitig auftreten.

Klar ist für die Klimaforscher auch, dass wir die kritische Zwei-Grad-Grenze höchstwahrscheinlich überschreiten, wenn wir die Treibhausgasemission nicht vor der Mitte des Jahrhunderts auf Null oder nahe Null senken.

Dies erscheint vielen als eine zu polemische Aussage. Aber in den Wissenschaften ist es eben nicht erlaubt, die Welt so zu sehen, wie sie die Politiker, Ökonomen und viele andere gerne hätten.

Vielmehr zeigen uns Wissenschaftler, wie sie wirklich ist. Und es ist wahrlich historisch bei Weitem nicht das erste Mal, dass sie damit auf öffentlichen Widerstand stoßen.

Lars Jaeger (geboren 1969 in Heidelberg, Deutschland) ist ein schweizerisch-deutschen Unternehmer, Wissenschaftler, Schriftsteller, Finanztheoretiker, alternativer Investmentmanager [3]. Er studierte Physik und Philosophie an der Universität Bonn in Deutschland und der ÉcolePolytechnique in Paris und hält einen Doktortitel in theoretischer Physikm welchen er in Studien am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden erwarb, wo er auch Post-Doc-Studien unternahm.

 

Hallo ATTAC_is Flensburg,

die erste Aktion von Ende Gelände in Schleswig-Holstein (Brunsbüttel) ist erfolgreich zu Ende gegangen! (s. Link zur Abschluß-Erklärung hier unten) Wie eng Klimaschutz und Klimagerechtigkeit zusammenhängen und was dies mit dem Kampf gegen Neokolonialismus und Rassismus zu tun hat, ist wohl auf keiner der bisherigen Massen-Aktionen von Ende Gelände so deutlich geworden.

Das Fracking, wogegen hiesige Bürger:innen-Inis mit langem Atem bislang erfolgreich ein Moratorium erzielt haben, geht derweil hauptsächlich im globalen Süden sowie in Nordamerika / Kanada munter weiter. Ist es deswegen leichter für uns und die Umwelt zu ertragen?

Während hier Gegner:innen der Nutzung fossiler Energien immerhin als potentielle Wähler:innen ins Kalkül einbezogen werden, sind im Süden bislang etwa 1.500 Umwelt-Aktivist:innen und Angehörige indigener Völker wegen ihres Widerstands gegen diese Umwelt-Zerstörungen getötet worden. Können, wollen wir damit leben?

Ein paar persönliche Erfahrungen / Schlaglichter aus Brunsbüttel habe ich auch noch beigefügt.

Danke für euer Interesse, Per.


https://www.ende-gelaende.org/news/pressemitteilung-vom-1-8-2021-1300-uhr/
 
 

Ein Interview mit Greenpeace Handelsexperte Jürgen Knirsch

Ende Legende - 15.12.2020

Ein Segen für die Wirtschaft oder eine Klima-Vollkatastrophe? Über das geplante Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den südamerikanischen Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay wurde in den vergangenen Monaten so einiges gesagt. Aber was davon stimmt denn jetzt eigentlich? Greenpeace hat eine klare Haltung dazu: Bei diesem Abkommen geht Profit vor. Vor Umwelt- und Klimaschutz. Vor Menschenrechten und dem Schutz der Indigenen. Und vor demokratischer Teilhabe. Im Gespräch räumt Greenpeace Handelsexperte Jürgen Knirsch mit den gängigen Aussagen von denen auf, die das Abkommen befürworten. Den kompletten und ausführlichen Faktencheck finden Sie hier.  

Mitte Dezember tagen die Mercosur-Staaten virtuell. Es ist zu erwarten, dass dort auch über wichtige transatlantische Handelsbeziehungen gesprochen wird. Unterstützerinnen und Unterstützer des EU-Mercosur Abkommens befürchten, dass der Mercosur sich bald für eine neue Handelspartnerin entscheidet, sollte die EU das Abkommen nicht zeitnah ratifizieren. Noch mehr Stimmen dazu wurden laut, nachdem China vor Kurzem dem RCEP-Abkommen (Regional Comprehensive Economic Partnership) beigetreten ist und damit die größte Freihandelszone der Welt geschaffen hat. Was passiert, wenn der Mercosur jetzt ein Handelsabkommen mit China abschließt?

Jürgen Knirsch: Zunächst einmal: Wir brauchen keine Handelsabkommen, um Handel zu betreiben – die EU betreibt bereits Handel mit den Mercosur-Ländern, und China ebenso. Europa und gerade auch Deutschland haben einen intensiven Handelsaustausch mit China – ebenfalls ohne ein Handelsabkommen. Tatsächlich streben die Mercosur-Länder dieses Abkommen mit der EU auch deshalb an, weil das Wachstum des Handels mit China nachlässt. Argentinien, im nächsten Jahr Vorsitz der Mercosur-Staaten, hat deutlich ausgesprochen, dass es außer EU-Mercosur keine weiteren Handelsabkommen will.

Die neue Freihandelszone zwischen den asiatischen und pazifischen Ländern schreckt die EU jetzt auf. Sie wird als Drohkulisse genutzt, da die chinesischen Standards im Handel schlechter als die europäischen seien. Es ist sicherlich richtig, Menschenrechtsverletzungen in China anzuprangern. Aber welche Konsequenzen folgen? Wer auf die Handelsströme schaut, sieht: Deutschland ist bisher mit Abstand Chinas größter europäischer Handelspartner. Und China war 2018 zum dritten Mal in Folge Deutschlands größter Handelspartner. In der ersten Jahreshälfte 2020 stieg China, bis zu dem kürzlich wegen der Fälle von Afrikanischer Schweinepest verhängten Importstopp, zum wichtigsten Abnehmer für Schweinefleisch aus Deutschland auf. Bei einem möglichen Handelsabkommen zwischen China und dem Mercosur müssen wir keine Angst haben, dass uns die Butter vom Brot genommen wird.

Viel wichtiger ist doch, dass die EU mit einer Bevölkerung von aktuell fast 450 Millionen Menschen eine hohe Kaufkraft und damit einhergehende Verantwortung hat. Sie sollte genutzt werden, um positive Veränderungen in der Welt herbeizuführen – zum Beispiel, um die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Indigenen zu schützen. Oder um sicherzustellen, dass unser Konsum nicht zur Forcierung der Klimakrise, der Zerstörung von Wäldern oder zu Menschenrechtsverletzungen beiträgt.

Die Wirtschaftsverbände suggerieren, das Abkommen sei eine große Chance für den Arbeitsmarkt, weil es viele neue Arbeitsplätze schaffe. Was ist da dran?

Die EU hat mittlerweile selber eingeräumt, dass das Abkommen wohl keine signifikante Zunahme an Arbeitsplätzen mit sich bringt. Diese Einschätzung wurde – fataler Weise – erst nach dem politischen Abschluss der Verhandlungen veröffentlicht.  Selbst im günstigsten Fall gehen die Prognosen der Kommission in der Auto- und Mobilitätsbranche lediglich von einem Anstieg um 0,5% aus. Seit dem Jahr 2011 ist diese Branche übrigens um 11,6% gewachsen – ganz ohne den Deal. Der Trend, in umweltfreundliche Verkehrsmittel zu investieren, würde neue, nachhaltige Arbeitsplätze vor Ort schaffen. Fast fünf Millionen zusätzliche Arbeitsplätze könnten entstehen, wenn die Länder der UN-Wirtschaftskommission der EU (UNECE) ihre Investitionen in den öffentlichen Verkehr verdoppeln würden.

Es gibt noch einige weitere Aussagen von den Befürworterinnen und Befürwortern des Abkommens, die wir in unserem Fakten-Check widerlegen konnten. Was mich aber besonders wurmt, ist die fehlende Transparenz.

Du spielst auf den weiteren politischen Prozess und das sogenannte “legal scrubbing” an - ein Vorgang, bei dem der Text des Abkommens noch einmal juristisch überprüft werden soll. Das hört sich doch erst einmal gut an, oder?

Erfahrungen aus dem “legal scrubbing” vorangehender Handelsabkommen, etwa dem CETA-Abkommen mit Kanada, haben gezeigt, dass die juristisch überarbeitete und bereinigte Fassung deutlich von der Textfassung abwich, auf die sich beide Vertragsseiten beim politischen Abschluss geeinigt hatten. Das finale Abkommen war damit ebenso gefährlich für Umwelt, Arbeitsschutz und die öffentliche Gesundheit wie der politisch ausgehandelte Text und enthielt nur kosmetische Änderungen.

Leider ist auch nicht bekannt, welche konkreten Vorschläge die EU den Mercosur-Länder unterbreitet, um die schädlichen Umwelt- und Klimafolgen des Abkommens zu begrenzen. Nach der zunehmenden Kritik aus Zivilgesellschaft und Politik versucht die EU-Kommission nun, die Kritikerinnen und Kritiker mit einer gemeinsame Zusatzerklärung zu beschwichtigen. Doch eine Zusatzerklärung kann bestenfalls die einzelnen Passagen des Abkommens erläutern, nicht aber die darin erhaltenen Schwachstellen ausbügeln. Sie wird auch nicht das Grundproblem des Abkommens, nämlich die schädlichen Auswirkungen, lösen können. Vorgaben zum Umwelt- und Klimaschutz, zur Einhaltung von Kernarbeitsnormen und des Vorsorgeprinzips sind nicht sanktionsbewehrt. Hält sich ein Vertragspartner nicht daran, passiert nichts.

Die Probleme lassen sich nur lösen, indem das Abkommen vollständig abgelehnt wird. Neue Verhandlungen müssen eingefordert werden und von Anfang an transparent, demokratisch legitimiert und kontrolliert durchgeführt werden. Seit 20 Jahren wird an dem Abkommen gearbeitet und es will mir nicht einleuchten, dass jetzt, wo es um den Schutz von Mensch und Natur geht, von Zeitverschwendung und überzogenen Ansprüchen gesprochen wird.

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Online-Treffen zu CETA für lokale Bündnisse und Aktive

13. Februar 2021, 13-17:30 Uhr, online

Im ersten Halbjahr 2021 will das Bundesverfassungsgericht über die noch ausstehenden CETA-Verfassungsbeschwerden entscheiden, danach könnte das Abkommen durch Bundestag und Bundesrat ratifiziert werden. Welche Gefahren für Klima, Daseinsvorsorge und Demokratie bergen die CETA-Paralleljustiz sowie die regulatorischen Gremien? Und was können wir auf lokaler und regionaler Ebene tun, um die Ratifizierung des Abkommens noch zu verhindern? 

Mehr Infos zu Programm und Anmeldung gibt es ab Mitte Januar unter www.gerechter-welthandel.org

Zu diesem Thema liegt ein Papier der Online-Konferenz zu CETA am 17. Mai 2020 einer Arbeitsgruppe lokaler, freihandelskritischer Bündnisse und Initiativen vor, welches die aktuellen Kritikpunkte zusammenfasst:

https://www.gerechter-welthandel.org/wp-content/uploads/2020/11/CETA-Desaster-f%C3%BCr-Klima-Daseinsvorsorge-und-Demokratie.pdf

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Die Anti-Corona-Demonstrationen und die Sprachlosigkeit progressiver Kritik.

Von Gerhard Hanloser -  29.08.2020 - nd

Linke mit klammheimlicher Freude an Coronaleugnerdemos und Solidaritätsgefühl für die Coronarebellen - gibt es das? Ja. Ein kleiner Teil jenseits des Mainstreams der Linken artikuliert sogar deutliches Einverständnis in Alternativmedien wie »Rubikon« und sammelt sich in kleinen Bestätigungsgemeinschaften der letzten Aufrechten.

Sie werden vom Ressentiment getrieben, der »leeren Negation«, wie man im Hegeljahr sagen könnte. Sie sind faktenresistent und in ihren entgrenzten Warnungen vor einer »Corona-Diktatur« scheinen sie einen alten Militantismus der Neuen Linken zu beerben, betreiben aber nur die Zerstörung der Vernunft. Vor einem ominösen »Diskurs der Macht« verblasst die Realität des Virus. Sie schwadronierten in verzückter Fernsolidarität mit den Aufmärschen der diffusen Rebellen von einer »Freiheitsbewegung«, die irgendwelchen ominösen Machtinteressen entgegenstehen würde.

Für die realen Parolen, die soziale Zusammensetzung wie die erdrückende Anzahl rechter Strukturen und Einzelpersonen in den Aufmärschen sind sie strategisch blind. Den rabiaten egozentrischen Neoliberalismus in der Freiheitsemphase wollen sie nicht erkennen. Erstaunlich ist, dass unter diesen aus der Linken kommenden Intellektuellen ein ganzer Haufen Psychoanalytiker und Therapeuten zu finden ist. Neben einer falschen Demut vor den »einfachen Leuten«, die sie in den Protestierenden sehen wollen, mischt sich in den elitären Populismus die Arroganz von Bessergestellten und Saturierten gegenüber einem potenziell tödlichen Virus, der weltweit die arbeitenden Armen trifft. Das Hofieren der diffusen, egoistischen bis faschistoid aufgeladenen Coronarebellen-Szene zeigt eine barbarische Tendenz an, die in Umbruchssituationen auch immer einen Teil des intellektuellen Bürgertums erfasst.

Ein »Anti« ins Leere

Doch dies stellt nur den Narrensaum einer zerfransten Linken dar. Was auf der anderen Seite übrig geblieben ist, sind überforderte Antifaschist*innen, die ihre anfänglichen Anti-Parolen wie »Gegen Querfront« oder »Keine Chance den Verschwörungstheoretikern« auch in den regierungsnahen Presseorganen lesen konnten. Besonders aktivistische Antifaschist*innen stopften in der Vergangenheit die Zeitungen der Hygienedemoaktivisten vor der Volksbühne ungelesen in Papierkörbe und wurden dafür als »rote Faschisten« bezeichnet - von Menschen, die so gar nicht dem typischen Bild des »Rechten« entsprachen, ja vielleicht sogar eher wie Anti-Atom-Demonstrant*innen der 1970er und 1980er daherkamen.

Wacker protestieren »Omas gegen rechts« und andere linke Vereinigungen gegen eine Bewegung an, die seit ihrem Entstehen immer deutlicher zum Tummelfeld für Rechtsradikale wurde. Doch die antifaschistischen Vorhaltungen, hier demonstrierten Nazis, prallten auch an scheinbar normalen Demonstrant*innen einfach ab. Unter den über 20.000, die am 1. August in Berlin demonstrierten, war nur eine Minderheit klar rechtsradikal. Antifaschismus allein half und hilft offensichtlich nicht weiter.

Die marxistische Linke sah in den Corona-Maßnahmen der Regierung eine notwendige, sogar zu spät ergriffene Maßnahme zur Unterbindung der Pandemie, machte aber auch auf die Folgen aufmerksam: Firmenpleiten der kleinen Wirtschaftsakteure, Armut, Vereinsamung in den unteren Klassen, staatsinterventionistische Unterstützung großer Konzerne. Die schlagartig mobilisierte Verschuldungspolitik überlagerte außerdem die aufgeschobene Krisentendenz des Kapitals, und irgendwann werden die abhängig Beschäftigten, die jetzt schon von Corona betroffen sind, die Krise und die Politik der Regierenden ausbaden müssen. Gegenwehr ist also notwendig.

Doch derartige Analysen lassen sich nur schwer zu Parolen vereinfachen. Diese fehlten folglich auf der Straße. Manch braver DKP-Schreiber wollte ohnehin nur den Familienbetrieb zusammenhalten und warnte die eigene Gemeinde davor, sich mit »denen«, dem gefährlichen, infektiösen Straßenmob, »einzulassen«. Der traditionskommunistische Hinweis auf das angeblich gelungene Krisenmanagement in der Volksrepublik China wirkt so wenig glaubwürdig wie es politische Attraktivität beinhaltet. Will man mit diesen Leuten Bürgerrechte gegen den überhand nehmenden Notstandsstaat verteidigen? Und für die regierende Linke sind Leute auf der Straße immer eher ein Ärgernis und Sicherheitsproblem als ein Zeichen des Aufbruchs.

Die Linke ist nicht mehr ein Pol konkreter Negation des Bestehenden. Sie leidet nicht nur an Mangel an Ausstrahlung und Selbstbewusstsein, sondern auch unter fehlender sozialer Fantasie, die sie einst im Zuge der italienischen Autonomia und des Spontaneismus gelernt hatte. »Wir zahlen die Coronakrise nicht«, »Öffentliche Infrastruktur jetzt!«, »Totschuften in und nach der Krise? - Nicht mit uns!«, »Wir wollen alles - nur nicht den Virus!«. Parolen dieser Art waren Mangelware.

Während der Wiener Identitäre Martin Sellner strategisch geschickt reflektiert, inwiefern sich die teils unpolitischen, teils ungerichteten, teils rechtsoffenen Demonstrationen und Aufmärsche zu einer völkischen und anti-migrantischen Bewegung verdichten lassen, hat die radikale Linke von vornherein Abstand zu Protest und Straße gehalten. Die Anliegen der Proletarisierten, der Außerkursgesetzten und der sozial wie psychisch mit Lockdown-Folgen Überforderten hat niemand in Worte gefasst. Niemand hat auf der Straße die unterschiedlichen Interessen derjenigen benannt, die vereint als »Coronarebellen« demonstrierten.

Strauchelnde Suchbewegungen

Dabei waren deren soziale wie ideologische Träger höchst divers - und damit auch spezifisch adressierbar, um einen Keil zwischen diese unterschiedlichen Kräfte zu treiben: Mittelständler, prekär Beschäftigte, Nazis, arbeitslose Hippies, egoistische Partypeople, entnervte Alleinerziehende und vielköpfige Familien. Hier gehört nicht fest zusammen, was zusammen demonstriert. Neben den reaktionären Neoliberalen, die mit »Freiheit!« ein Zurück zur Vor-Corona-Zeit meinen, und den faschistisch-völkischen Kernen, die »Freiheit« rufen und ein Reich oder den Ethnonationalstaat meinen, gab und gibt es auch die vielen Versprengten, die sprachlos etwas ganz anderes wollen - nur was?

Die ideologischen Muttermale dieser Suchbewegung, die über den Status quo hinaus wollte, hätte man etwa in der Zeitung »Demokratischer Widerstand« besichtigen und in Gesprächen mit einigen Teilnehmenden bestaunen können. Nicht alles daran war hässlich. So formulierten diese zeitungsschreibenden Hygienedemonstrant*innen sogar Solidaritätsbekundungen für die multiethische Jugendrebellion in Stuttgart. Rechtsoffen ist anders. Wenn die Linke nur noch Rechte sieht, auch wo keine sind, hat sie verloren. Wenn sie sich für die Strauchelnden, Unklaren und Suchenden nicht mehr interessiert und diese nicht mehr von den falschen Propheten zu isolieren versucht, ist es nicht erstaunlich, wenn die Rechten abräumen.

Gerhard Hanloser beobachtet die einschlägigen Demos seit Monaten und hat dazu publiziert.

 

Die WHO, Bill Gates und die Refeudalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse

Interview von: Velten Schäfer
Die Existenz von Mythen belegt nicht, dass es kein Problem gibt: Bill-Gates-Graffito von Eme Freethinker, Berlin im April 2020
Die Existenz von Mythen belegt nicht, dass es kein Problem gibt: Bill-Gates-Graffito von Eme Freethinker, Berlin im April 2020

Anfang der Woche hat die EU-Kommission eine »Geberkonferenz« initiiert. Ziel seien »Milliarden für einen Impfstoff« gegen das Coronavirus, man wolle »Kräfte bündeln« und »gemeinsam Geschichte schreiben«. Klingt das gut in Ihren Ohren?

In der aktuellen Situation alle Kräfte zu bündeln, um rasch einen Impfstoff und Medikamente zu entwickeln, ist ganz richtig. Problematisch hingegen fand ich, wer sich da zusammenfand. Das Treffen stand nicht unter der Leitung der hier zuständigen internationalen Instanz, also der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sondern unter Ägide eines Clubs mächtiger Akteure: der EU, der Weltbank, des Weltwirtschaftsforums sowie der Privatstiftungen Wellcome-Trust und Bill-&-Melinda-Gates-Stiftung. Vertreter aus den Ländern des Südens, deren Bevölkerungen durch Corona dramatische soziale Folgen erleiden, saßen nicht am Tisch.

Also doch: Bill Gates setzt mittels Corona eine geheime Weltregierung durch!

Es geht natürlich nicht um eine geheime Weltregierung. Das Ganze findet ja vor aller Augen statt. Das Problem der WHO liegt in einer seit Langem zu beobachtenden Aushöhlung multilateraler Institutionen, in denen alle Länder eine Stimme haben. Das ist im sogenannten Multistakeholder-Ansatz, der mehr und mehr an die Stelle jenes Multilateralismus tritt, nicht mehr der Fall. Darin spielen Geschäftsmodelle, aber nicht die Interessen und Lebenswelten der Marginalisierten eine Rolle. Sollen überlebenswichtige Medikamente wirklich für alle zugänglich sein, dürfen sie nicht länger patentgeschützt sein. Diese Vergesellschaftung pharmakologischen Wissens aber wollen die Industrieländer nicht zulassen. Das ist keine heimtückische Verschwörung, sondern das kapitalistische Grundkalkül.

Die Existenz von Mythen besagt ja nicht, dass es kein Problem gibt. Noch jüngst erschienen Schlagzeilen wie »Der heimliche WHO-Chef heißt Bill Gates« oder »Was gesund ist, bestimmt Bill Gates« in großen Zeitungen und im öffentlichen Rundfunk.

Die WHO befindet sich seit Längerem in einer gravierenden Krise. Um wirksam für die Verwirklichung des Rechts auf Gesundheit eintreten zu können, müsste sie unabhängig sein. Genau das verweigern ihr die Mitgliedsländer, indem sie schon vor Jahren ihre Pflichtbeiträge eingefroren haben. Diese machen heute nur noch 20 Prozent des Etats aus. Die restlichen 80 Prozent sind freiwillige, aber zweckgebundene Zuwendungen, mit denen die Geber auf die Arbeit der WHO direkt Einfluss nehmen. Allen voran der bislang größte Geldgeber USA, gefolgt von der Gates-Stiftung. Wenn die USA nun wie angekündigt aus der Finanzierung aussteigen, wird die weitere Existenz der WHO vom Geldfluss eines einzelnen privaten Mäzens abhängen. Das ist der eigentliche, zu wenig wahrgenommene Skandal: eine Refeudalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse.

Für die WHO gilt also der Klassiker: »Wes Brot ich ess, des Lied ich sing«?

So simpel ist es nicht. Die Zwecke, für die die Gates-Stiftung Zuwendungen vergibt, sind ja zunächst durchaus honorig. Die Entwicklung von Impfstoffen, das Bemühen um die Ausrottung von Polio, das ist ja nicht falsch. Das Problem ist die Herangehensweise von Bill Gates, nämlich die Vorstellung, man könne die Gesundheit der Menschen mit Programmen fördern, die von oben übergestülpt werden. Mit der gleichen unternehmerischen Herangehensweise, wie er sein Vermögen zusammengetragen hat, will er nun das Leben von Millionen retten.

Wieso ist das ein Problem?

Gesundheit ist keine Ware, die sich wie Computerprogramme vermarkten ließe. Sie lebt von der demokratischen Partizipation derjenigen, um deren Gesundheit es geht. Und da spielen soziale Faktoren eine ungleich größere Rolle als kurativ-medizinische Angebote. Letztere, das hat zuletzt sogar die Unternehmensberatung McKinsey einräumen müssen, bestimmen nur zu 15 Prozent das Wohlbefinden der Menschen. Viel wichtiger sind gute und ausreichende Ernährung, Bildung, hygienische Wohnverhältnisse, würdige Arbeit, Einkommen und Ähnliches. Diese sozialen Determinanten der Gesundheit, für die sich die WHO lange starkgemacht hat, spielen heute immer weniger eine Rolle. Und das auch aufgrund der Einflussnahme durch Geldgeber wie Bill Gates.

Ganz so, wie wir es derzeit erleben. In der Pandemie scheint die Devise ja zu sein: »Lockdown« bis zum Impfstoff.

Auch in der Coronakrise nehmen wir die sozialen Folgen der Pandemie kaum wahr. Und die werden gerade im Globalen Süden verheerend sein. Es steht zu fürchten, dass sich die ohnehin schon prekäre soziale Ungleichheit, die in der Welt herrscht, verschärfen wird. Wie sollen Menschen, die in Slums zu leben gezwungen sind oder als Tagelöhner ihre Existenz fristen müssen, den Abstands- und Hygieneempfehlungen folgen? Die von Kurzarbeitergeld und halbwegs funktionierender Daseinsvorsorge nur träumen können? Sie zu schützen, würde soziale Transferleistungen erfordern, am besten im Kontext eines universellen Grundeinkommens oder solidarisch finanzierter Gesundheitssysteme, deren Verwirklichung mehr denn je auf der Tagesordnung stehen sollte.

Nun grassiert die Pandemie aber auch in den wohlhabenden Ländern.

Auch im Norden zeigt sich ein ganz ähnliches Bild. Auch in Europa sind die Schrecken dort am größten, wo Gesundheitssysteme durch Austeritätspolitik geschwächt und mehr und mehr privatisiert wurden. Hinzugekommen sind dramatische Fehlentscheidungen, wie die von Donald Trump oder von Boris Johnson, die beide die Gefahr zu lange kleingeredet haben. Politikern im Norden galten Pandemien vielleicht als Probleme Afrikas oder Asiens, aber nicht Europas. Die Folgen solcher Überheblichkeit haben heute die einfachen Leute zu tragen. Und Trump meint, die Schuld der WHO in die Schuhe schieben zu können.

Diese Mythen um die WHO und Bill Gates wurzeln auch in der 2009 ausgerufenen Pandemie der »Schweinegrippe«. Es wurden weltweit Zigmilliarden für einen Impfstoff ausgegeben, den niemand brauchte.

Vor gut zehn Jahren hat die WHO eine eher harmlose Erkrankung in die höchste Gefahrenstufe eingruppiert. Beraten wurde sie dabei auch von Wissenschaftlern, die auf der Gehaltsliste von jenen Pharmakonzernen standen, die dann am Verkauf des Grippemedikaments Tamiflu kräftig verdienten. Als der Skandal bekannt wurde, geriet die WHO zu Recht in die Kritik. Seitdem hat sie einiges unternommen, um solche Interessenskonflikte zu kontrollieren. Aber wie soll das gehen, wenn man auf die Zuwendungen von privaten Gebern angewiesen ist und sich beispielsweise mit den Interessen von Bill Gates arrangieren muss? Auch der erwirtschaftet die Mittel, die er der WHO zur Verfügung stellen kann, durch Anlagen unter anderem in pharmazeutischen Unternehmen.

Was ist aus Ihrer Sicht das Worst-Case-Szenario »nach Corona«?

Das Negative wäre, dass die Einschränkungen der Grundrechte, die wir gerade erleben und die von der Öffentlichkeit bisher breit mitgetragen werden, auf die eine oder andere Weise politische Sedimente hinterlassen. Ich glaube zwar nicht, dass es in Deutschland zu autoritären Schüben wie in Ungarn oder Polen kommen wird. Eher könnte der öffentliche Druck, nun rasch wieder zur Normalität zurückzukehren, dazu führen, dass sich die gerade entstandene Kritik an der imperialen Lebensweise, die wir hierzulande auf Kosten anderer und der Umwelt führen, wieder abschwächt. Schon jetzt sind Stimmen laut geworden, die fordern, man dürfe die Wirtschaft bei der Bewältigung der Krise nicht noch stärker durch Klimaschutzauflagen und die Einhaltung der Menschenrechte etwa im Kontext der globalen Lieferketten belasten.

Und das optimistische Szenario?

Das könnte darin bestehen, dass Gesundheit wieder mehr als öffentliches Gut betrachtet und die unselige Privatisierung von Daseinsvorsorge rückgängig gemacht wird. Die Aufkündigung des Patentschutzes für essenzielle Arzneimittel ist längst überfällig; mit Blick auf die Coronakrise könnte dies heute gelingen.

Welchen Ausgang der Krise halten Sie für wahrscheinlicher?

Auf jeden Fall wird darum gerungen werden müssen, was dann die Folgen dieser Krise sind. Von allein ändert sich wenig, zumindest nicht zum Guten.

 

Thomas Gebauer ist Sprecher der stiftung medico. Von 1996 bis 2018 war er Geschäftsführer von medico international.