Technologie oder die CO2-Steuer lösen nicht das Klimaproblem. Der ökologische Ernstfall verlangt eine Neujustierung der persönlichen Freiheiten.

 

 

Von Nico Paech, taz, 28. 7. 2019

Was sich derzeit abspielt, entspricht jener lebensbedrohlichen Eskalation, die alle aufgeklärten Kräfte seit Jahrzehnten verhindern wollten: Der Klimawandel, die Flut an Plastik- und Elektroabfällen, das Insekten-, Singvogel- und sonstige Artensterben, die Natur- und Landschaftszerstörung, die chemische Verseuchung und Entwertung von Böden, die Strahlen- und Lärmbelastung, der Lichtsmog und so weiter. Es lässt sich kein ökologisch relevantes Handlungsfeld benennen, in dem die Summe der bekannten und neuen Schäden nicht permanent neue Rekorde erzielt hätte.

Das propagierte und bequemste aller problemlösenden Regulative, nämlich ein technischer Wandel der Versorgungssysteme, versprach ein auf ständiges Wachstum angewiesenes Wohlstandsmodell von ökologischer Zerstörung zu entkoppeln. Dieser Irrweg ist nun selbst dort gescheitert, wo akribisch versucht wird, wenigstens kleine Entlastungserfolge heraus­zurechnen, etwa bei der Energiewende. Technischer Umweltschutz war nie etwas anderes und kann nie etwas anderes sein als eine räumliche, stoffliche, zeitliche oder systemische Problem­verlagerung. It’s the thermodynamics, stupid!

Auch der zweite Hebel, nämlich eine kollektive Verständigung auf Rahmenbedingungen mit Anreiz-, Lenkungs- oder nötigenfalls Sanktionswirkung – die aktuell durchs Dorf getriebene Sau heißt CO2-Steuer – versagt vollends. Deren Befürworter haben einen epochalen Wendepunkt übersehen: Wenn nämlich die technische Entkopplung des Wohlstandes systematisch misslingt, verändern sich nicht einfach nur Ziele und Mittel einer dann noch adäquaten Nachhaltigkeitskonzeption, sondern mehr noch die Möglichkeiten einer demokratischen Regulierung des ökologischen Problems. Genauer: Sie entfallen!

Was die Energiewende politisch attraktiv werden ließ, war das Versprechen, mittels technischer Innovationen lediglich die Umrandung, aber nicht das Innere des Wohlstandskorpus umzubauen. Liebgewonnener Konsum- und Mobilitätskomfort sollte weiter bestehen und wachsen dürfen, nur eben ersetzt durch grünere Substitute mit serienmäßig eingebauter Gewissensberuhigung. Kein Wunder, dass damit Wahlen zu gewinnen waren.

Nun ist diese grüne Seifenblase geplatzt. Das bedeutet, die einzig wirksame politische Steuerung kann nur noch darin bestehen, den von der Bevölkerungsmehrheit zunehmend praktizierten ökologischen Vandalismus, sein Kosename lautet „individuelle Freiheit“, radikal einzuschränken. Dumm nur, dass dafür demokratische Mehrheiten nötig wären.

Unwahrscheinlicher als eine Begegnung mit dem Osterhasen

Im Klartext: Die Mehrheit müsste ihren eigenen Lebensstil abwählen, sich quasi um 180 Grad wenden, nämlich plötzlich befürworten, was seit dem Zweiten Weltkrieg jede gesellschaftliche Modernisierung auszumerzen versucht hat: Genügsamkeit, Selbstbegrenzung, Entsagung. Also Suffizienz. Ein solches politisches Wunder dürfte unwahrscheinlicher sein als eine Begegnung mit dem leibhaftigen Osterhasen.

Dieses Dilemma kulminiert in einer Doppelmoral, die längst zum Normalzustand geronnen ist. Einerseits dröhnt ein unüberhörbarer Klimaschutz- und Nachhaltigkeitsfuror, andererseits wird mit Zähnen und Klauen eine digitale, kosmopolitische und konsumorientierte Lebensform verteidigt, die ökologisch suizidaler nicht sein könnte.

Um diese Widersprüchlichkeit zu verarbeiten, hat sich im Zusammenspiel zwischen gesellschaftlicher Mehrheit und Politikvertretern ein Zustand stabilisiert, der dem katholischen Ablasshandel ähnelt. Während sich die Lebens- und Wirtschaftsform immer nachhaltigkeitsdefizitärer entwickelt, werden zugleich – wohlgemerkt additiv – grüne Produkte (vegane, ökologische Speisen, faire Smartphones, erneuerbarer Strom etc.), Technologien (Elektromobilität, Power-to-Gas etc.) und simulierte Nachhaltigkeitsbemühungen (Verbot von Plastikstrohhalmen, Gebot von PV-Anlagen auf Neubauten etc.) befördert, die bestenfalls an der Problemoberfläche kratzen.

Oder sie ergießen sich in rituelle Forderungen, die abstrakt und unverbindlich genug sind, sodass sie einerseits nicht falsch sein können, aber andererseits ihre technische oder politische Realisierung in so unerreichbarer Ferne liegt (etwa eine CO2-neutrale Wirtschaft), dass keine absehbaren Konsequenzen für die eigene Lebensführung zu befürchten sind.

Damit erfolgt eine rein symbolische Kompensation, die das „Weiter so“ legitimiert, weil damit sowohl kognitive Dissonanzen therapiert werden können wie auch der Schein moralischer Korrektheit gewahrt bleiben kann. Dieser rasende Stillstand ebnet den Weg zum Abgrund. Er ließe sich nur mittels eines dritten Regulativs durchbrechen, das angesichts des kläglichen Scheiterns aller Technik- und Institutionenklempnerei auf einer anderen, nämlich zwischenmenschlichen Ebene verortet sein müsste. Gemeint ist eine Mischung aus reaktivierter, aber demokratischer Streitkultur und einem Aufstand der konkret Handelnden, die sich dem Steigerungswahn verweigern.

Unterschied zwischen Bedürfnissen und Dekadenz

Dieses soziale Regulativ gründet darauf, dass kein Menschenrecht auf ökologische Zerstörung bestehen kann – außer es lassen sich dafür akzeptable Gründe anführen. Aber genau das wäre dialogisch zu klären. Dies kann und darf nicht willkürlich erfolgen, sondern nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit. Hierzu bedarf es einer Unterscheidung zwischen essenziellen Bedürfnissen und spätrömischer Dekadenz. Nichts könnte so­zialpolitisch plausibler sein, als dort die dringend nötigen Reduktionen einzufordern, wo Handlungen galaxienweit von einer Befriedigung basaler Grundbedürfnisse entfernt sind. Es entspricht überdies jeder ökonomischen Logik, die knappeste aller Ressourcen, nämlich die Nutzung der Ökosphäre, zuvörderst dort einzusetzen, wo sie die eklatanteste Not lindert.

Wer wollte ernsthaft eine würdige Unterkunft, Elektrizität, notwendigen Berufsverkehr, eine Konsumausstattung, die auch maßvoll über den reinen Grundbedarf hinausreichen kann, Zugang zu maximaler Gesundheitsversorgung und Bildung sowie einen ökologisch verantwortbaren Urlaub kritisieren? Aber umgekehrt ist noch niemand erfroren, verhungert oder erkrankt, wenn er/sie keine Kreuzfahrt, keine Flugreise, keinen SUV, keine maßlose Neuanschaffung an Elektronik und anderen Konsumgütern oder keine 100 Quadratmeter Wohnfläche pro Kopf etc. in Anspruch nehmen konnte.

Wenn nackte Gewalt gegen die menschliche Zivilisation gerichtet wird, und zwar ohne erkennbare Not, entspricht es aufgeklärtem und durchaus liberalem Bürgersinn, dies im Rahmen direkter Kommunikation zu thematisieren, um Rechtfertigungsdruck aufzubauen. Dafür bieten sich viele Orte an: Schulen, Universitäten, Familien/Lebensgemeinschaften, Freundeskreise, Nachbarschaften, Wirtshäuser, Sportvereine, Partys, Nachbarschaften, öffentliche Veranstaltungen und natürlich die Medien. Insoweit es absehbar um die Überlebensfähigkeit geht, sollte es unter aufgeklärten Verhältnissen nötig und möglich sein, menschliche Freiheiten mit der Frage zu konfrontieren, wie sie sich gemäß einer Verhältnismäßigkeit zwischen Notwendigkeit und zerstörerischem Potenzial rechtfertigen lassen.

Einen kritischen Dialog können glaubwürdig und wirksam nur Personen initiieren, die selbst eine verantwortbare Lebensführung praktizieren. Denn ein Analphabet kann einem anderen Analphabeten nicht lesen und schreiben beibringen, und jede Kritik oder Forderung entpuppt sich als Scharlatanerie und Anmaßung, wenn sie schon im Selbstversuch desjenigen scheitert, der sie erhebt.

Obergrenze für materielle Freiheit

Eine Neujustierung individueller Freiheit bedeutet weder Ökodiktatur noch Öko-Stasi. Wenn der Planet erstens physisch begrenzt ist, zweitens industrieller Wohlstand nicht von ökologischen Schäden entkoppelt werden kann, drittens die irdischen Lebensgrundlagen dauerhaft erhalten bleiben sollen und viertens globale Gerechtigkeit herrschen soll, muss eine Obergrenze der von einem einzelnen Individuum in Anspruch genommenen materiellen Freiheit existieren.

Diese kann sich nur an der Gesamtbilanz aller ökologischen Handlungsfolgen bemessen, die ein einzelnes Individuum verursacht. Längst bekannt ist, dass allein die Einhaltung des 2-Grad-Klimaschutzziels für Mitteleuropa bedeutet, dass die CO2-Emis­sio­nen pro Kopf und Jahr von ca. 12 auf ca. 2 Tonnen zu senken wären. Genau daran wäre das soziale Regulativ zu orientieren, damit es nicht auf Willkür beruht.

Wer weiter auf technologische oder politische Erlösung vertraut, steuert auf eine unvermeidliche Eskalation zu. Wenn Verteilungskonflikte entbrennen und für manche der Kampf um ein würdiges Dasein beginnt, wird sich niemand mehr für eine Demokratie einsetzen, die offenkundig am Minimum dessen gescheitert ist, was Humanität bedeutet: Überlebensfähigkeit. Wer also die Freiheit bewahren will, darf sie nicht im Übermaß beanspruchen, sondern muss sie vorsorglich und freiwillig begrenzen.

Die hierzu nötige Suffizienz erweitert aber auch Handlungsfreiheiten, weil sie sich behindernder materieller sowie institutioneller Vorbedingungen entledigt. Ballast abzuwerfen, sich dem Steigerungswahn zu entziehen, verführerische Komfortangebote auch dann einfach links liegen zu lassen, wenn sie finanzierbar und legal sind, das Vorhandene als auskömmlich zu betrachten und gegen aufdringlichen Fortschritt zu verteidigen, gemeinsam mit anderen den Mut zum Unzeitgemäßen entwickeln – dies alles kostet nichts, bedarf keiner innovativen Erfindung, ist nicht von Mehrheiten abhängig, verstößt gegen kein Gesetz und benötigt vor allem keines. Ein friedlicher und fröhlicher Aufstand der sich Verweigernden – besser noch: ein maßvoller Wohlstands- und Technologieboykott – verbleibt als letzter Ausweg. Die Zeit der Ausreden ist vorbei.

 

 

Während die europäische Politik den Klimawandel in die Fußnoten verbannt, scheinen die Kipppunkte des globalen Klimasystems in der Arktis überschritten zu werden

Der Sommer 2019 könnte als die große Umbruchszeit in die Menschheitsgeschichte eingehen, in der das Überschreiten der Kipppunke des globalen Klimasystems evident wurde - falls in den kommenden Dekaden überhaupt noch so etwas wie Geschichtswissenschaft betrieben werden sollte.

Eine monströse wissenschaftliche Fehleinschätzung wurde etwa Mitte Juni aus der kanadischen Arktis gemeldet. Das Auftauen des Permafrostbodens in vielen arktischen Regionen Kanadas [1] schreitet viel schneller voran, als ursprünglich von der Klimawissenschaft prognostiziert.

Der ökologisch verheerende Auftauprozess der seit Jahrmillionen gefrorenen Böden schreitet demnach viel schneller voran, als selbst die pessimistischsten wissenschaftlichen Studien annahmen. Demnach soll das Auftauen des Permafrosts inzwischen so weit vorangeschritten sein, wie es in den aktuellen Szenarien des Weltklimarates (IPCC) für das Jahr 2090 prognostiziert wurde. Die Klimawissenschaft hat sich somit um rund 70 Jahre in dieser entscheidensten aller wissenschaftlichen Fragen verkalkuliert.

Die an den Untersuchungen in der kanadischen Arktis beteiligen Wissenschaftler erklärten laut der Tageszeitung [2] rundweg: "An allen untersuchten Stellen traf oder übertraf die maximale Auftautiefe seit 2003 die in einem Szenario des UN-Weltklimarats IPCC für 2090 prognostizierten Werte."

Das Auftauen der Permafrostböden schreite demnach seit 2003 doppelt bis nahezu dreimal so schnell voran wie in den Dekaden zuvor, da das arktische Ökosystem besonders sensibel auf klimatische Veränderungen reagiere. Eine Reihe sehr heißer arktischer Sommer und die fehlende nennenswerte Vegetationsschicht sorgten dafür, dass die Böden in der Arktis besonders schnell auftauten.

Grönland: Neue Rekordwerte

Ähnlich dramatisch entwickelt sich die Lage in Grönland, wo die Eisschmelze neue Rekordwerte [3] erreicht. Bei Temperaturen von bis zu 20 Grad Celsius im Süden und deutlichen Plusgraden im Norden bilden sich in weiten Regionen regelrechte Schmelzwasserseen auf dem Eispanzer Grönlands, der dadurch immer schneller abtaut, da das Wasser die Sonneneinstrahlung nicht so stark reflektiert wie Eis.

Der Eispanzer im nördlichen Eismeer der arktischen Region verzeichnete im Juni ebenfalls einen Negativrekord. Derzeit sind nur noch 10,8 Millionen Quadratkilometer von Meereis bedeckt, während es im langfristigen Mittelwert rund 12 Millionen Quadratkilometer waren.

Die arktische Eisdecke, die einen Großteil der Sonneneinstrahlung im hohen Norden reflektiert, ist in vielen Regionen in einem "sprunghaften" Schmelzprozess. Das Seeeis in der Beringsee [4] scheint bereits weitgehend verschwunden zu sein. Schon im März - zu einer Jahreszeit, in der die Eisdecke in der Region noch wachsen müsste - wurde die Beringsee als "nahezu Eisfrei" gemeldet.

Gegenüber den langjährigen Trends fehlte in der Region eine Eisdecke, die der Fläche der US-Bundesstaaten Kalifornien und Montana entspricht. Ähnlich verhält es sich in vielen weiteren Regionen der Arktis, wo das Schrumpfen der sommerlichen Eisdecke [5] die langjährigen Durchschnittswerte in extremer Weise übersteigt.

In Alaska, in direkter Nachbarschaft der nahezu eisfreien Beringsee, verwüstete eine Hitzewelle mit Temperaturen von mehr als 20 Grad Celsius über den Durchschnittswerten [6] ganze Ökosysteme. Reihenweise wurden neue, extreme Wärmerekorde gemeldet. Die Infrastruktur des nördlichsten US-Bundesstaates ist empfindlich gestört, da die übliche Fortbewegung über gefrorene Flüsse oder Meereis nicht möglich ist - mehrere Menschen kamen bereits ums Leben, nachdem das für gewöhnlich stabile Eis unter ihren Schneemobilen einbrach.

Folglich werden auch die Vorhersagen für den Anstieg des Meeresspiegels [7] immer dramatischer - die viel zu optimistischen wissenschaftlichen Prognosen des IPCC wurden auch hier längst von der Klimarealität überholt. Die Vorhersagen des Weltklimarates seien bereits "Makulatur", meldete etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung, da laut neusten Umfragen unter Klimawissenschaftlern der Anstieg des Meeresspiegels "mit einiger Wahrscheinlichkeit zwei- bis dreimal so hoch ausfallen" werde, als bislang angenommen.

Die neuen, realistischen Prognosen gehen von 62 bis 238 Zentimetern aus - also bis zu mehr als zwei Metern. Vor sechs Jahren warnte der IPCC noch vor einem Anstieg von 35 bis 94 Zentimetern bis zum Jahr 2100. Die Folgen dieses Anstiegs wären laut den befragten Polarforschern schlicht katastrophal: Im Endergebnis bedeutete dies einen weltweiten "Verlust von 1,79 Millionen Quadratkilometern Küstenfläche, inklusive der darin enthalten Landwirtschaftsflächen, sowie die Umsiedlung von bis zu 187 Millionen Menschen."

Sibirische Methanexplosionen

Abschmelzendes Meereis und auftauender Permafrost bilden sogenannte Kipppunkte des Weltklimasystems, weil sie nach der Überschreitung eines quantitativen Schwellwerts das globale Klima in eine andere Qualität überführen. Dieser dialektische Umschlag von Quantität [8] (steigende CO2-Konzentration) in Qualität (Globaler Umbruch des Klimasystems) wird von der Klimawissenschaft als eine Reihe positiver Rückkopplungseffekte begriffen, die zu einer irreversiblen globalen Beschleunigung des Treibhauseffektes führen. Der Klimawandel wird gewissermaßen zu einem "Selbstläufer".

Bei einem, nun mittelfristig drohenden Verschwinden der Eisdecke im hohen Norden würde sich dieser globale "Kühlschrank" des Klimasystems, der durch seine weiße Oberfläche besonders viel Sonnenlicht reflektiert, in eine globale "Heizung" verwandeln, da Wasser bekanntlich besonders gut Wärme speichert. Diese Entwicklung würde somit die Erwärmung beschleunigen.

Im Permafrost und dem Methanhydrat in den arktischen Meeren sind zudem gigantische Mengen an Methan gespeichert, die nun verstärkt freigesetzt werden. Methan ist als Treibhausgas rund 30-mal so wirksam wie CO2, was bei einem massiven Freisetzen zu einer abermaligen, dramatischen Verstärkung - dem besagten Rückkopplungseffekt - des Klimawandels beitragen würde.

In sibirischen Permafrost scheint dieser Prozess bereits eingesetzt zu haben. Dort bilden sich tausende von unterirdischen Methanblasen, die nun aus den schmelzenden Erdschichten aufsteigen [9] und zu platzen drohen. Die "mysteriösen Krater" in Sibirien, die in den letzten Jahren auftauchten und wegen ihres Aussehens als "schwarze Löcher" bezeichnet wurden, sind gerade auf diesen Prozess zurückzuführen - auf Methanblasen, die "sich im Untergrund gebildet hatten, bis der Druck zu groß wurde und sie sich schlagartig entleerten".

Die Zunahme dieser Gasblasen sei laut Wissenschaftlern auf den sehr heißen Sommer des vergangenen Jahres zurückzuführen, als die Temperaturen in eigenen Regionen Sibiriens auf bis zu 35 Grad Celsius kletterten. Mitunter explodieren diese Methanblasen. Die Explosionen seien - etwa bei einem Vorfall aus dem Jahr 2013 - noch in einer Entfernung von hundert Kilometern zu hören gewesen.

Überfluteter Endzeitbunker

Die schon seit Dekaden gegebene Tendenz des Wissenschaftsbetriebs, die Dynamik des Klimawandels massiv zu unterschätzen, trat bereits 2017 deutlich zutage, als der berühmte "Doomsday Vault" überflutet [10] wurde. Diesen apokalyptischen Spitznamen trägt ein 2008 fertiggestelltes Projekt [11] der norwegischen Regierung, die auf Spitzbergen einen globalen Saatgut-Tresor gebaut hat: den Svalbard Global Seed Vault (Wer profitiert von der "Arche Noah" für Kulturpflanzen? [12])

Im "ewigen Eis" der arktischen Inselgruppe sollte die Saatgutvielfalt der Welt katastrophensicher über lange Zeiträume gelagert werden - um einen postapokalyptischen Neuanfang zu ermöglichen, wie Kritiker dieses Unterfangens scherzten. Doch nicht einmal zehn Jahre nach der Inbetriebnahme des Tresors ist dieser im Mai 2017 durch Schmelzwasser beschädigt worden.

Der für die Ewigkeit bestimmte Tresor musste aufwendig gesichert werden, da die "globale Erwärmung einen außergewöhnlichen Temperaturanstieg" in der Region verursachte, der Schmelzwasser produziert hat, das in den Tresor eingedrungen ist.

Dieser Vorfall um den norwegischen "Endzeitbunker" illustrierte somit die verhängnisvolle Diskrepanz zwischen den Prognosen der Klimawissenschaft und der tatsächlichen Dynamik des Klimawandels. Man hatte den Permafrostboden Spitzbergens als Aufbewahrungsort ausgewählt, weil die Wissenschaft noch 2008 davon ausging, dass er auf Dauer gefroren bleiben würde.

Im Mainstream der Klimawissenschaft kam damals niemand auf die Idee, dass der Klimawandel sich dermaßen dramatisch beschleunigen und das Eis der Arktis sehr rasch zu tauen beginnen würde.

Wissenschaftler warnen inzwischen offen davor, dass der Menschheit noch fünf Jahre [13] bleiben, um "sich vor dem Klimawandel zu retten". Der Klimawandel droht somit, außer Kontrolle zu geraten - jetzt und hier, nicht erst in ein paar Dekaden oder Jahren.

Was macht die Politik? Bundeskanzlerin Merkel samt ihrer beständig in den Umfragen abschmelzenden "Großen Koalition" hat sich in den vergangenen Jahren vor allem bei der effektiven machtpolitischen Verhinderung nennenswerter Klimaschutzpolitik [14] auf europäischer Ebene hervorgetan - im Auftrag der deutschen Industrie.

Politik zwischen Ignoranz und ökologischen Amoklauf

Beim jüngsten EU-Gipfel wurde die angepeilte postulierte Klimaneutralität der EU bis 2050, die angesichts der aktuellen klimatischen Entwicklung absolut ungenügend ist, in eine Fußnote [15] verbannt, da keine Einigkeit bezüglich der Klimaziele hergestellt werden konnte. Diesmal ließ Berlin osteuropäischen Länder wie Polen, Ungarn oder Tschechien beim Blockieren der Klimaschutzmaßnahmen den Vorzug.

Und nahezu überall, nicht nur in Polen oder Ungarn, ist es die politische Rechte in all ihren Abstufungen von konservativ, über populistisch bis extremistisch, die inzwischen die Avantgarde dieser Politik der Klimazerstörung bildet: Merkels CDU samt den Klimaleugnern der AfD in Deutschland, der Rechtspopulist Trump in den USA - oder der Rechtsextremist Bolsonaro in Brasilien, dessen Regierung inzwischen einen wütenden Generalangriff auf die Biosphäre des größten südamerikanischen entfacht hat. Gerade in Brasilien sind die desaströsen ökologischen Folgen rechter Politik schon jetzt evident.

Es ist eine Art ökologischer Plünderungsökonomie, die der Rechtsextremist im Präsidentenamt Brasiliens im Interesse der heimischen Agraroligarchie und transnationaler Chemie- und Agrarkonzerne entfacht hat. Der Raubbau an dem Regenwald Brasiliens - der ebenfalls als ein Kipppunkt des globalen Klimasystems gilt - schreitet inzwischen mit einer Geschwindigkeit voran, wie sie in der vergangenen Dekade nicht mehr registriert [16] wurde.

Schon im Januar hat Bolsonaro angekündigt, den Amazonas für die "Ausbeutung von Ressourcen" zu öffnen. Mit Bolsonaro an der Macht fühlten sich "Leute, die den Wald vernichten, sicher, während diejenigen, die ihn beschützen, bedroht werden", klagte ein Greenpeace-Sprecher gegenüber Reuters.

Zugleich machte die rechtsextreme Regierung Brasiliens den Agrarsektor des Landes zu einem Eldorado [17] für die globale Chemiebranche. Knapp 200 vormals verbotene Pestizide und Chemikalien wurden genehmigt, darunter auch "Unkrautvernichter" mit dem umstrittenen, höchstwahrscheinlich krebserregenden Bayer-Herbizid Glyphosat.

Die Folge: Rund 500 Millionen Bienen, unverzichtbar für den Anbau vieler Nutzpflanzen, sind binnen dreier Monate in Brasilien verendet. In einigen landwirtschaftlichen Regionen ist die Bienenpopulation um bis zu 80 Prozent eingebrochen.

Die Agrar- und Umweltpolitik der Regierung Bolsonaro gleicht somit einem ökologischen Amoklauf - an dessen Ende bekanntlich der Selbstmord steht. Für die EU ist der Rechtsextremist aus Brasilia aber ein Mann, mit dem man gerne Geschäfte macht.

Brüssel forciere derzeit seine Bemühungen, mit den Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay ein Freihandelsabkommen [18] zu schließen, meldete jüngst die Frankfurter Rundschau (FR). Der brasilianische Präsident Bolsonaro holze den Regenwald ab, gebe indigenes Land für die industrielle Landwirtschaft frei, er drohe mit dem Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen und er "behindert die Zivilgesellschaft", so die FR. Die EU belohne ihn dafür "mit einem lukrativen Deal".

Kapitalistischer Wachstumszwang und Weltvernichtung

Die zivilisationsbedrohende Unfähigkeit des kapitalistischen Systems, der Klimakrise effektiv zu begegnen, kommt klar in dem abermals steigenden CO2-Emissionen zum Ausdruck. Diese sind 2018 um ganze zwei Prozent [19] angestiegen - dies war der größte Anstieg seit dem Jahr 2011. Von einer Reduzierung, einem raschen Abbau der Emissionen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise kann keine Rede sein, dies ist ein empirischer Fakt.

Weite Teile der Welt drohen aufgrund der zunehmenden Erderwärmung schlicht unbewohnbar zu werden, wie etwa die letzte, buchstäblich mörderische Hitzewelle in Indien veranschaulichte, wo lebensfeindliche Rekordtemperaturen von bis zu 50 Grad Celsius [20] zu Tausenden von Toten führten. Die ökologische Krise löste aufgrund des zunehmenden Wassermangels soziale Unruhen aus, bei denen Hunderte von Demonstranten verhaftet [21] wurden. Millionen Menschen laufen derzeit Gefahr, allein auf dem indischen Subkontinent den Zugang zu brauchbarem Trinkwasser zu verlieren.

Und dennoch muss aus Geld mehr Geld gemacht werden. Der Wachstumszwang des Kapitals, das durch eine fetischistische Eigendynamik [22] der höchstmöglichen Verwertung angetrieben wird, verbrennt die konkrete Welt samt den ökologischen Lebensgrundlagen der Menschheit, um abstrakten Reichtum zu uferlos akkumulieren. Deswegen verpuffen auch alle Impulse der Politik, diesen Prozess irrationaler Weltverbrennung [23] zu revidieren - er käme einer Kapitalvernichtung gleich.

Es liegt folglich angesichts der aktuellen Entwicklungen offen auf der Hand, dass eben dieses blindwütig amoklaufende Kapitalverhältnis schnellstmöglich in Geschichte überführt werden muss, sollte die Menschheit mittelfristig noch eine Überlebenschance behalten.

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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.theguardian.com/environment/2019/jun/18/arctic-permafrost-canada-science-climate-crisis
[2] https://taz.de/Hitze-in-der-Arktis-ueberrascht-Forscher/!5604245/
[3] https://www.wetteronline.de/klimawandel/arktis-erwaermt-sich-rasant-rekord-eisschmelze-auf-groenland-2019-06-17-gr
[4] https://www.axios.com/bering-sea-ice-vanishing-a23bacda-a08d-4ec7-9124-419b90b984a2.html
[5] https://www.axios.com/arctic-melt-climate-change-canada-e83ec6a3-6061-402f-92c5-4c887aa603fb.html
[6] https://www.smithsonianmag.com/science-nature/record-breaking-heat-alaska-wreaks-havoc-communities-and-ecosystems-180972317
[7] https://www.faz.net/aktuell/wissen/klimawandel-polarforscher-verschaerfen-warnung-vor-eisschmelze-16198864.html
[8] https://www.heise.de/tp/features/Die-Dialektik-des-Klimawandels-3364883.html
[9] https://www.spektrum.de/news/7000-gasblasen-woelben-sich-in-sibirien-auf/1443175?fbclid=IwAR2AIaMp_I3Fo9HnB0rCbqOuru44mnWJ0_x1MO4PV7osWo2dUvp8n4m3Xm0
[10] https://www.theguardian.com/environment/2017/may/19/arctic-stronghold-of-worlds-seeds-flooded-after-permafrost-melts
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Svalbard_Global_Seed_Vault#Gef%C3%A4hrdung_durch_Globale_Erw%C3%A4rmung
[12] https://www.heise.de/tp/features/Wer-profitiert-von-der-Arche-Noah-fuer-Kulturpflanzen-3381166.html
[13] https://www.forbes.com/sites/jeffmcmahon/2018/01/15/carbon-pollution-has-shoved-the-climate-backward-at-least-12-million-years-harvard-scientist-says
[14] https://www.heise.de/tp/features/Klimapolitischer-Schwindel-fuer-Fortgeschrittene-4210218.html?seite=all
[15] https://www.tagesschau.de/ausland/eu-gipfel-klimaziele-101.html
[16] https://www.commondreams.org/news/2019/06/05/we-are-literally-sawing-branch-we-all-live-amazon-deforestation-increasing-under
[17] https://netzfrauen.org/2019/05/30/bees-4/?fbclid=IwAR3hvxRJkl9X5MPFRD3WoU8uJcqEH8WcZTMx-iGLi2hQeeIt7Ct0c7vPw1s
[18] https://www.fr.de/meinung/freihandel-schlaegt-klimaschutz-12638438.html
[19] https://www.theguardian.com/business/2019/jun/11/energy-industry-carbon-emissions-bp-report-fossil-fuels
[20] https://www.derstandard.de/story/2000104231998/bereits-mehr-als-1-000-tote-bei-extremer-hitze-in
[21] https://edition.cnn.com/2019/06/20/india/chennai-water-crisis-intl-hnk/index.html
[22] https://www.heise.de/tp/features/Die-subjektlose-Herrschaft-des-Kapitals-4406088.html
[23] https://www.heise.de/tp/features/Kapital-als-Klimakiller-4043735.html?seite=all

Hallo Ihr Grünen, die Ihr mit uns gegen CETA auf die Straße gegangen seid!

Wir vertreten lokale Bündnisse, die bundesweit aus der Bewegung gegen CETA und TTIP hervorge-gangen sind. In unseren Reihen sind Vertreter*innen von Kirchen, Umweltverbänden, Gewerk-schaften und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen. Wir werden unterstützt von Parteien, anvielen Orten auch von Euch Grünen.

Die Fridays4Future-Bewegung bringt es auf den Punkt. Ohne entschiedenes politisches Handeln wird es für unsere Kinder keine Zukunft auf diesem Planeten geben. Die Bewegung wird von über 26.800 Wissenschaftler*innen bestärkt. Auch B’90/Die Grünen unterstützen die Einschätzung und Aktionen der jungen Leute. In dieser Situation erhaltet Ihr Grünen zusätzliche Wählerstimmen von Menschen, die auf Euer Umweltbewusstsein und auf Euer konsequentes Handeln vertrauen.

Indessen scheinen mehrere Landesverbände von B’90/Die Grünen aus unterschiedlichen Gründen bereit zu sein, CETA im Bundesrat zuzustimmen. Wie geht das zusammen? CETA hat höchst negative Auswirkungen auf Klima, Umwelt und Verbraucherschutz. Dies ist Euch wohlbekannt.

Wir verweisen auf den jüngsten Bericht der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD). Er bestätigt, dass Handelsverträge wie CETA die Demokratie zerstören und die staatliche Regulie-rungsfähigkeit massiv einschränken. Der Klimakrise, die der Bericht als das größte "Marktversagen" der Geschichte qualifiziert, sei nur durch starke staatliche Regulierungen beizukommen. Letztendlich fordert der Bericht die Rücknahme der Freihandels- und Investitionsabkommen, die den politischen Spielraum besonders zerstören.

Ihr könnt doch nicht mit 320.000 Menschen gegen TTIP und CETA demonstrieren und zwei Jahre später CETA durchwinken!

CETA wird im Bundesrat gestoppt, wenn sich die Bundesländer mit grüner Regierungsbeteiligung der Stimme enthalten. Wir erwarten, dass Ihr Wort haltet und CETA nicht zustimmt. Seit Jahrzehnten ist es ein übliches Verfahren im Bundesrat, dass ein Land sich der Stimme enthält, wenn sich Koalitions-partner nicht einig sind. Diese Vorgehensweise ausgerechnet bei einem Thema von derartiger Trag-weite außer Kraft zu setzen, wäre unverantwortlich – besonders gegenüber unseren Kindern.

Unser dringender Appell an Euch Grünen:

  • Tut alles, was in Eurer Macht steht, um den Klimawandel und CETA zu stoppen! Unterstützt keine Freihandelsverträge, die die Demokratie zerstören und das UN-Klimaabkommen gefährden!
  • Erklärt, dass gegebene Koalitionszusagen, im Bundesrat für CETA zu stimmen, in Anbetracht des fortgeschrittenen Klimawandels nicht eingehalten werden können!

 mehr Infos hier:

https://www.ceta-im-bundesrat.de

 

»Fridays For Future«: Die Welt kann nur jenseits des Kapitals vor dem Untergang gerettet werden, meint Tomasz Konicz

Es sind vernünftige, jedoch gemäßigte Forderungen, die von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der neuen Klimabewegung »Fridays For Future« erhoben werden. Ende Februar forderte die Galionsfigur der Bewegung, die Schwedin Greta Thunberg, in Brüssel eine Reduzierung der europäischen CO2-Emission um 80 Prozent bis 2030, was angesichts des viel rascher als prognostiziert voranschreiten Klimawandels durchaus als eine absolute Mindestvorgabe betrachtet werden kann. Die Welt könne nur durch das »Ändern der Regeln« gerettet werden, so die jugendliche Klimaaktivistin bei ihren viel beachteten öffentlichen Auftritten. »Alles« müsse sich ändern.

Bei solchen Aussagen schwingt die nur zu berechtigte Ahnung dessen mit, dass die Welt gerade nicht innerhalb des bestehenden spätkapitalistischen Systems »gerettet« werden kann. Dies bescheidene Mindestziel der Klimabewegung, die Sicherung der ökologischen Grundlagen der menschlichen Existenz auf dem Raumschiff Erde, ist nur jenseits des Kapitals erreichbar. Es sind in letzter Instanz keine korrupten Politiker oder gierigen Manager, die dem Überleben der Gattung Mensch im Weg stehen, sondern das Wesen und die inneren Widersprüche des Kapitalverhältnisses selber.

Kapital als Geld, dass durch Einsatz von Lohnarbeit, Maschinerie und Rohstoffen zu mehr Geld akkumuliert (G-W-G') wird, agiert global als eine unkontrollierbare, fetischistische Dynamik, als ein »automatisches Subjekt« (Marx). Es ist ein blinder Wachstumszwang, dem die konkrete Welt und die menschliche Gesellschaft als bloßes Material dienen, um immer größere Mengen abstrakten Reichtums anzuhäufen. Das Kapital ist ein irrationaler, zerstörerischer Selbstzweck, der sich gegenüber den Marktsubjekten, die ihn alltäglich erarbeiten, gesamtgesellschaftlich verselbstständigt.

Die Rationalität des einzelnen Unternehmers schlägt somit global in irrationale Weltverbrennung um. Nach jedem erfolgreichen Verwertungskreislauf steigt der Druck, dass vergrößerte Kapital neu zu »investieren«, indem mehr produziert wird, indem mehr Maschinen, Rohstoffe und Menschen verwertet werden. Selbst bei gleichbleibender Produktivität müssen immer größere Mengen von Ressourcen verfeuert werden, um die Wachstumsbewegung des Kapitals aufrechtzuerhalten. Gerade die unter enormen Ressourcen- und Energieaufwand hergestellten Waren, die das System ausstößt (PKWs, Elektroschrott), sind somit nicht primär auf ein möglichst langfristige Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet, sondern auf schnellen Konsum, auf Verschleiß, um möglichst schnell wieder eine Marktnachfrage herzustellen. Die zunehmenden Tendenzen für ein ständig neues Warendesign sind Folge dieses irrationalen Wachstumszwangs.

Beschleunigt wird dieser Wahnsinn durch Produktivitätssteigerungen innerhalb der Warenproduktion. Die zunehmende wirtschaftliche Effizienz, die eigentlich Grundvorastsetzung einer nachhaltigen gesellschaftlichen Reproduktion wäre, fungiert im Spätkapitalismus als »Verbrennungsbeschleuniger«. Die Lohnarbeit ist die einzige Ware, die mehr Wert schafft, als sie wert ist - sie ist die Quelle des Mehrwerts. Folglich sinkt bei steigender Produktivität (etwa durch Automatisierung) die in einer konkreten Ware vergegenständliche Menge abstrakter Arbeit, ihr Wert. Die Produktion muss folglich entsprechend erhöht werden, um dieselbe Wertmasse zu verwerten. Bei einer Steigerung der Produktivität der Autoproduktion zum Beispiel um zehn Prozent muss der Absatz entsprechend angekurbelt werden - ansonsten drohen rationalisierungsbedingte Entlassungen. Deswegen gilt: Je weiter die Produktivität der kapitalistischen Weltmaschine angekurbelt wird, desto größer ihr Ressourcenhunger bei der irrationalen Akkumulation abstrakten Reichtums.

Die lohnabhängigen Eltern der Kinder, die nun zu Zehntausenden für ihr buchstäbliches Überleben streiken, befinden sich in einer kapitalistischen Ausweglosigkeit: Da unterm Kapital nur das eine Existenzberechtigung hat, was direkt oder indirekt zu dessen Wachstumswahn beiträgt, können Lohnabhängige sich dieser amoklaufenden Weltverbrennungsdynamik, deren ohnmächtiger Akteur sie sind, nur um den Preis der eigenen Verelendung verweigern. Mittellosigkeit jetzt oder Klimakollaps später? Erst bei der Überwindung des kapitalistischen Wachstumswahns ließe sich diese Ausweglosigkeit auflösen.

Tomasz Konicz ist Publizist. Er schreibt vorwiegend zu Wirtschaftspolitik und Krisenanfälligkeit des Kapitalismus.

 


EU blockiert UN-Abkommen

Die UN verhandelt über ein Abkommen für die menschenrechtliche Regulierung der Wirtschaft. Doch die EU blockiert das mit Verfahrensfragen.

Frei zugängliche Notausgänge und Schutzkleidung für Arbeiten mit gefährlichen Substanzen sind nur zwei Beispiele für die Umsetzung von Menschenrechten in Unternehmen. Und zwei Beispiele für Standards, die immer wieder missachtet werden, was aber in der globalisierten Wirtschaft nur schwer zu ahnden ist.

Deshalb verhandeln die Vereinten Nationen (UN) derzeit wieder über ein völkerrechtliches Abkommen, das Staaten dazu verpflichten soll, die Menschenrechte entlang internationaler Lieferketten gesetzlich zu schützen. Bei der Sitzung des UN-Menschenrechtsrates in Genf will die EU den Verhandlungsprozess am Freitag allerdings mit formalen Einwänden zumindest zum Stocken bringen.

Verhandelt wird in der „Offenen zwischenstaatlichen Arbeitsgruppe des Menschenrechtsrates zur Verhandlung eines Abkommens über verbindliche Menschenrechtsnormen für Unternehmen“. Der Menschenrechtsrat der UN etablierte sie 2014 gegen die Stimmen Deutschlands und anderer nördlicher Industriestaaten. Seitdem gab es drei Verhandlungsrunden, am 15. Oktober soll die vierte beginnen.

Einige EU-Staaten stören sich am Vorsitz Ecuadors. Das Land hatte gemeinsam mit Südafrika den Prozess angestoßen. In seinem ersten, von Menschenrechtsverbänden gelobten Entwurf für ein Abkommen hatte Ecuador einen Internationalen Gerichtshof und harte Sanktionsmöglichkeiten vorgesehen. Seine Gegenspieler kritisierten das.

Formale Fehler
Bei der aktuellen Sitzung wollen die EU-VertreterInnen nun ein Statement vorlegen, in dem sie der Offenen Arbeitsgruppe vorwerfen, in den bisherigen Runden formale Fehler begangen zu haben. Unter anderem müssten die Vorsitzenden der Gremien laut den Verfahrensregeln für Hauptausschüsse der UN-Vollversammlung in New York in geheimer Abstimmung gewählt werden.

Der ecuadorianische Botschafter sei aber bisher stets per Akklamation zum Vorsitzenden bestimmt worden. Das gilt allerdings durchaus als zulässig, wenn die Mitgliedstaaten des jeweiligen Gremiums nicht auf einer geheimen Wahl bestehen.


Zudem behaupten die VertreterInnen der EU, das Verhandlungsmandat der Arbeitsgruppe müsse vom Menschenrechtsrat überprüft und erneuert werden. Dieser Vorwurf ist nicht neu, bereits 2017 waren Deutschland und andere EU-Staaten mit dem Versuch gescheitert, das Mandat auf diese Weise zu verändern und aufzuweichen.

Unverständliches Vorgehen der EU
Dass die deutsche Bundesregierung treibende Kraft bei dem Versuch ist, den Prozess über die EU ins Wanken zu bringen, bestätigten UN-Diplomaten anderer EU-Staaten der taz.

Die Treaty Alliance, eine Koalition internationaler Nichtregierungsorganisationen für ein UN-Abkommen mit möglichst verbindlichen Menschenrechtsnormen, findet das Vorgehen der EU unverständlich. Schließlich habe der ecuadorianische Vorsitzende in seinem inzwischen vorgelegten zweiten Entwurf zahlreiche Änderungswünsche aufgenommen.

Er enthält keine direkten Verpflichtungen mehr für Unternehmen, sondern nur noch für Staaten. Und er signalisiert Flexibilität bei Strafen und Sanktionen. Von einem Internationalen Gerichtshof ist keine Rede mehr.
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.... aus den Lerser*innen-Debatten:

Meiner Meinung nach einer der Gründe für den Rechtsruck und wachsenden Zulauf der AfD ist die unverändert schlechte Behandlung des sog. einfachen Arbeiters (bzw. der Arbeiterin) durch die unsichere Situation in Zeitarbeit.
Wenn in Produktionsstätten der Großteil der Angestellten in Zeitarbeit tätig sind und somit von einem auf den nächsten Tag "gekündigt" werden können, führt das in Verbindung mit der Schwemme an größtenteils schlecht deutsch verstehender Zuwanderer, zu einem Gefühl der Benachteiligung bzw. Ignoranz durch die Politik.............

...... Die geplanten Neuerungen wären alleine schon im Sinne einer (zumindest ansatzweisen) Regulierung der weltweiten Migrationsströme dringend nötig. Wenn die deutsche Politik sie trotzdem nicht unterstützt, dann weil sie vor den Chefs der großen deutschen Unternehmen noch immer viel mehr Angst hat, als vor AfD und Pegida zusammen.
Deutsche Konzerne profitieren von miesen Arbeitsbedingungen in „Entwicklungs-Ländern“ gleich dreifach. Erstens dadurch, dass sie konkurrenzlos billig produzieren lassen können, wenn sie weder Sozial- noch Umwelt-Standards einhalten müssen. Sie können, zweitens ihr größeres (in Europa geerntetes) Know-how voll ausspielen den einheimischen Betriebe gegenüber. Außerdem können sie deutsche Beschäftigte und damit „die Politik“, die sich ja wählen lassen will, erpressen.
Würden international einheitliche Standards gelten, hätten große deutsche Unternehmen vielleicht bald viel weniger Macht als heute noch. Ihre Bereitschaft zu Unmenschlichkeit würde schlicht nicht mehr so sehr honoriert. Sie müssten statt dessen wieder mit Qualität punkten. Davor haben sie offenbar große Angst. Sparen soll ja schließlich Trumpf bleiben in Deutschland.
Müssten im Ausland die selben Standards eingehalten werden wie in Deutschland, würde der Standort Deutschland wieder attraktiver. Die im Schnitt schlechtere Ausbildung der Arbeiter in Billiglohn-Ländern, die schwächere Logistik dieser Staaten u.ä. Nachteile würden dann mehr ins Gewicht fallen. Deutsche Unternehmen könnten deutschen Gewerkschaften und Politikern gegenüber nicht mehr so leicht damit drohen, die Produktion ins Ausland zu verlagern.
Für deutsche Politiker gibt es eigentlich nur einen einzigen Haken: Sie könnten sich womöglich künftig nicht mehr als Vertreter einer Wirtschafts-Weltmeister-Nation hofieren lassen und würden auf Normalmaß geschrumpft. Offenbar keine besonders rosigen Aussichten...