Ukraine-Gipfel in London fordert in Absetzung von den USA europäischen „Friedensplan“ und „Koalition der Willigen“ für die Ukraine. Berlin erwägt Schuldenprogramme vor allem zur Aufrüstung von bis zu 900 Milliarden Euro.

 

 

BERLIN/LONDON/PARIS (Eigener Bericht) – Frankreich, Großbritannien und „ein bis zwei“ weitere NATO-Staaten Europas wollen einen Friedensplan für die Ukraine erarbeiten und eine „Koalition der Willigen“ zur Entsendung sogenannter Friedenstruppen schmieden. Dies ist das Ergebnis eines Ukraine-Sondergipfels, der am gestrigen Sonntag in London stattgefunden hat. Zuvor hatte ein Eklat zwischen den Präsidenten der USA und der Ukraine im Weißen Haus die Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und den Ländern Europas weiter verschärft und die Forderungen nach europäischer Eigenständigkeit anschwellen lassen. Der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europaparlament etwa, Manfred Weber (CSU), verlangt, „Europa“ müsse sich „jetzt eigenständig bewaffnen“ und „die ersten Schritte zur europäischen Armee gehen“. Außenministerin Annalena Baerbock dringt angesichts der gegenwärtigen französisch-britischen Initiative in Sachen Ukraine-Krieg darauf, nun müsse Deutschland „Führung einnehmen“. CDU/CSU und SPD bereiten laut Berichten derzeit neue Schuldenprogramme vor, die bis zu 900 Milliarden Euro betragen können und vor allem der Aufrüstung dienen. Zudem werden Pläne für einen europäischen Nuklearschirm geschmiedet.

„Der Riese Europa wacht auf“

Auf dem Sondergipfel am Sonntag in London haben sich 14 europäische NATO-Mitglieder, Kanada und die Ukraine auf ein gemeinsames Vorgehen mit Blick auf den Ukraine-Krieg geeinigt – so weit wie möglich ohne Rückgriff auf die USA. Demnach wollen Frankreich und Großbritannien sowie eventuell ein bis zwei weitere Staaten einen Friedensplan für die Ukraine entwerfen. Anschließend soll eine „Koalition der Willigen“ geschmiedet werden, um Truppen zur Friedenssicherung in die Ukraine zu entsenden. Den Grundstock dafür könnten Frankreich und Großbritannien stellen, die seit 2010 militärisch eng zusammenarbeiten und auf der Basis dieser Militärkooperation bereits im Jahr 2011 den Libyen-Krieg führten.[1] Paris und London stimmen sich auch bezüglich ihres Vorgehens im Ukraine-Krieg seit einiger Zeit sorgfältig ab. Im Hinblick darauf verlangte Außenministerin Annalena Baerbock bereits am Samstag, jetzt müsse Deutschland „Führung einnehmen“; sie behauptete: „Die Welt schaut auf uns“.[2] Nach dem Eklat zwischen US-Präsident Donald Trump sowie seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj am Freitag hatte die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas geäußert, es sei klar, „dass die freie Welt einen neuen Anführer braucht“; es sei nun „an uns, den Europäern“, diese „Herausforderung anzunehmen“. Polens Ministerpräsident Donald Tusk erklärte, „Europa“ sei „ein Riese, der aufgewacht ist“.[3]

Transatlantische Spannungen

Unklar bleibt nach dem Sondergipfel, wie sich die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten und den USA in Zukunft entwickeln werden. Diese hatten sich in der vergangenen Woche weiter verschlechtert. Nachdem es der EU gelungen war, einen US-Entwurf für eine Resolution der UN-Generalversammlung gegen Washingtons Intentionen zu ändern, und die EU-Außenbeauftragte Kallas Trumps Pläne zur Beendigung des Ukraine-Kriegs als „schmutzigen Deal“ beschimpft hatte, sagte US-Außenminister Marco Rubio ein Treffen mit ihr kurzfristig ab, obwohl sie bereits in der US-Hauptstadt eingetroffen war.[4] Der Eklat am Freitag im Weißen Haus hat die Spannungen weiter verschärft. Hatte Trump Selenskyj zunächst vorgeworfen, sich einem Waffenstillstand zu versperren und damit nicht nur „das Leben von Millionen Menschen aufs Spiel“ zu setzen, sondern gar „einen Dritten Weltkrieg“ zu riskieren, so endete das Treffen schließlich in einem lautstarken Wortgefecht und in einer Demütigung Selenskyjs durch Trump und US-Vizepräsident JD Vance.[5] Dennoch sind besonders Großbritanniens Premierminister Keir Starmer sowie Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die Trump politisch sehr nahe steht, bestrebt, einen harten transatlantischen Bruch zu verhindern. Dieser wäre auch militärisch für Europas Streitkräfte fatal: Sie sind unter anderem auf US-Satellitendaten und auf weitere US-Unterstützung angewiesen.

„Eigenständig bewaffnen“

Auch deshalb nahmen die anwesenden Staaten Europas sowie die EU auf dem Londoner Sondergipfel Schritte zu einer massiven Aufrüstung in den Blick. Diverse europäische Länder würden „ihre Verteidigungsausgaben erhöhen“, teilte NATO-Generalsekretär Mark Rutte in einer Stellungnahme nach dem Treffen mit. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen forderte: „Wir müssen Europa dringend wiederbewaffnen“; zudem bestätigte sie, sie werde dem EU-Gipfel am Donnerstag einen „umfassenden Plan“ dafür vorlegen. „Nach einer langen Zeit zu geringer Investitionen“ in die europäischen Streitkräfte sei es „von äußerster Bedeutung“, „die Verteidigungsinvestitionen für eine lange Zeit aufzustocken“.[6] Bereits am Samstag hatte Außenministerin Baerbock verlangt, der EU-Sondergipfel am Donnerstag müsse klare „Entscheidungen für massive Investitionen in unsere gemeinsame europäische Verteidigungsfähigkeit“ fällen.[7] Am Sonntag hatte zudem Manfred Weber, Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europaparlament, geäußert, „wer nach Washington blick[e]“, der müsse „verstehen: Europa ist alleine und wir müssen uns jetzt eigenständig bewaffnen“.[8] Weber fügte hinzu, man müsse jetzt auch „die ersten Schritte zur europäischen Armee gehen“; dabei sei in der Vergangenheit „viel zu viel Zeit vertrödelt“ worden.

Bis zu 900 Milliarden Euro

Während die Aufrüstungspläne auf EU-Ebene am Donnerstag besprochen werden sollen, bereiten CDU/CSU und SPD laut Berichten nicht nur eines, sondern sogar gleich zwei neue Finanzierungspakete insbesondere zur Aufrüstung auf nationaler Ebene vor. Dabei soll es sich um zwei sogenannte Sondervermögen handeln – nach dem Modell der 100 Milliarden Euro, die die Bundesregierung nach dem russischen Angriff auf die Ukraine bereitgestellt hatte. Die Bezeichnung „Sondervermögen“ führt dabei nach Auskunft des Bundesrechnungshofs in die Irre; in Wirklichkeit handelt es sich eindeutig um „Sonderschulden“.[9] Die neuen Pläne basieren dabei auf Vorschlägen von vier bekannten deutschen Ökonomen [10], die einerseits für ein neues „Sondervermögen Bundeswehr“, andererseits für ein zweites „Sondervermögen Infrastruktur“ plädieren. Für ersteres raten sie zu einem Volumen von 400 Milliarden Euro, für letzteres zu einem Wert von 400 bis 500 Milliarden Euro.[11] Zum Vergleich: Das Budget der Bundesregierung für 2025 sieht laut aktuellem Stand Ausgaben in Höhe von knapp 489 Milliarden Euro vor. Die Bezeichnung „Infrastruktur“ führt dabei insofern in die Irre, als eine Instandsetzung etwa von Straßen und Brücken nicht zuletzt aus militärischen Gründen als erforderlich gilt: Zur Zeit ist der Transport etwa schwerer Panzer über Brücken nicht flächendeckend gesichert.[12]

Atommacht Europa

Darüber hinaus haben erste Überlegungen zum Aufbau eines von den Vereinigten Staaten unabhängigen Nuklearschirms über Europa begonnen. Der mutmaßliche künftige Bundeskanzler Friedrich Merz hat am Wochenende bestätigt, er wolle in nicht bloß in den Koalitionsverhandlungen, sondern „auch mit unseren Partnern in Europa“ besprechen, „ob es mit Frankreich oder Großbritannien“ in Richtung „atomare Teilhabe“ gehen könne.[13] Merz erteilte Überlegungen, Deutschland könne eigene Atomwaffen entwickeln und herstellen, zumindest vorläufig eine Absage. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gab sich für Merz‘ Vorstoß prinzipiell offen. „Wir haben einen Schutzschild, sie nicht“, sagte Macron am Wochenende: „Sie können nicht länger von der nuklearen Abschreckung der USA abhängen.“ Er schlug einen „strategischen Dialog“ auf europäischer Ebene vor. Für den Aufbau einer eigenständigen, von der NATO unabhängigen europäischen Streitmacht veranschlagte er fünf bis zehn Jahre.[14]

 

[1] S. dazu Die neue Entente Cordiale.

[2] Pressemitteilung: Zur Lage in der Ukraine sowie zur europäischen Sicherheit erklärte Außenministerin Annalena Baerbock heute (01.03.) bei einem Statement im Auswärtigen Amt. Berlin, 01.03.2025.

[3] Europe is a giant that has woken up, says Poland. thetimes.com 02.03.2025.

[4] Majid Sattar: Rubio versetzt Kallas. faz.net 27.02.2025.

[5] Peter Baker: Trump Berates Zelensky in Fiery Exchange at the White House. nytimes.com 28.02.2025.

[6] Starmer pledges £1.6 billion package for air defense missiles in Ukraine, says Europe is ‘at crossroads in history’. lemonde.fr 02.03.2025.

[7] Pressemitteilung: Zur Lage in der Ukraine sowie zur europäischen Sicherheit erklärte Außenministerin Annalena Baerbock heute (01.03.) bei einem Statement im Auswärtigen Amt. Berlin, 01.03.2025.

[8] „Europa ist alleine“: EVP-Chef Weber fordert europäische Armee. br.de 02.03.2025.

[9] Sondervermögen: Anzahl und finanziellen Umfang reduzieren. bundesrechnungshof.de. S. dazu „Deutschland kriegstauglich machen“.

[10] Es handelt sich um den Präsidenten des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, den Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), [12] S. dazu #

Michael Hüther, den Präsidenten des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW), und den Düsseldorfer Wirtschaftswissenschaftler Jens Südekum.

[11] Es geht um 800 Milliarden Euro. tagesspiegel.de 02.03.2025.

[12] S. dazu Freie Marschrouten und Damit die Panzer rollen.

[13] Berthold Kohler, Eckart Lohse, Konrad Schuller: „Es könnte auch ein für uns sehr schlechtes Szenario eintreten“. faz.net 28.02.2025.

[14] Europäer wollen Friedensplan entwerfen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 03.03.2025.

 

 

 Wer profitiert und wer verliert

 Stephan Kaufmann  

 Der kommende US-Präsident Donald Trump hat im Wahlkampf mehrfach angekündigt, Importgüter sofort nach Amtsantritt mit weiteren Zöllen zu belegen und ihnen so den Verkauf in den USA zu erschweren. Auf chinesische Waren sollen die Zölle 60 Prozent betragen, auf Waren aus allen anderen Regionen zehn bis 20 Prozent.

  • Ziele: Mit den Zöllen verfolgt Trump laut eigenen Aussagen verschiedene Ziele. Erstens soll die US-Industrie vor ausländischer Konkurrenz geschützt werden. Zweitens soll eine Abschottung des US-Marktes Unternehmen weltweit dazu bringen, ihre Produktionsstätten in die Vereinigten Staaten zu verlegen, um so den Zoll zu umgehen und gleichzeitig den Standort USA zu stärken. Drittens sollen die Zölle den wirtschaftlichen Aufstieg des geopolitischen Konkurrenten China bremsen. Vierter Punkt sind politische Ziele: So soll beispielsweise Mexiko zu einer strikteren Migrationskontrolle gebracht und Dänemark vielleicht zum Verkauf von Grönland an die USA motiviert werden. Fünftens schließlich sollen die Zölle dem US-Staat Einnahmen bescheren, um Trumps geplante Steuersenkungen gegenzufinanzieren.
  • Überfluss: Wenn Standorte Importzölle einführen, dann beschränken sie damit den Zugang ausländischer Konkurrenten zu ihrem Markt. Ausländische Ware soll Nachteile erhalten, inländische Ware dagegen bevorzugt werden. Es geht also um den Kampf eines gigantischen globalen Warenangebots um eine beschränkte zahlungsfähige Nachfrage der Käufer*innen. Grundproblem, mit dem die Welthandelspolitiker*innen konfrontiert sind, ist also kein Mangel an Gütern, sondern ein riesiger Überfluss. Dieser Überfluss führt derzeit in einen Weltwirtschaftskrieg um Absatzmärkte.
  • Folgen Ausland: Leidtragende der Trumpschen Pläne sind zunächst die Unternehmen außerhalb der USA. Denn die Zölle erhöhen ihre Kosten, wenn sie Waren in den USA verkaufen wollen. Wahrscheinliche Folge ist eine Preiserhöhung, also ein Wettbewerbsnachteil. Das Ifo-Institut schätzt, dass durch Trumps Zölle die deutschen Exporte in die USA um knapp 15 Prozent sinken könnten. Besonders getroffen wären die deutschen Auto-Exporte in die USA mit minus 32 Prozent und die Pharma-Exporte dorthin mit minus 35 Prozent. Chinas Exportverluste dürften noch deutlich höher ausfallen.
  • Folgen Inland: Zölle machen ausländische Ware in den USA teurer. Davon profitieren die US-Unternehmen, denn die Zölle machen ihre Güter gegenüber Auslandsware wettbewerbsfähiger. Für US-Konsument*innen wiederum werden ausländische Güter teurer, sie müssen also mehr bezahlen. Oder sie weichen auf inländische Güter aus, die allerdings teurer sind als die Importware vor der Zollerhebung. So oder so steigt durch die Zölle die Inflationsrate in den USA, das Leben der Menschen wird kostspieliger.
  • Verteilung: Laut Peterson Institute for International Economics (PIIE) werden Trumps Zölle einen durchschnittlichen US-Haushalt rund 2600 Dollar im Jahr kosten. Besonders betroffen seien davon die ärmeren Haushalte, die beispielsweise zu viel zu billigen chinesischen Konsumgütern greifen und die relativ viel ihres Haushaltsbudgets für den Konsum ausgeben. Profiteure sind dagegen die reichen Haushalte. Denn bei ihnen macht der Konsum einen kleineren Teil der Gesamtausgaben aus. Zweitens und wichtiger: Sie sind die Begünstigten der von Trump versprochenen Steuersenkungen, die mit den Zöllen finanziert werden sollen.

 

Trumps zielstrebige Willkür

Die Rechten und das Recht: Wie und warum der neue US-Präsident die regelbasierte Weltordnung umbaut

In der Wirtschaftswelt, unter Ökonomen, Bankern und Börsianerinnen gibt es derzeit nur ein Thema: Was geschieht, wenn nächste Woche Donald Trump sein Amt als US-Präsident antritt? Vielleicht passiert nicht viel, vielleicht wird es ein ausgewachsener Weltwirtschaftskrieg. Von fundamentaler »Unsicherheit« ist die Rede. Unsicher ist man sich nicht nur – wie sonst üblich – über die wirtschaftliche Konjunktur, sondern ganz grundsätzlich über die Bedingungen des globalen Geschäfts, dessen Regeln und Vorschriften. Denn Trump zielt auf den Umbau der globalen Rechtsordnung, nach der Geschäfte, Käufe und Investitionen abgewickelt werden. Damit legt er die Grundlagen der regelbasierten Weltordnung offen, ihren Widerspruch und ihren Nutzen für die USA.

Kritik an Globalisierung und Freihandel war früher eine Domäne der Linken. Inzwischen aber kommt die Unzufriedenheit von rechts. Ausgangspunkt ist dabei die Tatsache, dass alle großen Industriestaaten den Weltmarkt brauchen – andere Länder dienen ihnen als Zulieferer, Rohstoffquellen, Absatzmärkte, Investitionsstandorte. Für jeden mächtigen Kapitalstandort ist der Weltmarkt ökonomische Basis seiner Macht.

Doch diese Basis steht nicht unter souveräner Verfügung der jeweiligen Regierung. Vielmehr ist der Weltmarkt ein Set von Regeln, die die ökonomischen Konkurrenten miteinander vereinbart haben. Wer sie, wie Trump, ändern will, muss sich mit anderen Staaten ins Benehmen setzen. Das beklagen Rechte als nicht hinnehmbare Einschränkung ihrer nationalen Souveränität. In die Kritik geraten daher die Orte internationaler Kooperation, sei es die Nato, die EU oder die Welthandelsorganisation WTO, die die Einhaltung der vereinbarten Regeln des globalen Geschäfts überwacht. In ihr hat jeder Staat eine Stimme und kann daher auf Berücksichtigung seiner Interessen pochen.

Diese Form des Interessenausgleichs halten rechte Politiker wie Trump nicht aus. »America first«, fordert er und droht der Welt mit umfassenden Zöllen. Drängendstes Problem aus Trumps Sicht – und der des gesamten politischen Establishments – ist der Aufstieg Chinas zum Systemkonkurrenten der USA. Diesen Aufstieg nehmen die USA nun zum Anlass, die regelbasierte Welthandelsordnung zu revidieren. Das lässt darauf schließen, dass für sie die Sicherung der US-Dominanz der Zweck dieser Ordnung ist.

Um ihre Vormachtstellung neu zu sichern, muss die US-Regierung gegen eine internationale Rechtslage angehen, die sie einst mitverhandelt und der sie sich unterworfen hat. Denn die WTO-Regeln erlauben nur sehr begrenzt und nur unter sehr bestimmten Umständen die Erhebung von Zöllen. »Das WTO-Recht lässt es nicht zu, außerhalb des vereinbarten Rechtsrahmens unilaterale Maßnahmen zum Schutz eigener Wirtschaftsinteressen zu ergreifen«, schreibt Christian Tietje, Professor für internationales Wirtschaftsrecht an der Uni Halle auf dem Portal »Verfassungsblog«. Dies gelte auch für sogenannte Gegenmaßnahmen anderer Staaten.

Trumps Pläne beim Vorgehen gegen die geltenden Regeln sind allerdings nicht durch Willkür gekennzeichnet, die Rechtsförmigkeit wird mit viel juristischem Aufwand eingehalten. Nicht die Regellosigkeit setzt Trump gegen das geltende Recht, das ihm nicht passt, sondern den Vorrang des nationalen US-Rechts. Verschiedene US-Gesetze erlauben dem Präsidenten das Ergreifen handelspolitischer Maßnahmen. Zum Beispiel der International Emergency Power Act von 1977, der handelsbeschränkende Maßnahmen bei Bedrohung der nationalen Sicherheit oder Wirtschaft der USA ermöglicht. Als Ermächtigungsgrundlage geprüft wird derzeit auch der – lange in Vergessenheit geratene – Section 338 Tariff Act von 1930.

»Eine Welt, in der der Handel wächst, ist in Amerikas nationalem Interesse.«  Alan Wolff, Peterson Institute for International Economics

Ein weiterer juristischer Hebel ist der Section 301 Trade Act von 1974, mit dem unfaire Handelspraktiken dritter Staaten bestraft werden können. Dieses Instrument hatte Trump in seiner ersten Amtszeit bereits ausgiebig zur Begründung für Zölle benutzt. Die WTO stufte sie im Nachhinein zwar als rechtswidrig ein. Allerdings ist die WTO inzwischen weitgehend machtlos: Die US-Regierung unter Trump blockierte 2019 die Ernennung von Mitgliedern für das oberste Streitschlichtungsgremium der WTO. Seitdem kann sie keine einklagbaren Beschlüsse mehr fällen. »Die Vereinigten Staaten operieren damit teilweise außerhalb des WTO-Systems und damit außerhalb des formalen globalen Handelssystems«, erklärt Alan Wolff vom Peterson Institute for International Economics (PIIE) in Washington. Und mit den von Trump nun angekündigten neuen Zöllen stellt sich laut Jurist Tietje »sehr grundsätzlich die Frage, welche Funktion dem Recht in der politischen Ausgestaltung der Welthandelsordnung überhaupt noch zukommt«.

 Die neue US-Regierung scheint von der Funktion des Rechts eine klare Vorstellung zu haben. Sie zielt nicht auf eine Willkürherrschaft in einem »Wild-West-System« (Allianz Risikobericht 2025). Schließlich braucht das kapitalistische Weltgeschäft eindeutige Regeln, die für Investoren, Käufer und Verkäufer Berechenbarkeit schaffen. Denn nur verbindliche Vorschriften geben dem Gegeneinander der globalen Konkurrenz eine einigermaßen haltbare Verlaufsform. Die aktuell beklagte »Unsicherheit« ist Gift für das Geschäft. »Die Alternative zur WTO«, warnt Wolff, »wäre, dass es keine Verständigung darüber gibt, was als normal oder akzeptabel gilt«.

 Der Welthandel braucht also verbindliche Regeln – und die USA brauchen den Welthandel. Denn das globale Handelssystem ist integraler Teil der US-dominierten Weltordnung – quasi die »Ergänzung zu Amerikas politischen und militärischen Allianzen«, erklärt Wolff. Diese Weltordnung hätten die USA als Bollwerk gegen die Bedrohung durch autoritäre Staaten geschaffen. »Eine Welt, in der der Handel wächst und die Wirtschaften relativ offen sind, ist daher in Amerikas nationalem Sicherheitsinteresse.«

 Bei der Schaffung einer Weltordnung, die die Dominanz der USA festigt, kann sich Trump also nicht auf puren Zwang verlassen. Er braucht die Kooperation der Konkurrenten und muss daher zumindest den Anschein wahren, die regelbasierte Weltordnung sei eine Vereinbarung zwischen formell gleichberechtigten Partnern. Gleichzeitig sollen diese Partner eingespannt werden für die US-Interessen – die Bedienung dieser Interessen soll quasi der Weltordnung eingeschrieben werden.

 Wie viele rechte Politiker schätzt Trump also die Bindungswirkung des Rechts. Gleichzeitig will er die nationalen Interessen der USA durch das Recht nicht beschränkt sehen. Das läuft konträr zu den Vorstellungen der Partnerländer, die eine Rechtsordnung akzeptieren würden, die ihre Interessen bedient und auch die USA bindet. In diesem Widerspruch verläuft der Kampf um die Beherrschung des Weltmarkts als Kampf um die Regeln, die auf diesem Markt gelten. Und in diesem Kampf haben die USA den längeren Hebel. Denn nur ihre überlegene Macht, ihr Geld und ihr Militär können den Weltmarkt zusammenhalten, den alle anderen brauchen. Auch die Freiheit des Welthandels beruht auf Gewalt.

 

Über den Tag hinaus

Zusammen ist es besser als allein: Es gibt mehr Aktionen und Gruppen für den Frieden als man denkt

Die wehmütigen Loblieder auf die mächtige Friedensbewegung der 1980er Jahre und die Abgesänge auf die Gegenwart täuschen leicht darüber hinweg: Man muss nicht auf die eine Großdemo warten, um sich friedenspolitisch zu engagieren. Es gibt weit mehr Möglichkeiten als viele denken. Im Veranstaltungskalender des Netzwerks Friedenskooperative finden sich allein für den Monat Oktober mehr als 120 Veranstaltungen in der gesamten Bundesrepublik, von Mahnwachen über Vorträge, Ausstellungen oder regionale Demonstrationen: Da spricht in Köln der Friedensaktivist Andreas Zumach über »Deutschlands (Irr)weg in die Verantwortung von der Wiedervereinigung bis zur Kriegstüchtigkeit«, in Nordrhein-Westfalen wird am Fliegerhorst Nörvenich gegen Atomwaffen demonstriert, jeden Mittwoch fordern Menschen in Dortmund mit Transparenten und Schildern in der Innenstadt »Deeskalieren! Die Waffen nieder! Verhandeln!«, in Halle dreht sich ein Fachgespräch um kommunale Friedensarbeit in Zeiten von Krieg, Krisen, Rechtsruck und in Frankfurt (Oder) diskutiert ein Podium über »Deutsche Außenpolitik in Nahost zwischen Völkerrecht und Staatsräson«.

Altes Netz mit größeren Maschen

Darüber berichtet nicht die »Tagesschau«, aber die Vielzahl der Veranstaltungen verweist darauf, dass es überall in der Republik Gruppen, Organisationen und Bündnisse gibt, die Alternativen zum Krieg stark machen. »Sie bilden die Basis, ohne die weder kleinere noch größere Mobilisierungen denkbar wären«, sagt Kristian Golla, Geschäftsführer vom Netzwerk Friedenskooperative.

Was die Geschichte lehrt: Es reicht nicht, nach der großen Demo zu rufen, man muss selbst etwas tun.

Die Organisation mit Sitz in Bonn ist Nachfolgerin der zentralen bundesweiten Organisation, die in den 80er Jahren die Großdemonstrationen gegen die Aufrüstung von Nato und Warschauer Pakt ausgerichtet hat. Sie bezeichnet sich heute als Service- und Informationsbüro für die Bewegung, vermittelt Referent*innen, gibt sechs Mal im Jahr die Zeitschrift »Friedensforum« heraus, koordiniert, unterstützt und organisiert Aktionen sowie Kampagnen, aktuell zum Beispiel gegen die Rekrutierung von Minderjährigen für die Bundeswehr. Gerade erst ließ die Friedenskooperative an vier aufeinanderfolgenden Samstagen im September Flugzeugbanner über deutschen Großstädten fliegen, mit dem Schriftzug: Ukraine-Krieg stoppen! frieden-verhandeln.de. Darüber hinaus werde innerhalb der Friedensbewegung derzeit »intensiv an einer neuen Kampagne gegen Mittelstreckenwaffenwaffen gearbeitet«, so Golla.

»Eine Großdemo braucht Vorlauf. Der 10. Oktober 1981 hatte zwei Jahre Vorbereitungszeit«, erinnert Golla an die erste große Demonstration der westdeutschen Friedensbewegung gegen nukleare Aufrüstung im Bonner Hofgarten mit 300 000 Menschen. Was die Geschichte auch lehrt: Es reicht nicht, nach der großen Demo zu rufen, man muss selbst etwas tun. Damals entstand ein dichtes Netz an Gruppen, es hat heute deutlich größere Maschen, aber es existiert noch.

Was nicht ist, kann ja noch werden

Allein auf der Website des Netzwerks Friedenskooperative lassen sich mehr als 250 Friedensgruppen finden. Bundesweite Organisationen mit lokalen Gliederungen wie die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) – die älteste aktive deutsche Friedensorganisation –, konfessionelle Friedensorganisationen wie Pax Christi, antifaschistische wie die VVN-BdA, berufsständische Organisationen, etwa Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), Zusammenschlüsse von Naturwissenschaftler*innen (Natwiss-Initiative) oder Jurist*innen (Ialana), von Frauen (Frauennetzwerk für Frieden) oder Gewerkschaftern. So gibt es bei Verdi das bundesweite »Netzwerk Frieden«, in München mobilisieren die lokalen Gliederungen von GEW und Verdi gerade gemeinsam zu einer Demonstration »Soziales rauf – Rüstung runter« – gegen Sozialabbau und Hochrüstung. Darüber hinaus und quer dazu finden sich Menschen auch um einzelne Thema herum zusammen, wie in der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), die 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Einige Angebote richten sich speziell an Jüngere, zum Beispiel das Jugendnetzwerk der DFG-VK oder das Projekt »Peace for Future« der Kampagne »Sicherheit neu denken«. Und nicht zuletzt gibt es noch dutzende lokale Gruppen, ob in Suhl, Frankfurt/Oder, Düren oder Bremen, die wahlweise Friedensinitiative, Friedenskreis oder Friedensnetz heißen. Viele Möglichkeiten also, wo man anklopfen kann, um Gleichgesinnte zu treffen und wenn man über den Tag hinaus etwas tun will für eine friedliche Welt.

Und was es nicht gibt, kann ja noch werden. Die Friedenskooperative unterstützt bei Gründung und Aufbau einer Friedensini und hat dafür auch einen Leitfaden entwickelt: »Erfolgreich als Friedensgruppe arbeiten. Von der Neugründung bis zur ersten Demo«. Checkliste erster Schritt: Eine*n oder mehrere voll motivierte »Friedensverrückte« finden.

www.friedenskooperative.de

Streit um den Frieden

Die Antikriegsdemo am 3. Oktober in Berlin wird von vielen Verbänden und der Linken unterstützt. Doch wichtige Organisationen gehen auf Distanz.

Soweit der Sternmarsch mit mehreren Kundgebungen, zu dem die Initiative »Nie wieder Krieg – die Waffen nieder« für den 3. Oktober nach Berlin mobilisiert, überhaupt in klassischen und »sozialen« Medien vorkommt, gibt es Stempel. Grundsätzlich wird das Wort Friedensdemo in Anführungszeichen gesetzt, die Veranstaltung wird als eine von »Putin-Knechten« tituliert. Der Grund: Im Veranstalteraufruf der Demo werden Verhandlungen und das Ende aller Waffenlieferungen an die Ukraine wie auch an Israel wegen seiner Kriegführung im Gazastreifen gefordert.

Ignoriert wird bei solcher Kritik, dass die Zahl derer, die die Demo unterstützen, wie auch die Zahl der Aufrufe mit eigenen Positionierungen groß, das politische Spektrum der Gruppen, die zur Teilnahme aufrufen, so breit wie jenes der Redner ist. Mancher nimmt diese Breite wiederum als Beleg dafür, dass es sich um eine »Querfront«-Veranstaltung handelt. Also um eine, die »nach rechts offen« ist. So sieht es jedenfalls Toni Schmitz, Sprecherin des Berliner Verbandes der altehrwürdigen Antikriegsorganisation Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK).

Da beginnt wohl das Problem für das zehnköpfige Organisatorenteam: In den Chor derer, die sich zum Teil lautstark von der Veranstaltung distanzieren, stimmen mit der DFG-VK wichtige linke und Friedensorganisationen ein: die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) und das globalisierungskritische Netzwerk Attac. Gleichzeitig mobilisieren aber einzelne Landesverbände und etliche Regionalgruppen der drei Organisationen zur Demo.

Der DFG-VK-Bundesverband distanzierte sich schon Ende August in einer ausführlichen Erklärung von den Veranstaltern und ihrem Aufruf, die Berliner DFG-VK ruft sogar zu einer Gegenaktion auf. Sie will vor der russischen Botschaft in Berlin mit »Leichensäcken« gegen das Verheizen Hunderttausender im Krieg gegen die Ukraine durch die russische Regierung protestieren.

Es spricht einiges dafür, gemeinsam gegen die wachsende Gefahr einer Ausweitung der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine wie auch im Gazastreifen, im Libanon und Israel auf das Zentrum Europas wie auch auf den Jemen und den Iran auf die Straße zu gehen. Und – das ist ein wesentliches Argument von Ralf Stegner – die Friedensfrage nicht Rechten und »Populisten« zu überlassen. Zu letzteren zählt der SPD-Bundestagsabgeordnete auch Sahra Wagenknecht, die wie er auf der Demo eine Rede halten will.

Das machte er am Donnerstag auch auf einer Pressekonferenz der Initiatoren der Demo deutlich. Stegner betonte auch, er sei kein Pazifist und für die Versorgung der Ukraine mit wirksamen Defensivwaffen. Er ist aber auch überzeugt, dass ein möglichst schnelles Ende von Tod, Traumatisierung, Verwundung und Zerstörung in der Ukraine nur mit mehr diplomatischen Initiativen auch Deutschlands möglich ist. Zugleich verwahrt sich Stegner immer wieder gegen den Vorwurf, er trete auf einer Veranstaltung des BSW auf, der Partei von Sahra Wagenknecht. Sie sei nur eine Rednerin, und die Veranstalter hätten sich klar gegen die Teilnahme von Rassisten, Rechten und Antisemiten verwahrt.

Für Michael Schulze von Glaßer, politischer Geschäftsführer der DFG-VK, ist die Distanzierung zumindest gegenüber Gruppierungen wie dem BSW und rechten Kräften nicht glaubwürdig. Er moniert wie Stephan Lindner von der Attac-Pressestelle, dass die Initiatoren der Demo eine Debatte über den Text des Aufrufs letztlich gar nicht zugelassen, sondern auf ihrem eigenen bestanden hätten.

Schulze zu Glaßer wie auch Lindner kritisieren, dass im Aufruf »an keiner Stelle erwähnt wird, wer den Krieg in der Ukraine begonnen hat«, so Lindner. Außerdem habe die Nie-wieder-Krieg-Gruppe sich geweigert, die Forderung nach »Schutz und Asyl für alle Menschen, die dem Krieg entfliehen wollen, insbesondere für Kriegsdienstverweiger*innen und Deserteur*innen aus Russland, Belarus und der Ukraine« in den Aufruf aufzunehmen. Das sei ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Aufruf auf Leute aus dem Wagenknecht-Lager und aus konservativen Kreisen zugeschnitten sei, meint Schulze zu Glaßer. Das BSW positioniert sich mittlerweile generell vehement gegen die Aufnahme Geflüchteter.

Innerhalb von DFG-VK wie auch Attac gibt es heftige interne Auseinandersetzungen darüber, mit wem man zusammen für Frieden demonstrieren darf und mit wem nicht. Das ist nicht erst seit dem Ukraine-Krieg so, sondern begann bereits im Zusammenhang mit der Coronakrise und sogar schon mit den Debatten um teils von Rechten vereinnahmte »Friedenswinter«-Demonstrationen im Jahr 2014. Seitdem gibt es auch Austritte und faktische Ausschlüsse. Wenige Tage vor der Demo haben Attac, DFG-VK und VVN auch eine Broschüre über »Versuche rechter und verschwörungsideologischer Einflussnahme auf die Friedensbewegung« veröffentlicht. Die Darstellungen des Autors Lucius Teidelbaum machen die Schwierigkeit deutlich, einerseits aktions- und bündnisfähig zu bleiben und sich andererseits von den »richtigen« Leuten abzugrenzen.

Die erste Handlungsempfehlung darin lautet: »Grundkonsens Antifaschismus«. Dies beinhaltet laut Teidelbaum eine »nachhaltige Distanzierung von Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen, von allen Spielarten der extremen Rechten und ihrer Türöffner*innen«. Dem Anspruch müsse »eine konkrete Praxis folgen«. Wie die dann aussehen kann, lässt der Autor offen, und auch Michael Schulze von Glaßer hat keine ganz klare Antwort darauf.

Als die DFG-VK als Teil des Bündnisses »Stoppt das Töten!« Ende 2022 zu einer Friedensdemo mobilisierte, hieß es im Aufruf dazu, für »Menschen aus dem nationalistischen und antidemokratischen Spektrum«, für Rassisten, Antisemiten und Sexisten sei dort ebenso »kein Platz« wie für Personen und Gruppen, die »wissenschaftsfeindlich« seien und »Verschwörungsmythen anhängen«. Solche sehr weitgehenden Ausschlüsse, so Schulze zu Glaßer im Gespräch mit »nd«, seien natürlich innerhalb des Verbandes kontrovers diskutiert worden. In späteren Demo-Aufrufen seien sie auch bereits wider viel weniger umfassend gewesen.

»Im Demo-Aufruf wird an keiner Stelle erwähnt, wer den Krieg in der Ukraine begonnen hat.«

Michael Schulze von Glaßer Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinte KriegsdienstgegnerInnen

Friedensaktivismus bleibt mithin eine Gratwanderung zwischen Forderungen, bei denen sich alle einig sind – aktuell dürfte das zumindest die Mobilisierung gegen die nur zwischen Kanzler Olaf Scholz und der US-Regierung vereinbarte Stationierung weitreichender Marschflugkörper in Deutschland sein – und jenen, bei denen es Differenzen gibt. Bei einigen Gruppen scheint das Bedürfnis nach Abgrenzung und einem »Sauber bleiben« größer zu sein als jenes, in wichtigen Fragen breite Bündnisse zu schmieden.

Toni Schmitz glaubt zwar schon, dass man Bündnispartner braucht. Doch manche Dinge stören sie und andere in der DFG-VK zu sehr, als dass sie noch eine Möglichkeit der Kooperation mit der »klassischen« Friedensbewegung sieht. Zum Beispiel liefere die »bisher so gut wie keine Ideen, wie gewaltfrei Druck auf Russland zur Beendigung des Krieges ausgeübt werden kann«. Aktionen wie jene der Anti-Atomkraft-Initiative »ausgestrahlt« gegen den russischen Konzern Rosatom, Proteste gegen andere Unternehmen mit russischer Beteiligung würden von der Friedensbewegung bislang »nicht beachtet«. »Gewaltfreie Druckmittel gegen die russische Regierung sind für uns aber die Voraussetzung, um auch seriös den Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine fordern zu können«, betont die Berliner DFG-VK-Sprecherin.

Stephan Lindner stört auch, dass auf der Berliner Demo zwei Frauen auf der Abschlusskundgebung sprechen werden, die sich aus seiner Sicht »nicht von der Terrororganisation Hamas« distanziert haben. Gemeint sind die Jüdin und Israelin Iris Hefets von der »Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost« und die deutsch-palästinensische Juristin Nadija Samour. Als Beleg für die fehlende Distanz zur Hamas bei beiden sieht Lindner ihre beabsichtigte Teilnahme am von der Polizei vor Beginn aufgelösten »Palästinakongress« Mitte April in Berlin, bei dem auch »Hamas-Sympathisanten« hätten auftreten sollen.

Während Attac und die VVN sich nicht offiziell zu der Demonstration erklärt haben, lieferte die DFG-VK wiederum eine ausführliche Erklärung mit sachlich formulierter Kritik, die dem Demo-Orga-Team vielleicht doch die eine oder andere Überlegung wert sein müsste. Zumindest, was demokratische und offene Debatten über Aufrufe betrifft, die fundierte Positionen linker Antimilitaristen betrifft. Trotz Skepsis nach Erfahrungen mit vorangegangenen Demonstrationen sei man »für die neue Demonstrationsplanung offen« gewesen, schreibt die DFG-VK-Spitze. Notwendig sei gemeinsames Agieren allemal, denn: »Die Aufrüstung in Europa schreitet gefährlich voran, und die sicherheitspolitische Lage spitzt sich immer weiter zu.« Allerdings habe sich schnell gezeigt, dass »eine inhaltliche Mitwirkung« nicht gewünscht gewesen sei. Der Aufruf sei von »Nie wieder Krieg« sehr schnell und ohne weitere Debatten veröffentlicht worden.

Zur Demo werde man die Mitglieder der DFG-VK nicht mobilisieren, weil sie trotz Möglichkeit zu eigenem Aufruf »später doch als Gesamtmasse unter dem mangelhaften Hauptaufruf subsumiert werden« würden.

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UN-Generaldebatte im Zeichen des Krieges: Kiews »Siegesplan« floppt, breite Kritik an Netanjahus Eskalationskurs

Jörg Kronauer

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hat während seines Besuchs in den USA anlässlich der diesjährigen UN-Generaldebatte weitere Unterstützungszusagen im Wert von mehreren Milliarden US-Dollar eingesammelt. US-Präsident Joseph Biden, mit dem Selenskij am Donnerstag abend im Weißen Haus zusammentraf, versprach »Militärhilfe« für rund 2,4 Milliarden US-Dollar, darunter ein »Patriot«-Flugabwehrsystem, Gleitbomben und Drohnen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um neue Mittel, sondern um Gelder, die bereits zuvor prinzipiell genehmigt worden waren. Sie wurden von Biden nun konkret freigegeben. Der scheidende US-Präsident sagte zudem zu, weitere bereits genehmigte Mittel – 5,5 Milliarden US-Dollar – nicht verfallen zu lassen, sondern sie bis zum Ende seiner Amtszeit abzurufen. Am Mittwoch abend hatte zudem ein Sprecher der Bundesregierung am Rande der Generaldebatte mitgeteilt, Berlin werde zusätzlich 170 Millionen Euro bereitstellen, um die ukrainische Energieversorgung wiederherzustellen.

Keinen Erfolg hatte Selenskij mit seinem angeblichen »Siegesplan«, den er Biden vorlegen wollte. Ein US-Regierungsmitarbeiter hatte sich bereits vorab mit der Aussage zitieren lassen, er sei von dem Plan »nicht beeindruckt«: Dieser umfasse nur altbekannte Forderungen nach mehr Waffen und mehr Geld. Die gleichfalls in dem »Siegesplan« enthaltene Forderung, weitreichende Raketen aus westlicher Produktion auf Ziele in Russland abfeuern zu dürfen, blieb ebenso unerfüllt; die US-Position dazu habe sich nicht geändert, bestätigte Bidens Sprecherin Karine Jean-Pierre. Für Freitag (Ortszeit) war noch ein Treffen von Selenskij mit Donald Trump geplant.

Dabei wird Selenskij sein ohnehin frostiges Verhältnis zu Trump mit einem Interview, das am vergangenen Sonntag im New Yorker erschien, nicht verbessert haben. In dem Interview hatte er Trumps Vizepräsidentschaftskandidaten James David ­Vance als »zu radikal« beschimpft und belehrt, er solle sich »in die Geschichte des Zweiten Weltkriegs einlesen«. Trump revanchierte sich, indem er am Mittwoch festhielt, Washington zahle »Milliarden von Dollar an einen Mann, der sich weigert, einen Deal einzugehen«. Dabei wäre, fuhr Trump fort, »jeder Deal besser gewesen als das, was wir jetzt haben«. Nun sei die Ukraine wohl irreparabel zerstört.

Vor dem für Freitag angekündigten und von Protesten begleiteten Auftritt des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu in der Generaldebatte war in New York breite Kritik an der israelischen Kriegspolitik laut geworden. Mahmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Nationalbehörde, hatte am Donnerstag verlangt, das Töten im Gazastreifen und im Westjordanland müsse umgehend aufhören: »Stoppt dieses Verbrechen. Stoppt Waffenlieferungen an Israel.« Guyanas Präsident Mohamed Irfaan Ali hatte am Mittwoch erklärt, »das Recht auf Selbstverteidigung« werde »als Massenvernichtungswaffe« instrumentalisiert. Lasse man Israel straflos davonkommen, dann könne sich künftig »kein Staat mehr sicher fühlen«.

Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) nutzte ihren Auftritt in der Generaldebatte am Donnerstag abend, um erneut die Waffenlieferungen an die Ukraine zu rechtfertigen. Zudem teilte sie mit, Deutschland werde für einen nichtständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat in den Jahren 2027 und 2028 kandidieren.  https://www.jungewelt.de/artikel/484657.ukraine-und-nahost-selenskij-sucht-fans.html

 

 

.... und noch eine Stimme "wider den Strom":

[Ein sozialdemokratische Stimme, uff, es gibt sie noch! (Anm. hn)  ... Auszug:]  25.06.2024 | Ernst Hillebrand - ist Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Budapest. Zuvor war er Referatsleiter der Internationalen Politikanalyse, des Referats für Mittel- und Osteuropa sowie Leiter der Büros in Warschau, Paris, London und Rom.

 

Eine seltsame Begeisterung für das Militärische hat dieses Land ergriffen und vor allem seinen politischen Betrieb. Der Berliner „Blob“, wie Hans Kundnani den wissenschaftlich-medial-politischen Hauptstadtkomplex vor kurzem nannte, kennt derzeit mehrheitlich nur eine Message: mehr Waffen, mehr Soldaten, mehr Geld für Rüstung. Stellt man dies nicht bereit, „kommt der Russe“.

Für an Fakten und Zahlen orientierte Staatsbürger sind diese Forderungen nicht ganz einfach zu verstehen. Egal welchen Indikator man sich anschaut, man kommt immer zu demselben Ergebnis: Die NATO ist Russland um ein Vielfaches überlegen. Vor allem die Forderung nach mehr Geld erscheint grotesk: Die kombinierten Rüstungsausgaben der NATO-Mitgliedstaaten überstiegen 2023 – einem Jahr, in dem Russland sich mitten in einem massiven konventionellen Krieg befand – die Russlands um knapp das Dreizehnfache: Fast 1,3 Billionen US-Dollar für die NATO stehen circa 110 Milliarden Dollar für Russland gegenüber. Auch wenn man den Anteil der USA abzieht, übersteigen die Rüstungsausgaben der europäischen NATO-Mitglieder die Russlands immer noch um das Dreifache. Seit Jahrzehnten besteht ein Militärausgaben-Verhältnis in einer Größenordnung von zehn zu eins zugunsten der NATO. Wenn das nicht zu genügend Sicherheit geführt hat – was dann?

Denn es ist ja nicht so, als bildeten sich diese Ausgaben nicht in militärischen Kapazitäten ab. Egal welche Indikatoren man heranzieht – rein numerische oder auch qualitativ bewertende –, ist die NATO Russland haushoch überlegen. Dies gilt, so das Webportal Global Firepower Index, selbst für Szenarien, in denen die NATO lediglich 25 Prozent ihrer Kapazitäten zum Einsatz bringt, Russland aber 75 Prozent.

Das Argument, ein russischer Angriff auf NATO-Territorium wäre nach einer Nicht-Niederlage in der Ukraine nur eine Frage der Zeit, wirkt entsprechend freihändig. Mit der Ukraine hat Russland als global zweitstärkste Militärmacht ein auf dem Papier militärisch vielfach unterlegenes Land angegriffen (Rang 18 im Global Firepower Index). Ein Angriff auf ein schwächeres Land hat eine innere militärische Logik: Man kann einen solchen Krieg gewinnen. Ein Angriff auf einen vielfach überlegenen Gegner hat sie nicht: Man kann diesen Krieg eigentlich nur verlieren. Natürlich können sich politische Entscheider darüber täuschen, welche Siegesaussichten sie im Falle eines militärischen Konflikts haben, und der russische Überfall auf die Ukraine ist das beste Beispiel dafür. Aber angesichts der bestehenden kompletten Asymmetrie der militärischen Arsenale der NATO und eines in der Ukraine ausblutenden russischen Militärs erscheint dies als extrem unwahrscheinlich.

In vielerlei Hinsicht wirkt die gegenwärtige Berliner Militarisierungsbegeisterung daher eher wie eine Art Überkompensation für vergangene Fehleinschätzungen. Dies gilt gerade für die Grünen, die in der Person Anton Hofreiters vor kurzem ein zusätzliches 100-Milliarden-Paket für Militärausgaben und die Aufhebung der Schuldenbremse forderte. Das ist derselbe Dr. Anton Hofreiter, der im Juli 2020 einen Antrag der Grünen-Bundestagsfraktion unter dem Titel „Beitrag der Bundeswehr gegen die Klimakrise stärken – CO2-Ausstoß der Streitkräfte deutlich reduzieren und konsequent erfassen“ in den Bundestag einbrachte. Dort wurde die Bundesregierung aufgefordert, „eine Strategie vorzulegen, um den CO2-Ausstoß innerhalb der Bundeswehr in Gänze zu reduzieren und sich auch innerhalb der NATO für eine generelle Reduktion des CO2-Ausstoßes der Streitkräfte einzusetzen“. Auch bei Waffenkäufen sollte das gelten. Es gelte „bei sämtlichen Beschaffungsentscheidungen den CO2-Ausstoß stärker zu gewichten und, wo es möglich ist, zu priorisieren“ sowie natürlich „Munitions-, Raketentests sowie sonstige Schießübungen auf das notwendige Maß zu reduzieren“.

Wir sprechen vom Juli 2020, mit Bundeswehrsoldaten in Mali und Afghanistan, einem anhaltenden low intensity-Artilleriekrieg im Donbass, einem anschwellenden Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan und einem militärischen Konflikt in Syrien unter direkter Beteiligung der NATO-Partner USA und Türkei. (....)

(....) Deutschland hat noch ein paar andere Baustellen, auf denen Geld gut gebraucht werden kann: Wohnungsbau, Bildung, Infrastruktur, Energiewende, Integration, Pflege, Digitalisierung, um nur ein paar der Großaufgaben zu nennen. Die politische und soziale Destabilisierung, die von ungelösten Hausaufgaben in diesen Bereichen ausgeht, könnte sich als deutlich realer erweisen als ein sehr unwahrscheinlicher, im Kern suizidärer Angriff Russlands auf die NATO. Und auch das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung dürfte von Messerangriffen im öffentlichen Raum nachhaltiger gestört werden als von der Angst, dass der russische Bär schon durchs Schlüsselloch schnaubt.

Überkompensation für vergangene Fehleinschätzungen ist menschlich verständlich. Sie ist aber keine rationale Politikbegründung. Für all diejenigen, die es eher mit faktenbasierter Politik halten, bleibt angesichts des Militarisierungsbegeisterung im Berliner „Blob“ der gute alte Satz Joschka Fischers: „Sorry, but I am not convinced!“

 

Ein Interview mit dem Soziologen Jens Beckert

Soziologe Jens Beckert blickt auf Schwächen und Lösungen der Klimapolitik. Er zeigt, warum Optimismus und Angst nichts gegen den Klimawandel bewirken.

Professor Beckert, wenn Sie sich die Klimapolitik der Länder ansehen, welchen Eindruck macht das auf Sie?

Die Klimapolitik ist gewissermaßen auf den Rücksitz gerutscht. Vor ein paar Jahren, etwa im Jahr 2021 mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts und der anschließenden Anpassung des Klimagesetzes, konnte man noch etwas Hoffnung haben, dass die Dringlichkeit verstanden ist und das Problem ernst genommen wird. Aber die Entwicklung der letzten Jahre verstärkt meinen Eindruck, dass jede Ernsthaftigkeit in dieser Frage verloren gegangen ist. Man versucht, es politisch möglichst weit aufzuschieben.

Sie sprechen in Ihrem Buch von einem „Skandal“.

Angesichts der Tatsache, dass es um die Lebensgrundlagen der Menschen geht, ist diese Klimapolitik ein Skandal. Wir haben keine zweite Welt zur Verfügung. Politik ist verpflichtet, Schaden von dem Volk abzuwenden und für das Wohlergehen der Bevölkerung Sorge zu tragen. Die Unangemessenheit von Klimapolitik kann man nur als Skandal bezeichnen. Das gilt übrigens weltweit.

Keine Panik vor der Klima-Apokalypse: Folgen des Klimawandels sachlich betrachten

Ist denn die Klima-Apokalypse noch abwendbar?

Ich spreche ungern von einer Apokalypse. In dem Buch geht es mir nicht darum, Panik zu schüren, sondern die Situation zu verstehen und zu schauen, was sich noch machen lässt. Wir müssen davon ausgehen, dass es zu einer Erwärmung des Klimas um 2,5, möglicherweise sogar drei Grad kommen wird. Dies lässt sich den Prognosen der Klimawissenschaftler entnehmen.

Damit stehen uns dramatische Veränderungen bevor, darunter eine Zunahme von Extremwetter und ein Anstieg des Meeresspiegels. Es gibt eine enorme Dringlichkeit, jetzt etwas zu tun. Mir fehlt der Optimismus zu denken, wir könnten noch irgendwie in die Nähe der Pariser Klimaziele kommen. Unsere Politik müssen wir darauf ausrichten, dass wir sie wohl weit übertreffen werden.

Was bedeutet eine starke globale Erwärmung für die Gesellschaften?

Von Klimaerwärmung betroffene Gesellschaften werden immer stärker Verluste erleiden. Diese werden jedoch nicht einheitlich verteilt sein; es wird sowohl innerhalb von Gesellschaften zu Ungleichheiten kommen als auch global. Die meisten Klimaschäden entstehen derzeit ja im globalen Süden. Je höher die Verluste durch Klimaschäden, desto stärker werden durch den Klimawandel soziale Konflikte ausgelöst.

Es werden mehr Ressourcen aufgewendet werden müssen, sowohl für Klimaanpassung als auch für die Behebung von Schäden. Das sind alles Gelder, die für andere wichtige Aufgaben nicht mehr zur Verfügung stehen werden. Wir sehen die sozialen Konflikte in ihren Anfängen bereits.

Diskrepanz zwischen globalem Norden und Süden: Prioritäten bei Umwelt und Klima

Was haben Sie da vor Augen?

Wenn man in Europa schaut, so sind die Bauernproteste etwa in den Niederlanden durch die Frage der Minimierung der Treibhausgase in der Tierhaltung ausgelöst worden. Von den Menschen wird eine erhebliche Umstellung ihrer Lebensweise verlangt.

Dagegen richten sich die Proteste. Und wenn wir in den globalen Süden schauen, erkennen wir bereits deutlich massivere Auseinandersetzungen, etwa um den Zugang zu Wasser oder Weideland. Die Länder haben kaum Möglichkeiten zur Abhilfe, um die existenziellen Bedrohungen für ihre Bevölkerungen abzufedern. Das ist in reichen Ländern zurzeit sicherlich noch möglich.

Politik nicht alleinig Schuld an Klimapolitik – Wirtschaft und Bürger zum Klima

Sind die Demokratien nicht in der Lage, angemessen auf die Herausforderung zu reagieren?

An der Demokratie allein liegt es sicherlich nicht. In dem Buch argumentiere ich ja, dass alle drei Bereiche – Wirtschaft, Politik und Bürger – es nicht hinbekommen angemessen zu handeln. Die Politik hauptsächlich aus dem Grunde, weil sie wirtschaftliche Aktivitäten ja nicht einfach abwürgen kann. Würden fossile Geschäftsmodelle relativ schnell dichtgemacht, würden die Treibhausgasemissionen sinken.

Das aber geht aus der Logik des politischen Handelns heraus nicht, weil die Politik für Steuereinnahmen und Wählerzustimmung auf eine brummende Wirtschaft angewiesen ist. Außerdem macht die Politik regelmäßig die Erfahrung, dass ernsthafte Klimapolitik den Widerstand von Interessengruppen hervorruft. Und dies, obwohl es in Meinungsumfragen hohe Unterstützung für Klimapolitik gibt.

Dennoch ist es zu kurz gegriffen zu denken, dass das Problem einfach in den Strukturen der Demokratie liegt. Leider gibt es auch in der Wissenschaft die Vorstellung, man benötige zunächst einen Klimadiktator, damit das Problem gelöst wird.

Was denken Sie darüber?

Ich halte das für vollkommen abwegig. Autoritäre Systeme haben eine extrem schlechte Klimabilanz. Ganz zu schweigen davon, wie eine solche Klimadiktatur überhaupt mehrheitsfähig werden sollte. Man sieht ja schon bei den zaghaften Versuchen der Grünen, mehr Tempo in die Klimapolitik zu bringen, wie schnell sich Widerstand regt. Es geht darum, einen Konsens in der Gesellschaft hinsichtlich der Dringlichkeit dieses Problems zu schaffen. Man wird Klimapolitik nicht gegen die Bevölkerung durchsetzen können.

Gefahr beim Klimawandel zu entfernt: Pandemie und Klimapolitik nicht vergleichbar

Dennoch bleibt die Politik der entscheidende Akteur. Sie hat bereits unterstrichen, dass sie durchaus exekutive Gewalt nutzen kann, in der Pandemie. Warum funktioniert das jetzt nicht?

Der Unterschied zwischen Pandemie und Klimapolitik ist die Frage der zeitlichen Unmittelbarkeit. Politik kann solche freiheitseinschränkenden Entscheidungen leichter treffen, wenn die Gefahr unmittelbar vor Augen steht. Ein anderes Beispiel neben der Pandemie wären auch Regierungen in Kriegsfällen, wo das auch sehr schnell funktioniert.

Bei der Klimakrise handelt es sich um ein Problem, dessen Folgen zwar in Teilen bereits deutlich werden, wo aber die eigentliche Bedrohung erst in der weiteren Zukunft gesehen wird. Hier ist es sehr viel schwerer, die notwendigen Maßnahmen zu treffen und Überzeugungsarbeit zu leisten.

Welche Fehler wurden da zum Beispiel bei der Energiewende gemacht, etwa beim Heizungsgesetz?

Ich denke, beim Heizungsgesetz gab es große Kommunikationsfehler der Politik. Aber es geht auch um die soziale Betroffenheit von Klimaschutzmaßnahmen. Klimapolitik führt zu finanziellen Belastungen. Diese machen sich bei Einkommensschwächeren stärker bemerkbar als bei Wohlhabenderen. Sie besitzen für sie also eine höhere Bedeutung. Daher gibt es auch stärkere Ablehnung. Ohne sozialen Ausgleich, wie etwa durch ein Klimageld, wird politische Zustimmung nicht zu haben sein.

Zur Person

Jens Beckert, geboren 1967, ist seit 2005 Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und Professor für Soziologie in Köln.

Sein jüngstes Buch „Verkaufte Zukunft“ (Suhrkamp 2024)  ist für den deutschen Sachbuchpreis nominiert, der am 11. Juni vergeben wird. Im Jahr 2018 erschien sein Buch „Imaginierte Zukunft“ (Suhrkamp), in dem er zeigte, dass Vorhersagen und Visionen zwar willkommene Pfeiler zur wirtschaftlichen Orientierung sind, aber zugleich auch in die Irre führen können.

Wie steht es da um die Eliten, die ja vorangehen müssten, aber aus dem Blick geraten. Dabei ist ihr Anteil nicht zu vernachlässigen.

Es gibt eindeutige Befunde, die besagen, dass der CO2-Ausstoß mit dem Einkommen steigt. Je höher der Lebensstandard, desto höher der CO2-Ausstoß. Das nimmt bei den Superreichen obszöne Formen an, wo pro Kopf auch schon mal 10 000 Tonnen CO2 ausgestoßen werden. Das sind Menschen, die etwa mit dem Privatflugzeug fliegen und große Jachten haben.

Das macht nicht den Hauptteil der Treibhausgase aus, aber es steuert einen nicht unbedeutenden Teil dazu bei. Will man dem Klimawandel begegnen, müsste sich aber auch der Lebensstil der Mittelschichten im globalen Norden grundlegend verändern. Dies wird kaum gelingen. Weder wird man die mächtigsten Personen der Gesellschaft zum Verzicht motivieren, noch die Mittelschichten.

Denn in unserer Gesellschaft bringt Konsum sozialen Status zum Ausdruck. Das gilt nicht nur für die Superreichen, sondern letztendlich für alle. Die soziale Position bestimmt sich über eine großzügige Wohnung, das Auto oder ferne Urlaubsziele. Oder eben über eine Superjacht. Diese Strukturen werden sich allenfalls sehr langfristig verändern.

Und Konsumorientierung gilt zunehmend natürlich auch für die Menschen im globalen Süden, die derzeit noch einen vergleichsweise geringen Energieverbrauch haben. Länder wie Indien stehen in den Startlöchern ihrer ökonomischen Entwicklung, und auch dort gilt: je höher das Einkommen, desto höher die CO2-Emissionen.

Ende vom Kapitalismus? Protest-Bewegungen zu schwach

Wäre es da besser, den Kapitalismus ganz zu verabschieden?

Die kapitalistische Wirtschaftsform ist zutiefst problematisch in Bezug auf die Ausbeutung der Natur. Dennoch halte ich die Rede vom Ende des Kapitalismus für unsinnig. Es müsste ja erst mal gesagt werden, woher das überhaupt kommen soll. Es gibt keine einflussreichen Bewegungen in unserer Gesellschaft, die ein völlig anderes Gesellschaftssystem fordern.

Das kann man ja auch gut verstehen. Wenn wir über ein Land wie Deutschland sprechen, ist der Kapitalismus enorm erfolgreich, weil er einen immensen Wohlstand geschaffen hat. Solche Ideen mögen sympathisch klingen, aber wir müssen von der politischen Realität ausgehen. Es hilft nicht, irgendwelche Wunschschlösser aufzubauen. Die Frage muss sein, wo politisch umsetzbare Ansatzpunkte liegen, die uns helfen.

Ziel des Wirtschaftswachstums im Zwiespalt: Verzicht vs. grüner Turbokapitalismus

Hilft letztlich nur der Verzicht?

Wenn wir das Problem schnell angehen wollen, geht es derzeit nur über Verzicht. Denn die Transformation weg von der fossilen Energie hin zu erneuerbaren Energien wird nicht schnell genug sein. Wenn wir den Ressourcenverbrauch immer weiter steigern, was wir durch weiteres Wachstum ja tun, werden sich auch die bestehenden ökologischen Krisen verstärken. Es geht nicht ohne ein Weniger. Gleichzeitig ist klar, dass dies politisch eine vermutlich nicht zu meisternde Herausforderung ist.

Kanzler Scholz hat zum Regierungsantritt einen grünen Turbokapitalismus angekündigt.

Das zeigt die politische Hilflosigkeit. Es hat die Illusion genährt, das Problem ließe sich einfach durch technologischen Fortschritt und Investitionen lösen, ohne dass es irgendjemandem wehtun wird. Dies funktioniert nicht, weil die grüne Transformation viel zu langsam vorankommt, denn sie ist enorm teuer und auch ein solch riesiges Projekt, dass sie sich über viele Jahrzehnte erstrecken wird.

Auf grünes Wachstum zu setzen, ist insofern auch eine politische Beruhigungsstrategie. Natürlich muss die Energiewende vorangebracht werden. Doch das wird uns nicht zu den Pariser Klimazielen bringen. Auch in Deutschland haben fossile Energien noch einen Anteil von fast 80 Prozent am Energieverbrauch.

Klimapolitik international denken: Lokale Aktion statt Kolonialismus und Ausbeutung

Wenn wir bestimmte Technologien stärker fördern wie den batteriebetriebenen Pkw etwa, beuten wir dann nicht den Süden aus?

Es ist eine Fortsetzung von Geschäftsmodellen, die aus dem Kolonialismus seit Jahrhunderten bekannt sind. Der globale Süden wird zum Rohstofflieferanten für den globalen Norden. Der globale Süden wird an der Wertschöpfung sehr wenig beteiligt, hat aber zusätzliche ökologische und soziale Negativfolgen zu tragen, etwa bei indigenen Gemeinschaften oder bei der Umweltverschmutzung. Der Lithiumabbau in Südamerika ist ein Beispiel dafür. Für die Lösung unserer Umweltprobleme verstärken wir die Umweltkrisen in anderen Weltregionen.

Was müsste Ihrer Meinung nach jetzt passieren?

Wir müssen uns der Situation stellen, dass es zu einer deutlichen Temperaturerhöhung kommen wird. Damit rücken Fragen der Klimaanpassung in den Vordergrund. Und dann müssen wir uns fragen, wie Politik auf die Klimaerwärmung besser reagieren könnte. Dafür bedarf sie der Unterstützung der Wähler. Die Bevölkerung wird Klimapolitik eher unterstützen, wenn sie deren konkreten Nutzen erfahren kann.

Dafür kommt es stark auf die Ebene von lokalem Handeln an, wo sich Menschen begegnen und austauschen und an der Festlegung von Wegen und Zielen beteiligt sind. Möglicherweise wachsen dabei Einstellungen, die politisch robuster sind als eine allgemeine Zustimmung zum Umweltschutz, die wir ja auch heute in Meinungsumfragen sehen.

Staat nicht mehr als Wirtschaftsschützer? Die Rolle des Staates im Klimawandel

Das betrifft das Bürgertum. Und der Staat?

Ein wichtiger Schluss ist, dass wir über eine andere Rolle des Staates nachdenken müssen, über ein anderes Modell als die starke Marktgläubigkeit, die wir in den letzten Jahrzehnten hatten. Ich meine eine sehr viel aktivere Rolle des Staates, der energischer in Gemeinschaftsgüter der kollektiven Daseinsvorsorge investiert.

Wir brauchen ein funktionierendes Gesundheitssystem, einen funktionierenden Katastrophenschutz in der Klimakrise, aber wir benötigen auch einen funktionierenden Nahverkehr auf dem Land und sehr viel Geld für die Energiewende. Der Staat wird sich hier viel stärker engagieren müssen, als wir es uns im Moment vorstellen können.

Haben Sie noch Hoffnung?

Die Hoffnung ist, dass wir politische Instrumente finden, die einen besseren Umgang mit dem Klimaproblem ermöglichen. Wenn die Klimaerwärmung dadurch etwas geringer ausfällt, ist dies bereits ein Erfolg.