Ukraine-Gipfel in London fordert in Absetzung von den USA europäischen „Friedensplan“ und „Koalition der Willigen“ für die Ukraine. Berlin erwägt Schuldenprogramme vor allem zur Aufrüstung von bis zu 900 Milliarden Euro.
BERLIN/LONDON/PARIS (Eigener Bericht) – Frankreich, Großbritannien und „ein bis zwei“ weitere NATO-Staaten Europas wollen einen Friedensplan für die Ukraine erarbeiten und eine „Koalition der Willigen“ zur Entsendung sogenannter Friedenstruppen schmieden. Dies ist das Ergebnis eines Ukraine-Sondergipfels, der am gestrigen Sonntag in London stattgefunden hat. Zuvor hatte ein Eklat zwischen den Präsidenten der USA und der Ukraine im Weißen Haus die Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und den Ländern Europas weiter verschärft und die Forderungen nach europäischer Eigenständigkeit anschwellen lassen. Der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europaparlament etwa, Manfred Weber (CSU), verlangt, „Europa“ müsse sich „jetzt eigenständig bewaffnen“ und „die ersten Schritte zur europäischen Armee gehen“. Außenministerin Annalena Baerbock dringt angesichts der gegenwärtigen französisch-britischen Initiative in Sachen Ukraine-Krieg darauf, nun müsse Deutschland „Führung einnehmen“. CDU/CSU und SPD bereiten laut Berichten derzeit neue Schuldenprogramme vor, die bis zu 900 Milliarden Euro betragen können und vor allem der Aufrüstung dienen. Zudem werden Pläne für einen europäischen Nuklearschirm geschmiedet.
„Der Riese Europa wacht auf“
Auf dem Sondergipfel am Sonntag in London haben sich 14 europäische NATO-Mitglieder, Kanada und die Ukraine auf ein gemeinsames Vorgehen mit Blick auf den Ukraine-Krieg geeinigt – so weit wie möglich ohne Rückgriff auf die USA. Demnach wollen Frankreich und Großbritannien sowie eventuell ein bis zwei weitere Staaten einen Friedensplan für die Ukraine entwerfen. Anschließend soll eine „Koalition der Willigen“ geschmiedet werden, um Truppen zur Friedenssicherung in die Ukraine zu entsenden. Den Grundstock dafür könnten Frankreich und Großbritannien stellen, die seit 2010 militärisch eng zusammenarbeiten und auf der Basis dieser Militärkooperation bereits im Jahr 2011 den Libyen-Krieg führten.[1] Paris und London stimmen sich auch bezüglich ihres Vorgehens im Ukraine-Krieg seit einiger Zeit sorgfältig ab. Im Hinblick darauf verlangte Außenministerin Annalena Baerbock bereits am Samstag, jetzt müsse Deutschland „Führung einnehmen“; sie behauptete: „Die Welt schaut auf uns“.[2] Nach dem Eklat zwischen US-Präsident Donald Trump sowie seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj am Freitag hatte die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas geäußert, es sei klar, „dass die freie Welt einen neuen Anführer braucht“; es sei nun „an uns, den Europäern“, diese „Herausforderung anzunehmen“. Polens Ministerpräsident Donald Tusk erklärte, „Europa“ sei „ein Riese, der aufgewacht ist“.[3]
Transatlantische Spannungen
Unklar bleibt nach dem Sondergipfel, wie sich die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten und den USA in Zukunft entwickeln werden. Diese hatten sich in der vergangenen Woche weiter verschlechtert. Nachdem es der EU gelungen war, einen US-Entwurf für eine Resolution der UN-Generalversammlung gegen Washingtons Intentionen zu ändern, und die EU-Außenbeauftragte Kallas Trumps Pläne zur Beendigung des Ukraine-Kriegs als „schmutzigen Deal“ beschimpft hatte, sagte US-Außenminister Marco Rubio ein Treffen mit ihr kurzfristig ab, obwohl sie bereits in der US-Hauptstadt eingetroffen war.[4] Der Eklat am Freitag im Weißen Haus hat die Spannungen weiter verschärft. Hatte Trump Selenskyj zunächst vorgeworfen, sich einem Waffenstillstand zu versperren und damit nicht nur „das Leben von Millionen Menschen aufs Spiel“ zu setzen, sondern gar „einen Dritten Weltkrieg“ zu riskieren, so endete das Treffen schließlich in einem lautstarken Wortgefecht und in einer Demütigung Selenskyjs durch Trump und US-Vizepräsident JD Vance.[5] Dennoch sind besonders Großbritanniens Premierminister Keir Starmer sowie Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die Trump politisch sehr nahe steht, bestrebt, einen harten transatlantischen Bruch zu verhindern. Dieser wäre auch militärisch für Europas Streitkräfte fatal: Sie sind unter anderem auf US-Satellitendaten und auf weitere US-Unterstützung angewiesen.
„Eigenständig bewaffnen“
Auch deshalb nahmen die anwesenden Staaten Europas sowie die EU auf dem Londoner Sondergipfel Schritte zu einer massiven Aufrüstung in den Blick. Diverse europäische Länder würden „ihre Verteidigungsausgaben erhöhen“, teilte NATO-Generalsekretär Mark Rutte in einer Stellungnahme nach dem Treffen mit. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen forderte: „Wir müssen Europa dringend wiederbewaffnen“; zudem bestätigte sie, sie werde dem EU-Gipfel am Donnerstag einen „umfassenden Plan“ dafür vorlegen. „Nach einer langen Zeit zu geringer Investitionen“ in die europäischen Streitkräfte sei es „von äußerster Bedeutung“, „die Verteidigungsinvestitionen für eine lange Zeit aufzustocken“.[6] Bereits am Samstag hatte Außenministerin Baerbock verlangt, der EU-Sondergipfel am Donnerstag müsse klare „Entscheidungen für massive Investitionen in unsere gemeinsame europäische Verteidigungsfähigkeit“ fällen.[7] Am Sonntag hatte zudem Manfred Weber, Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europaparlament, geäußert, „wer nach Washington blick[e]“, der müsse „verstehen: Europa ist alleine und wir müssen uns jetzt eigenständig bewaffnen“.[8] Weber fügte hinzu, man müsse jetzt auch „die ersten Schritte zur europäischen Armee gehen“; dabei sei in der Vergangenheit „viel zu viel Zeit vertrödelt“ worden.
Bis zu 900 Milliarden Euro
Während die Aufrüstungspläne auf EU-Ebene am Donnerstag besprochen werden sollen, bereiten CDU/CSU und SPD laut Berichten nicht nur eines, sondern sogar gleich zwei neue Finanzierungspakete insbesondere zur Aufrüstung auf nationaler Ebene vor. Dabei soll es sich um zwei sogenannte Sondervermögen handeln – nach dem Modell der 100 Milliarden Euro, die die Bundesregierung nach dem russischen Angriff auf die Ukraine bereitgestellt hatte. Die Bezeichnung „Sondervermögen“ führt dabei nach Auskunft des Bundesrechnungshofs in die Irre; in Wirklichkeit handelt es sich eindeutig um „Sonderschulden“.[9] Die neuen Pläne basieren dabei auf Vorschlägen von vier bekannten deutschen Ökonomen [10], die einerseits für ein neues „Sondervermögen Bundeswehr“, andererseits für ein zweites „Sondervermögen Infrastruktur“ plädieren. Für ersteres raten sie zu einem Volumen von 400 Milliarden Euro, für letzteres zu einem Wert von 400 bis 500 Milliarden Euro.[11] Zum Vergleich: Das Budget der Bundesregierung für 2025 sieht laut aktuellem Stand Ausgaben in Höhe von knapp 489 Milliarden Euro vor. Die Bezeichnung „Infrastruktur“ führt dabei insofern in die Irre, als eine Instandsetzung etwa von Straßen und Brücken nicht zuletzt aus militärischen Gründen als erforderlich gilt: Zur Zeit ist der Transport etwa schwerer Panzer über Brücken nicht flächendeckend gesichert.[12]
Atommacht Europa
Darüber hinaus haben erste Überlegungen zum Aufbau eines von den Vereinigten Staaten unabhängigen Nuklearschirms über Europa begonnen. Der mutmaßliche künftige Bundeskanzler Friedrich Merz hat am Wochenende bestätigt, er wolle in nicht bloß in den Koalitionsverhandlungen, sondern „auch mit unseren Partnern in Europa“ besprechen, „ob es mit Frankreich oder Großbritannien“ in Richtung „atomare Teilhabe“ gehen könne.[13] Merz erteilte Überlegungen, Deutschland könne eigene Atomwaffen entwickeln und herstellen, zumindest vorläufig eine Absage. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gab sich für Merz‘ Vorstoß prinzipiell offen. „Wir haben einen Schutzschild, sie nicht“, sagte Macron am Wochenende: „Sie können nicht länger von der nuklearen Abschreckung der USA abhängen.“ Er schlug einen „strategischen Dialog“ auf europäischer Ebene vor. Für den Aufbau einer eigenständigen, von der NATO unabhängigen europäischen Streitmacht veranschlagte er fünf bis zehn Jahre.[14]
[1] S. dazu Die neue Entente Cordiale.
[2] Pressemitteilung: Zur Lage in der Ukraine sowie zur europäischen Sicherheit erklärte Außenministerin Annalena Baerbock heute (01.03.) bei einem Statement im Auswärtigen Amt. Berlin, 01.03.2025.
[3] Europe is a giant that has woken up, says Poland. thetimes.com 02.03.2025.
[4] Majid Sattar: Rubio versetzt Kallas. faz.net 27.02.2025.
[5] Peter Baker: Trump Berates Zelensky in Fiery Exchange at the White House. nytimes.com 28.02.2025.
[6] Starmer pledges £1.6 billion package for air defense missiles in Ukraine, says Europe is ‘at crossroads in history’. lemonde.fr 02.03.2025.
[7] Pressemitteilung: Zur Lage in der Ukraine sowie zur europäischen Sicherheit erklärte Außenministerin Annalena Baerbock heute (01.03.) bei einem Statement im Auswärtigen Amt. Berlin, 01.03.2025.
[8] „Europa ist alleine“: EVP-Chef Weber fordert europäische Armee. br.de 02.03.2025.
[9] Sondervermögen: Anzahl und finanziellen Umfang reduzieren. bundesrechnungshof.de. S. dazu „Deutschland kriegstauglich machen“.
[10] Es handelt sich um den Präsidenten des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, den Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), [12] S. dazu #
Michael Hüther, den Präsidenten des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW), und den Düsseldorfer Wirtschaftswissenschaftler Jens Südekum.
[11] Es geht um 800 Milliarden Euro. tagesspiegel.de 02.03.2025.
[12] S. dazu Freie Marschrouten und Damit die Panzer rollen.
[13] Berthold Kohler, Eckart Lohse, Konrad Schuller: „Es könnte auch ein für uns sehr schlechtes Szenario eintreten“. faz.net 28.02.2025.
[14] Europäer wollen Friedensplan entwerfen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 03.03.2025.