aus neues-deutschland.de / 08.02.2018 :

Union und SPD wollen Freihandelsabkommen vorantreiben - mit weitreichenden Auswirkungen

Haidy Damm

Die Parteien der Großen Koalition wollen nicht nur das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA) ratifizieren, sondern auch eine Reihe weiterer Abkommen voranbringen. Während die Verhandlungen der EU sowohl mit den USA (TTIP) als auch mit Indien auf Eis liegen, sollen die Abkommen mit Japan, den Mercosur-Staaten oder Mexiko auch mit Hilfe aus Berlin zum Abschluss gebracht werden. So steht es in der Neuauflage des Koalitionsvertrages zwischen der Union und SPD.

All diese Abkommen hätten negative Folgen für Verbraucherrechte, Umweltstandards und demokratische Prinzipien. Darauf verweist die am Mittwoch in Brüssel vorgestellte Studie der Nichtregierungsorganisationen Power-Shift und Foodwatch. Sie fordern den Stopp der Verhandlungen und eine »komplette Neuausrichtung der europäischen Handelspolitik«, wie es in der Studie »Handel um jeden Preis?« heißt. Die EU habe aus den Protesten gegen TTIP und CETA offenbar nichts gelernt, sagte Thilo Bode, Geschäftsführer von Foodwatch International.

Bei den geplanten Abkommen gehe es nicht nur um den Wegfall von Zöllen oder die Öffnung von Märkten. Ähnlich wie bei TTIP und CETA seien sie Freihandelsabkommen einer »neuen Generation«, die auch die Beseitigung sogenannter nichttarifärer Handelshemmnisse beinhalteten, also Regulierungen im Gesundheits-, Verbraucher- und Umweltschutz. Standards könnten durch Handelsverträge gesenkt werden, sodass sie in Zukunft nicht mehr einseitig von einem Handelspartner verschärft oder verbessert werden könnten, so Studienautor Thomas Fritz von PowerShift, der die Studie zusammen mit Alessa Hartmann im Auftrag von Foodwatch erstellt hat. Hinzu komme, dass in keinem der Abkommen das europäische Vorsorgeprinzip abgesichert sei. Stattdessen soll der »nachsorgende Ansatz« der Welthandelsorganisation gelten, der letztlich bedeutet: Eine Substanz ist so lange zugelassen, bis deren Schädlichkeit nachgewiesen ist. Beim Vorsorgeprinzip der EU ist es genau umgekehrt: Hier muss ein Unternehmen die Unschädlichkeit vor der Zulassung nachweisen.

Untersucht werden in dem Bericht fünf EU-Handelsabkommen, denen bisher nur wenig öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wurde: mit Japan, Vietnam, Indonesien und Mexiko sowie mit dem Mercosur-Verbund der südamerikanischen Staaten Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay.

Ein Streitpunkt bleiben die verhandelten Investitionsschutzklagerechte (ISDS). Während die EU auf die durch CETA reformierte Version setzt, beharrt beispielsweise Japan im Abkommen JEFTA auf dem alten ISDS, das im Mittelpunkt der Proteste gegen CETA und TTIP stand. Kritiker befürchten - auch in der reformierten Variante - eine Einschränkung demokratischer Prinzipien, weil Konzerne politische Entscheidungen durch Klagen aushebeln könnten. Im November hatte die EU-Kommission erklärt, das Handelsabkommen mit Japan ohne den Investitionsteil als »EU-only-Abkommen« ratifizieren zu wollen. Damit ist sie nicht auf die Ratifizierung in den Mitgliedstaaten angewiesen. Sie erwägt zudem, Handels- und Investitionsschutzabkommen in Zukunft getrennt voneinander zu verhandeln und ratifizieren zu lassen. Auch in den Verträgen mit Vietnam, Indonesien und Mexiko ist ein umfassender Investorenschutz geplant.

Konkret untersucht wurden auch die Auswirkungen auf die Landwirtschaft und die Umwelt. So würde das Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten die Fleischimporte aus Südamerika in die EU ausweiten. Das hätte nicht nur Auswirkungen auf die europäische Fleischindustrie, sondern auch auf die Umwelt - etwa in Brasilien. Dort produzieren Rinderfarmer enorm kostengünstig große Mengen, indem sie einen Großteil der Tiere auf gerodeten Regenwaldflächen halten.

Ähnliches gilt für Palmöl aus Indonesien. Rund zehn Prozent der Exporte des weltgrößten Palmölproduzenten gehen in die EU. Das Land erhofft sich durch den Wegfall von Handelsschranken mehr Exporte nach Europa. Damit könnten die Anbauflächen noch weiter wachsen. Die Folge wären deutlich höhere Treibhausgasemissionen. Zwar setzt sich die EU offiziell für einen nachhaltigen Anbau von Palmöl ein - allerdings nur mit freiwilligen Initiativen.

 

 

Demonstrierende verklagen die Freie und Hansestadt Hamburg wegen Einschränkungen des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit im Zuge der Proteste gegen das G20-Treffen im Juli 2017. Hamburger Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte wollen durch das Verwaltungsgericht Hamburg anhand von Einzelfällen exemplarisch feststellen lassen, dass Versammlungsverbote und Polizeieinsätze gegen Demonstrierende rechtswidrig waren.

Der G20-Gipfel war kein »Festival der Demokratie«, wie Innensenator Andy Grote im Vorwege behauptete. Stattdessen wurde der Ausnahmezustand zelebriert, in dem die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger außer Kraft gesetzt wurden.

Alles begann mit der Auseinandersetzung um die geplanten Protestcamps, in denen mehrere Tausend Menschen übernachten sollten, um gegen das G20-Treffen zu protestieren. Mehrtägige Veranstaltungen mit mehrtägigem Protestgeschehen benötigen Beherbergung der Demonstrierenden. Die geplanten Protestcamps waren selbst Teil des geplanten friedlichen Protestes. Schon früh stellte der Hamburger Senat klar, dass er solche Camps nicht zulassen würde. Dieses Verbot wurde von der Versammlungsbehörde und der Polizei mit allen Mitteln durchgesetzt, begleitet von einer Strategie der Diffamierung und Kriminalisierung friedlicher Versammlungen. Dabei wurde das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit vollständig missachtet.

Die vier folgenden Fälle halten die Demonstrant*innen und Anwält*innen für exemplarisch:

Camp Entenwerder

Das Hamburgische Oberverwaltungsgericht hatte explizit die Übernachtung beim G20-Protestcamp Entenwerder erlaubt. Am 5. Juli teilte das Gericht mit, dass zu den bisher genehmigten Veranstaltungszelten bis zu 300 Schlafzelte für jeweils zwei bis drei Menschen aufgestellt werden dürfen. Trotzdem schritt die Polizei gegen das „Antikapitalistische Protestcamp“ ein und verhinderte es so. Der Anwalt Martin Klingner spricht von einem „Verstoß gegen die Gewaltenteilung“ und einem „Putsch der Exe-kutive gegen die Judikative“. Ein Ziel der Klage ist, dass die polizeilichen Einsätze rechtswidrig erklärt werden.

Camp Altona

Das Camp in Altona habe ebenso durch Schikanen der Polizei nicht stattfinden können wie geplant. Laut der Anwältin Ulrike Donat habe hier die Sicherheitsbehörde die Herrschaft über verfassungsrechtlich garantierte Grundfreiheiten übernommen. Schon im Vorfeld habe die Behörde das Camp verhindern wollen. Einer der Anmelder des Camps schildert am Donnerstag bei der Pressekonferenz im Gängeviertel seine Erlebnisse vor Ort im Juli. Als Mitglied eines Vereins, der sich bundesweit an der Organisation der Proteste gegen den Gipfel beteiligt, habe er viel Erfahrung. So etwas wie in Hamburg habe er noch nie erlebt: „Wir fühlten uns von der Behörde verarscht.“ Die Kläger*innen sind der Ansicht, Camps müssten geschaffen werden, um den Portest zu ermöglichen.

Polizeieinsatz 7.7.2017

Am Freitagvormittag des Gipfels nahmen Demonstrierende an einer Blockade teil, um die Protokollstrecke von US-Präsident Donald Trump zu blockieren. Der Zug wurde von der Polizei getrennt und die Demonstrierenden angegriffen, ohne Vorwarnung. Ein Video zeigt, wie Polizeibeamte mit Schlagstöcken hinter Demonstrierenden in Sommerkleidung herrennen. Ein weiteres Video zeigt die blutende Platzwunde am Kopf einer Attac-Aktivistin aus Köln, die auch als Klägerin auftritt.Ihr Anwalt Dieter Magsam spricht im diesem Fall von „Anwendung nackter Gewalt gegen friedliche Menschen“ seitens der Polizei und will, dass die Stadt Hamburg die Verfassungswidrigkeit des Einsatzes anerkennt.

Versammlungsverbote 7.7.2017

Beim vierten Fall geht es um drei Veranstaltungen, die die Nichtregierungsorganisation Attac in der großen Demonstrationsverbotszone angemeldet hat. Jeweils für 80, 50 und 50 Teilnehmer*innen. Sie fielen aber alle drei unter das allgemein ausgesprochene Versammlungsverbot und durften nicht innerhalb der sogenannten „Blauen Zone“ stattfinden. Für die Anwältin Waltraut Verleih aus Frankfurt gibt es hier mehrere Verstöße gegen Grundrechte wie Versammlungs-, Meinungs-, Kunst- und Handlungsfreiheit. Ziel der Klage ist auch, die polizeiliche Gefahrenprognose zu prüfen.

Das repressive Vorgehen gegen die Camps fand seine Fortführung im polizeilichen Vorgehen gegen eine Vielzahl von Versammlungen, die sich gegen das G20-Treffen richteten. Beispielhaft war der Polizeieinsatz am 7. Juli 2017 an der Straßenkreuzung Sechslingspforte/ Ackermann-/ Ekhofstraße. Gegen friedliche Versammlungsteilnehmende wurde Pfefferspray eingesetzt, sie wurden geschlagen und getreten sowie erheblich verletzt.

Gemeinsame Pressekonferenz von RAV e.V., Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. sowie Attac Deutschland e.V. am Donnerstag, 11. Januar 2018

 

Hamburger Polizei ist uneinsichtig

Die Hamburger Polizei hat keine Beweise für einen geplanten Hinterhalt im Schulterblatt am 7. Juli und sieht sich trotzdem im Recht.

G20-Demonstranten stehen auf Hausdach

Hinterhalt für die Polizei? Beweise gibt es dafür bisher nicht. Foto: Miguel Ferraz

HAMBURG taz, 9. Okt. 17 | Ist es Sturheit, PR-Strategie oder Überzeugung? Obwohl es keine Beweise gibt, hält die Polizei Hamburg weiter an ihrer Darstellung fest, am 7. Juli hätten Aktivist*innen im Hamburger Schanzenviertel einen Hinterhalt auf die Polizei geplant. Nach dem G20-Gipfel war die Polizei in Erklärungsnot geraten, weil sie erst nach Stunden das Schanzenviertel gestürmt hatte, während Unbekannte dort schon längst Läden geplündert und meterhohe Feuer entzündet hatten. Anwohner*innen und Gewerbetreibende fühlten sich von den rund 23.000 Polizist*innen, die in der Stadt waren, im Stich gelassen.

Es habe Lebensgefahr für die Beamt*innen bestanden, hatte Polizeisprecher Timo Zill am nächsten Tag gegenüber der Presse gesagt. Es habe Hinweise gegeben, Aktivist*innen hätten sich mit Eisenspeeren, Gehwegplatten, präparierten Feuerlöschern, Molotowcocktails und Steinen bewaffnet und auf den Dächern im Schulterblatt positioniert. Erst gegen ein Uhr morgens hatte ein Sondereinsatzkommando (SEK) das Viertel geräumt.

In einer Kleinen Anfrage wollte die Abgeordneten der Hamburger Linksfraktion Christiane Schneider nun wissen, welche der Gegenstände im Schulterblatt tatsächlich gefunden wurden. Die Antwort: keine. Auch ein Polizeiauto, das nach Polizeidarstellungen durch einem Bewurf mit Molotowcocktails abgebrannt war, sei nun doch nicht abgebrannt, schreibt der Senat in seiner Antwort.

Von einer falschen Lageeinschätzung will Zill dennoch nicht sprechen. „Im Gegenteil“, sagt er. „Wir halten ganz klar an der bisherigen Darstellung der Ereignisse fest.“ Die Hinweise auf den Hinterhalt seien von Zivilpolizist*innen gekommen, die im Schanzenviertel unterwegs waren, und von Mitarbeiter*innen des Verfassungsschutzes. Als die Polizei schließlich das SEK ins Viertel schickte, habe sich laut Zill der Eindruck ergeben, die Gefahrenprognose sei völlig richtig gewesen. „Es gab ja Personen auf den Dächern“, sagt er. „Nach dem, was wir da gesehen haben, musste sich die Gefahr realisieren.“

Auf die Frage, warum dann keine Beweismittel gefunden worden seien, erklärt Zill, Beweissicherung sei keine Priorität des SEK gewesen. Stattdessen sei es darum gegangen, die Häuser zu sichern. Erst vier Tage nach dem Gipfel hat die Polizei versucht, Beweismittel im Schulterblatt und auf den dortigen Dächern zu sichern. Der Senat begründet das in seiner Antwort auf Schneiders Anfrage mit Ressourcenmangel.

Schneider gibt sich mit dieser Begründung nicht zufrieden. „Klar ist, dass die Version der Polizei mangels Beweisen stark erschüttert ist“, sagt sie. Damit stelle sich „in aller Schärfe“ die Frage, warum die Polizei die Anwohner*innen in der Schanze trotz Plünderungen und Bränden sich selbst überlassen habe. Und auch, warum dann, Stunden später, schwer bewaffnete SEK-Beamt*innen eingerückt seien und das ganze „moderne Polizeiequipment“ aufgefahren hätten.

G20-Asservatenkammer

Die Polizei hat über die Tage des Gipfelprotests 1.659 Beweise gesammelt. Nur keine im Schulterblatt.

Das fand sie andernorts:

Eisenspeere: 0

Pyrotechnik: 50

Krähenfüße: 3

Feuerlöscher: 3

Transparente: 5

Spraydosen: 16

Drahtseile/Seile: 3

Stahlkugeln: 2

Zwillen: 2

Molotowcocktails: 5

Funkgeräte: 2

Zeltstangen: 3

Sonstiges: 103

Für den SEK-Einsatz rechtfertigte sich der Einsatzabschnittleiter aus Niedersachsen, Michael Zorn, am 19. Juli vor dem Innenausschuss. Er nannte den Einsatz einen „Antiterroreinsatz“. Am Abend des 7. Juli habe ihn der Gesamteinsatzleiter Hartmut Dudde angerufen. Der „befürchtete, dass die Kräfte (also normale Polizeieinheiten, Anm. d. Red.) bei einem Vorrücken von den Dächern oder auch vom Gerüst mit Molotowcocktails, Gehwegplatten, Steinen, Eisenstangen und so weiter beworfen werden, sodass eine akute Lebensgefahr für die Einsatzkräfte bestünde“, sagte Zorn dem Ausschuss.

Der Einsatzleiter der Kriminalpolizei, Jan Hieber, fügte hinzu, es habe Hinweise gegeben, dass Personen Läden geplündert und dabei Metallteile entwendet hätten, um diese als „selbstgemachte Eisenspeere“ bereitzulegen. Dazu schreibt der Senat nun: „Beweismittel, die die damals vorliegenden Hinweise bestätigen, liegen nach derzeitigem Kenntnisstand nicht vor.“ Er weist aber darauf hin, dass die Ermittlungen der Sonderkommission „Schwarzer Block“ noch andauern.

Offen bleibt die Frage nach der Plausibilität der Hinweise, die der Verfassungsschutz gegeben haben soll. Die Frage, ob es dort überhaupt üblich ist, dass V-Personen in konkreten Situationen Hinweise an die Polizei geben, ließ die Behörde unbeantwortet. Das sei schließlich Thema des Sonderausschusses G20, sagte eine Sprecherin. Dieser Aufarbeitung wolle man nicht vorgreifen.

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Im Einsatzbericht der Polizei steht, der Schwarze Block habe mit Steinen und Flaschen geworfen. Auf dem Video ist davon nichts zu sehen. (Foto: Michael Probst/AP)

  • Nach den Ausschreitungen während des G-20-Gipfels Anfang Juli in Hamburg ist deren Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen.
  • Politik, Demonstranten und Polizei schieben sich gegenseitig die Verantwortung für die Krawalle zu.
  • Ein Polizeivideo von einem Zusammenstoß zwischen Demonstranten und Polizei am Rondenbarg legt nahe, dass die Sicherheitsbehörden den Vorfall im Nachhinein anders darstellten als er tatsächlich war.
Von Ronen Steinke

Es ist die größte Festnahme-Aktion während der gesamten G-20-Tage Anfang Juli in Hamburg: 73 Demonstranten werden im Morgengrauen des Gipfel-Freitags "zu Boden gebracht", so notiert es die Polizei. Viele werden mit dem Gesicht auf den Asphalt gedrückt in einer Straße im Stadtteil Altona. Gleichzeitig ist dies auch der größte einzelne Gewalt-Vorwurf an die Demonstranten: Sie hätten die Polizei bei Tagesanbruch dort geradezu überfallen. Die Beamten hätten sich gegen einen "massiven Bewurf" mit Flaschen und Steinen zur Wehr setzen müssen, aus einem geschlossenen schwarzen Block von 200 Personen.

Wegen der gesamten G-20-Krawalle laufen etwa 160 Ermittlungsverfahren, 32 Verdächtige sitzen in Untersuchungshaft. Aber diese eine Auseinandersetzung an der Straße Rondenbarg in Altona sticht heraus. Mindestens 59 Ermittlungsverfahren beziehen sich allein hierauf, 13 Demonstranten von dort kamen in Untersuchungshaft. Mindestens vier von ihnen sitzen noch heute, drei Männer und eine Frau aus Italien. Ein Polizeivideo des Einsatzes allerdings, das bislang unter Verschluss blieb und nun von der Süddeutschen Zeitung und dem NDR-Magazin Panorama eingesehen werden konnte, weckt Zweifel an der bisherigen öffentlichen Darstellung der Behörden.

Um 6.28 Uhr wird die erste Fackel geworfen. Sie landet auf der leeren Straße

Man sieht durch die Augen der Polizei, die Kamera ist auf dem Dach eines Mannschaftsbusses montiert. Es ist 6.27 Uhr, die Sicht ist gut, die Straße frei. Ein Demonstrationszug kommt die Straße entlang. Links ein Fabrikgebäude der Firma Transthermos, rechts ein dichtes Brombeergebüsch. Zumindest von vorne sieht die Menschengruppe, die da herannaht, vollkommen schwarz aus, nur eine einsame rote Fahne ragt aus dem Pulk heraus. Die vordersten Demonstranten tragen ein weißes Transparent vor sich her, "Gegenmacht aufbauen", steht darauf. Sie bewegen sich "gehenderweise", wie eine Analystin des Landeskriminalamts (LKA) es später auf der Grundlage dieses und dreier weiterer Polizeivideos beschreibt, also langsam. Ebenso langsam bewegen sich die Beamten auf sie zu, behelmt und gerüstet. Als beide Seiten fast zum Stehen kommen, sind sie noch fünfzig Meter auseinander. Die beiden Blöcke sehen sich an.

Was dann passiert, analysieren sie im LKA intern sehr nüchtern.

6.28:05 Uhr: Eine bengalische Fackel fliegt aus dem Pulk heraus in Richtung der Polizei, notiert die LKA-Ermittlerin. Der Bengalo landet auf leerer Straße, etwas rosafarbener Rauch steigt auf. 6.28:10 Uhr: Ein zweiter Bengalo fliegt, wiederum auf die weithin leere Straße. 6.28:18 Uhr: Ein dritter Bengalo landet auf der Straße, wieder zu weit entfernt von den Beamten, um als eine versuchte Körperverletzung gelten zu können. Irgendwo knallt ein Böller. Ein Polizeiführer hat jetzt genug, wie man im Video hören kann: "Bleib stehen", befiehlt er dem Fahrer eines Polizeibusses, der noch im Schritttempo voranrollt, "steigt aus, mir reicht das aus". Auf das Kommando hin stürmen die Polizisten los, die Demonstranten drehen sich um und rennen fort. 6.28:36 Uhr: Wasserwerfer beschießen von hinten die Demonstranten, die also eingekesselt worden sind.

Was man in dem Video nicht sieht: ein einziger Steinwurf. Oder eine einzige Flasche. Unmittelbar angegriffen wurde - zumindest vor dem Sturm der Polizei - kein Beamter. Man würde es sehen.

Brandenburger Polizeibeamter ist in den Akten der einzige Zeuge

"Als sich die Menschenmasse circa 50 Meter vor uns befand, wurden wir aus ihr massiv und gezielt mit Flaschen, Böllern und Bengalos beworfen", schrieb hingegen der stellvertretende Einsatzführer der Brandenburger Bundespolizei-Einheit unmittelbar nach diesem Einsatz, in einer "zeugenschaftlichen Darstellung des Sachverhalts", die der SZ vorliegt. "Steine trafen die Beamten und die Fahrzeuge." Nur auf Grund der "Schutzausstattung" sei kein Polizist verletzt worden. "Um die gegenwärtigen Angriffe abzuwehren, lief die Hundertschaft in Richtung der Menschenmenge an, wobei der massive Bewurf mit Steinen weiter anhielt," heißt es in dem polizeilichen Bericht weiter.

Diese Darstellung ist Grundlage der erwähnten Strafverfahren und Haftbefehle. Sie ist in den verschiedensten offiziellen Papieren weitergetragen worden, stets mit dem Brandenburger Bundespolizei-Mann als einzigem Zeugen. Sie findet sich in allen späteren Justiz-Entscheidungen fast wortgleich wieder. Aber wenn man das Polizeivideo gesehen hat, das insgesamt zwölf Minuten und 23 Sekunden dauert, ist klar: Sie stimmt nicht.

Das heißt nicht, dass es nicht noch zu solcher Demonstranten-Gewalt hätte kommen können. Die Beamten haben hinterher diverse Gegenstände von der Straße aufgesammelt: drei Stahlseile, zwei Hammer, eine Zwille, drei Signalraketen. Es heißt auch nicht, dass dieser Polizeieinsatz nicht zur Gefahrenabwehr rechtens gewesen sein kann. Aber seit Wochen steht der Vorwurf von Straftaten im Raum, von schwerem Landfriedensbruch und gefährlichen Körperverletzungen durch Steinwürfe. Von einem "Angriff" von Gewalttätern, der "abgewehrt" werden muss, ist auf den Aufnahmen der Polizei nichts zu sehen.

Das LKA hat die Einsatz-Videos noch am Abend desselben Tages ausgewertet, dem 7.Juli, wie ein interner Bericht aus der Dienststelle 42 zeigt, schon um 21.37 Uhr hat sich die LKA-Analystin an ihre Arbeit gemacht. Schon am nächsten Tag, am Gipfel-Samstag, hat sie ihren Vorgesetzten berichtet, wie wenig Demonstranten-Gewalt auf den Aufnahmen in Wahrheit zu sehen sei - dass also an der Aussage des stellvertretenden Bundespolizei-Einsatzführers Zweifel angebracht seien.

Trotzdem erklärte Normen Großmann, Leiter der Bundespolizei-Inspektion Hamburg, noch am 19. Juli im Hamburger Innenausschuss, am Rondenbarg "setzte sofort ein massiver Bewurf ein, als eine Distanz von circa fünfzig Metern erreicht war, erneut mit Steinen, mit Flaschen, mit Pyrotechnik". Die Beamten hätten den Auftrag gehabt, die Demonstranten "zunächst einmal aufzustoppen und die weitere Absicht zu klären und die Gruppe zu überprüfen". Sie hätten dann aber stürmen und Menschen festnehmen müssen.

Ob Beamte verletzt wurden bei diesem Einsatz, konnte ein Sprecher der Polizei auf Nachfrage nicht beantworten, die Auswertung durch die Ermittler der Soko "Schwarzer Block" dauere an. Auch zum Video wollte er sich nicht äußern. "Der Angriff der Polizei kam aus dem Nichts", sagt dagegen ein Demonstrant, Nils Jansen, 22, der als Mitglied im Vorstand der Verdi-Jugend aus Köln angereist war.

Die Menschen flohen vor der Polizei und brachen sich dabei reihenweise die Knochen

Er spricht auch von Knüppelschlägen der stürmenden Polizei. Die politische Aufarbeitung des G-20-Gipfels hat für Hamburgs Behörden gerade erst begonnen. "G 20 geht erst los", sagt ein Sicherheitsexperte. Was den Vorwurf eines "bewaffneten Hinterhalts" auf den Dächern des Schanzenviertels betrifft, haben die Behörden sich inzwischen vorsichtig korrigieren müssen. Im Schanzenviertel waren Beamten mit Maschinenpistolen angerückt, um den vermeintlichen Hinterhalt auszuheben. Aber Beweise fanden sie nirgends, und das Video eines Molotow-Cocktails, der vom Dach herunter geworfen wird, ist im Nachhinein auch nicht mehr so eindeutig. Vielleicht war es nur ein Böller.

Am Rondenbarg wird die Aufarbeitung möglicherweise noch unangenehmer für die Polizei. Auch weil dort 14 Demonstranten verletzt wurden, manche von ihnen schwer. Sie stürzten über ein Geländer, als sie vor der stürmenden Polizei davonliefen. Hinter der Absperrung ging es zwei Meter tief hinab. Mit dem Funkspruch "Massenanfall von Verletzten" wurde die Feuerwehr gerufen, elf Demonstranten kamen mit Knochenbrüchen ins Krankenhaus.

In Hamburgs Parlament soll am 31. August erstmals der Sonderausschuss "Gewalttätige Ausschreitungen rund um den G-20-Gipfel" tagen. Politiker der Oppositionsparteien CDU und Linke sind damit aber nicht zufrieden: Sie wollen einen Ausschuss, der nicht nur Fragen stellen, sondern auch in Akten sehen darf.


Justiz nach G-20-Gipfel Sonderkommission "Schwarzer Block

  • Während der Krawalle um den G-20-Gipfel wurden Hunderte Polizisten und Demonstranten verletzt.
  • 186 Verdächtige wurden festgenommen, die Bilanz: Nur 51 Haftbefehle. Notrichter arbeiteten im Schichtbetrieb.
  • Die Sonderkommission "Schwarzer Block" soll jetzt weitere Verdächtige finden.
Von Ronen Steinke

Ein grünes Schimmern. Figuren leuchten im Dunkeln, man sieht sie nur durch eine Wärmekamera. Diese Bilder sind die einzigen, welche die Polizei vom Dach des Hauses Schulterblatt 1 im Schanzenviertel gemacht hat, als dort das Chaos überhandnahm am vorvergangenen Freitagabend. 36 Menschen wollen die Beamten zeitweise auf dem Dach gezählt haben. Von dort sei der gefährlichste Angriff der ganzen G-20-Krawalle ausgegangen, ein "bewaffneter Hinterhalt", sagt Hamburgs Innensenator Andy Grote. Der Grund, weshalb Maschinenpistolen ausgepackt wurden. "Bei Vorrücken der Polizei muss mit schwersten Verletzungen gerechnet werden", notierten die Beamten.

Doch als sie das Gebäude stürmen, sind es statt der 36 nur 13. Ob sie Steine geworfen haben, ist ungewiss, als die 13 Menschen um 23.26 Uhr gefesselt auf dem Boden liegen. Es seien viele Gaffer auf dem Haus gewesen, sagt später der Einsatzleiter des Sondereinsatzkommandos (SEK), Sven Mewes. Die Beamten finden keine Waffen, auch nirgends einen Molotowcocktail, wie sich aus ihren Aufzeichnungen ergibt. Bei keinem der 13 also können Hamburgs Richter einen konkreten Tatverdacht erkennen. "Bloße Anwesenheit ist keine Straftat", sagt Gerichtssprecher Kai Wantzen, und das heißt: Keiner der 13 bekommt einen Haftbefehl.

Hätte man gegen die 13 vom Dach etwas in der Hand, säßen sie noch

Ist der Rechtsstaat hilflos? Kapituliert er vor Leuten, die zeitweise ungehindert marodierten und zündelten? Der Fall hat Entrüstung ausgelöst, die Verunsicherung teils noch vertieft. Man habe nicht anders gekonnt, als die 13 laufen zu lassen, hat die Polizei sich seither erklärt. Schon am Samstag um 24 Uhr sei eine Höchstdauer für deren Haft abgelaufen.

Aber stimmt das? Die Frist gilt nur für polizeiliche Präventivhaft. Für Leute also, die keiner Straftat verdächtig sind. So ohnmächtig ist der Rechtsstaat nicht, dass er dringend Tatverdächtige laufen lassen müsste. Hätte man gegen die 13 etwas in der Hand, dann säßen sie noch, sagt der Strafverteidiger Christian Woldmann, der beim G-20-Gipfel im Dauereinsatz war.

So ist es oft gewesen während der Hamburger Protesttage. Geschäfte wurden geplündert, Hunderte Demonstranten und Polizisten verletzt. Aber nur 186 Personen hat die Polizei festgenommen, um sie für Kriminelles verantwortlich zu machen. Bei 85 von ihnen haben Staatsanwälte versucht, einen Haftbefehl zu erlangen. In 51 Fällen ließen sich Richter von der Beweislage überzeugen. Stellt man das den vielen schweren Vorwürfen gegenüber - Landfriedensbruch, Angriffe auf Leib und Leben -, ist das eine mickrige Bilanz.

Die Akten zeichnen ein Bild, mit dem die Polizei nicht zufrieden sein kann

170 Beamte der Sonderkommission "Schwarzer Block" sollen jetzt Verdächtige finden. Einstweilen aber sinkt deren Zahl sogar weiter. Am Mittwoch sind mehrere aus der U-Haft entlassen worden, weil Richter nicht mehr an einen Verdacht glaubten. Im Schanzenviertel und auf St. Pauli wird aufgeräumt, Scheiben werden instand gesetzt. Zugleich überprüfen Juristen all die hastigen Entscheidungen, die während des Gipfels getroffen wurden, von Notrichtern im Schichtbetrieb. Und die Akten zeichnen ein Bild, mit dem die Polizei nicht zufrieden sein kann.

Dabei zeigt sich zum einen, dass die Taktik des schwarzen Blocks aufgeht. Wenn sich alle im gleichen Stil vermummen, kann man sie schwer auseinanderhalten. Dafür können die Ermittler nichts, die Strafjustiz braucht freie Sicht aufs Individuum. Da helfen keine Wärmekameras, auf denen keine Gesichter zu erkennen sind. Über einen 25-jährigen Studenten, der am Freitag um 6.30 Uhr im Rondenbarg verhaftet wurde, einer Straße in Altona, schrieb ein Kommissar: "Einzelne Tathandlungen" konnte man nicht nachweisen. Wie bei fast allen der 73 Demonstranten, die an jenem Morgen "zu Boden gebracht" und gefesselt wurden.

Eine angehende Medizinstudentin - weder vermummt noch schwarz gekleidet

Zu ihnen zählte auch eine angehende Medizinstudentin, sie trug weder Vermummung noch überhaupt Schwarz - noch war sie "im Besitz von Waffen oder gefährlichen Werkzeugen". Die Abiturientin gehörte zur Verdi-Jugend; mit dieser hatte sie am Rondenbarg demonstriert. Der Haftbefehl sei rechtswidrig, entschied das Amtsgericht am Mittwoch. So endeten sechs Tage Untersuchungshaft.

"Die Polizeistrategie war von Beginn an nicht auf die gezielte Festnahme von Straftätern ausgerichtet, sondern auf eine gewaltsame Zerstreuung von Protestgruppen", kritisiert Peer Stolle, Vorsitzender des eher linken Anwaltsvereins RAV. Der schwerste Strafvorwurf jedenfalls, der nun übrig ist, geht gegen einen 27-Jährigen in Altona. Er soll aus seinem Fenster heraus die Piloten eines Polizeihubschraubers mit einem Laser geblendet haben. Versuchter Mord, sagt die Staatsanwaltschaft. Der Mann sitzt in U-Haft. Seine angebliche Tatwaffe indes war ein Disco-Laser, heißt es inzwischen im Landeskriminalamt, TÜV-geprüft für den Hausgebrauch und ungefährlich. In ein paar Tagen ist Haftprüfung.

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Realitycheck zu G20-Polizeigewalt (taz 19.07.2017)

Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz leugnet Fälle von Polizeigewalt beim G20-Gipfel. Die taz und Betroffene können Anderes bezeugen.

Scholz, Polizei und Gewalt

Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) hat am vergangenen Freitag dem Sender NDR 90,3 im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel gesagt: „Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise.“

Hamburgs Senatssprecher Jörg Schmoll relativierte am Montag im Hamburger Abendblatt Scholz’Äußerungen. „Bei 20.000 Polizisten im Einsatz kann natürlich nie völlig ausgeschlossen werden, dass sich im Nachhinein herausstellt, dass sich einzelne Beamte nicht korrekt verhalten haben.“

Am Dienstag legte Olaf Scholz dann aber nach. Er sei empört über den Begriff „Polizeigewalt“, sagte Scholz Radio Hamburg. Die Gewalt und die Zerstörung sei klar von den Vermummten ausgegangen. „Wer das Wort Polizeigewalt in den Mund nimmt, (...) der diskreditiert die Polizei als Ganzes.“ Das Wort „Polizeigewalt“ nannte er einen „politischen Kampfbegriff“.

Beschwerden gebe es natürlich nach jedem größerem Polizeieinsatz, sagte Scholz. Das sei auch dieses Mal so und dem werde auch nachgegangen.

44 Strafanzeigen gegen Polizisten waren bis Ende vergangener Woche bei der Staatsanwaltschaft eingegangen. In 35 Fällen wurden die Ermittlungen aufgenommen. Von den 35 Fällen basieren 28 auf Strafanzeigen von Dritten, die restlichen wurden durch das Dezernat Interne Ermittlungen eingeleitet, also die polizeiliche Stelle, die für Ermittlungen gegen Polizisten zuständig ist.

Die Zahl der Polizisten, die während des Großeinsatzes verletzt wurden, gab die Polizei mit 476 an. Recherchen des Medienportals „Buzzfeed“ ergaben jedoch, dass das übertrieben ist. Über die Hälfte hätten sich bereits vor der „heißen Phase“ krankgemeldet. So blieben 231, die während der Protesttage verletzt wurden. Allerdings zählt die Polizei zu Verletzungen in ihren eigenen Reihen auch Kreislaufbeschwerden durch Dehydration und Verletzungen durch eigenes Pfefferspray.

21 Beamte seien so schwer verletzt worden, dass sie am nächsten Tag nicht wieder voll einsatzfähig gewesen seien.

Wie viele Demonstranten insgesamt verletzt wurden, ist bis heute unklar. Viele wurden vor Ort von Demo-SanitäterInnen behandelt. Nach Angaben der Hamburger Krankenhäuser wurden 189 Verletzte mit „demonstrationstypischen Verletzungen“ stationär behandelt. Die Gesamtzahl der Verletzten dürfte aber deutlich darüber liegen. Unter „demonstrationstypischen Verletzungen“ verstehen die Krankehäuser Knochenbrüche, Prellungen, Platzwunden oder Schnitte. Ein Sprecher des Asklepios-Klinik-Konzerns sagte, an Knochenbrüchen sei „alles dabei gewesen, was man sich so brechen kann – Knie, Schulter, Beckenring, Rippen, Handgelenke“.

Auch bei der Demo „Grenzenlose Solidarität“ ging Gewalt nur von vermummten Chaoten aus Foto: dpa

Die taz war vor, während und nach dem G20-Treffen mit ReporterInnen auf Hamburgs Straßen unterwegs. Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) hat nun gesagt, beim G20-Gipfel „Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise“. Wir und Betroffene können anderes bezeugen.

6. Juli, Hafenstraße/Pinnasberg, Demo „Welcome to hell“, Donnerstag, ca. 20.30 Uhr.

Es ist vielleicht eine halbe Stunde her, dass eine Berliner BFE-Einheit in die Spitze der stehenden „Welcome to Hell“-Demonstration reingeknüppelt hat – genau an der engsten Stelle der Demoroute zwischen der Sporthalle unter dem Park Fiction auf der einen und der Kaimauer der St. Pauli Hafenstraße auf der anderen Seite.

In Panik sind viele Demons­tranten die Kaimauer hochgeklettert und vom Geländer in die dicht gedrängte Menge gesprungen. Einige sprangen auf der anderen Seite weiter, vier Meter in die Tiefe. Der Rest versucht, landseitig vor den immer neuen Pfefferspraysalven wegzukommen. Einige Menschen suchen in einer Tiefgarage Schutz. Dann beginnt das Katz-und-Maus-Spiel: Ein paar Schritte vor – Knüppel – Pfefferspray – ein paar Schritte zurück.

Bis die Demons­tranten über eine Treppe auf den Pinnasberg gelangen können. Dann werfen sie von oben Flaschen. Ein paar Leute laufen die Treppe wieder hinunter – und wieder hoch, als die Polizei vorrückt. Ein Polizist tritt einem Mann von hinten in die Beine. Er stürzt auf der Treppe. Der Polizist tritt immer wieder auf den liegenden Mann ein. Die anderen rennen einfach über ihn drüber. Irgendwie schafft der Mann es, sich aufzurappeln, rennt die Treppe hoch und einfach nur weg, auf eine Reihe gut kniehoher Findlinge zu. Ein Polizist erwischt ihn noch und schubst ihn mit Schwung auf einen der Steine. Jan Kahlcke

Hein-Köllisch-Platz, ca. 20.30 Uhr

Über den Platz tragen Demo-Sanitäter und Demonstranten eine verletze Person liegend in das Stadtteilzentrum Kölibri. Mit Tüchern wird sie vor Blicken geschützt. Nachfragen ergaben, dass sie von Polizisten stark verletzt wurde. Wenig später wird erneut eine verletzte Person liegend in das Stadtteilzentrum gebracht. Am Abend kommt ein Rettungswagen, um eine Person ins Krankenhaus zu bringen. Andreas Speit

Holstenstraße/ Reeperbahn, ca. 22.15 Uhr

Nachdem die „Welcome to hell“-Demo am Donnerstagabend aufgelöst wurde, stehen wir mit einer Gruppe von fünf Männern und Frauen, bunt gekleidet, im Alter um die 50 Jahre, an der Holstenstraße Ecke Reeperbahn. Wir beobachten, wie sich eine neue Demo formiert und folgen ihr in der Holstenstraße auf der rechten Straßenseite. Als ein großer Trupp weiß-behelmter Polizisten von hinten kommt, bleiben wir stehen und lassen sie an uns vorbeiziehen. Plötzlich tritt einer der Polizisten aus der Reihe, nimmt mehrere Flaschen vom Boden auf und schleudert sie uns aus vier, fünf Meter Entfernung zwischen die Füße – völlig ohne Grund. Wir müssen wegspringen und sind aufgebracht. Auch die Kollegen des Beamten scheinen von seinem Verhalten irritiert. Als ein junger Mann auf ihn zugeht und fragt, was das solle, schlägt ihm der Polizist direkt mit der Faust ins Gesicht – so stark, dass der junge Mann zu Boden geht. Diese Szene wird auch gefilmt. Miriam Hensel

Ein Hamburger Rechtsanwalt, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, war auch in der Gruppe unterwegs und bestätigt die beschriebene Szene. Jean-Philipp Baeck

Max-Brauer-Alle, 23.30 Uhr

An der Sternbrücke war es zu einem Wasserwerfereinsatz gegen die Demo gekommen, Menschen wurden überrannt. Eine NDR-Nachrichtenredakteurin wird nun mehrfach weggeschubst, obwohl sie deutlich ihre offizielle G20-Presseakkreditierung zeigt. Wenig später hält der Rest der Demonstranten auf der Max-Brauer-Allee Ecke Schulterblatt eine Kundgebung ab. Immer wieder stürmten nun behelmte und gepanzerte Trupps von Polizisten in die Menge, schlagen und rammen Leute um. Auf einige wird weiter eingeschlagen, als sie schon am Boden liegen. Gerade als die Demo vom Lautsprecherwagen aus aufgelöst werden soll, attackiert die Polizei die Menge erneut mit Wasserwerfern. Die Polizei sprüht Pfefferspray in die Menge. Jean-Philipp Baeck

Ballindamm, ca. 11 Uhr

Nachdem am Freitagmorgen, dem Tag der Blockaden, die meisten Protestzüge frühzeitig von der Polizei gekesselt worden waren, treffen sich einige noch nicht aus dem Verkehr gezogene Aktivisten gegen 11 Uhr am Jungfernstieg an der Binnenalster. Von dort setzen sie sich in Richtung der einzigen bestehenden Blockade vor Donald Trumps Gästehaus in Bewegung. Aber eine Hundertschaft kommt von vorne angefahren und versperrt ihnen den Weg: Polizisten springen aus den Autos, ohne Vorankündigung schlagen sie mit ihren Schlagstöcken mit voller Wuchte auf jeden ein, den sie erwischen können. Auch Pfefferspray kommt hier zum Einsatz. Die Demonstranten werden in eine Seitengasse getrieben, eine junge Frau bleibt mit einer schweren, blutenden Kopfverletzung zurück. Für ein, zwei Minuten blockieren die Polizisten noch die Straße, dann springen sie in ihre Autos und fahren davon. Die Dynamik der Demonstranten ist gebrochen. Erik Peter

.........vollständig hier: http://www.taz.de
 
... und auch dieser Bericht im Hauptteil der taz vom gleichen Tag (19.07.2017) ist interessant: http://www.taz.de

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 Weitere Berichte aus der internationalen Presse, dem Telegraph (UK) und der NYT mit Filmen und Bildern hier (Danke, Gerd!):

Bericht: http://www.telegraph.co.uk/news/2017

Bildergalerie:  http://www.telegraph.co.uk/news

https://www.nytimes.com/2017

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nd, 20.07.2017  Politik

Hunderte gegen »Gipfel der Hetze« auf der Straße

Nach Hamburger G20-Randale: Demonstration gegen autoritäre Formierung der Gesellschaft, Polizeigewalt und Repression

Hunderte gegen »Gipfel der Hetze« auf der Straße

Berlin. Erstmals nach dem G20-Gipfel hat in Hamburg ein Bündnis linker Gruppen am Mittwoch in der Hansestadt demonstriert. Hunderte Menschen zogen friedlich durch die Innenstadt zum Schulterblatt im Schanzenviertel, wo es beim G20-Gipfel Anfang Juli zu Krawallen gekommen war. Die Abschlusskundgebung fand vor dem linken Kulturzentrum Rote Flora statt, das nach dem Willen einiger CDU- und FDP-Politiker wegen seiner Rolle bei den G20-Protesten geschlossen werden sollte.

Die Polizei sprach von etwa 600 Teilnehmern, die Veranstalter von knapp 1.000. Die Demonstranten skandieren dazu: »Bürgermeister kommen und gehen - Rote Flora bleibt bestehen.« Auf Bannern hieß es: »Gipfel der Hetze - gegen die autoritäre Formierung der Gesellschaft« oder »Freiheit stirbt mit Sicherheit«.

Ein Bündnis hatte zu der Aktion aufgerufen. »Der G20 ist vorbei und was bei uns bleibt, ist der Schrecken über die öffentlichen Reaktionen auf Proteste, Ausschreitungen im Schanzenviertel und Gewalt seitens der Polizei. Im Nachklapp offenbart sich eine autoritäre Formierung der Gesellschaft, die sich im Internet in Gewaltfantasien gegenüber vermeintlichen ›Linksextremisten‹, auf der Regierungsbank als verbale Aushebelung der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung und auf der Straße als spontane Massenmobilisierung zum Wiederaufbau der ›kriegszerstörten‹ Schanze zeigt«, hieß es in einem Aufruf.

»Die inzwischen gut dokumentierte, massive Polizeigewalt am Rande der Welcome to Hell-Demo und anderer Einsätze rund um den G20-Gipfel wird zugleich entweder verleugnet oder – berauscht von Bestrafungsfantasien – ausdrücklich begrüßt. Kritische Stimmen von Journalisten und Anwohnern, vermögen trotz großer Verbreitung einzelner Statements in den sozialen Medien kaum den Diskurs zu verschieben«, so die Demonstrierenden. Ein Bündnissprecher hatte vor der Demonstration erklärt: »Wir erleben gerade in Deutschland eine Hetzkampagne gegen alles, was links ist.« Agenturen/nd


 
nd, 20.07.2017 von Nicolai Hagedorn

G20: Woher kam das Reizgas?

Verletzte hessische Polizisten sorgten für Schlagzeilen - doch wohl nicht alle behördlichen Meldungen sind haltbar

»Eine flächendeckende Attacke mit Tränengas und/oder Pfefferspray auf 130 Polizisten ist mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit ein Schauermärchen«, erklärt Alexis Passadakis von Attac unter Verweis auf ähnlich gelagerte Fälle in der Vergangenheit. »Bereits bei vergangenen Gipfeln haben die Behörden irreführende oder bewusst falsche Zahlen von Verletzten lanciert. Genauso Berichte über Angriffe, die sich im Nachhinein als falsch erwiesen.« Passadakis erzählt etwa von einer angeblichen Säureattacke auf Polizisten - die Säure habe sich letztlich als »Seifenblasenlauge der Clowns Army« entpuppt. Auch sei dies nicht das erste Mal, dass sich Polizisten wohl selbst mit Reizgas eingedeckt haben.

 

Der aktuelle Fall ist dagegen aus zweifacher Hinsicht ernst zu nehmen. Zum einen stammt die Information diesmal direkt aus einem Landesinnenministerium, zum anderen wäre ein Reizgas- oder Pfeffersprayangriff mit 130 verletzten Polizisten wohl einmalig in der deutschen Demonstrationsgeschichte. Allerdings mehren sich die Zweifel an der Richtigkeit dieser Darstellung. Auf der Bilanz-Pressekonferenz mit Polizeipräsident Ralf Meyer und Gesamteinsatzleiter Hartmut Dudde etwa wurde der vermeintliche Großangriff, der immerhin für fast dreißig Prozent aller bei G20 verletzten Polizisten verantwortlich sein soll, mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen erklären zwei Augenzeugen nun gegenüber »nd« übereinstimmend, es sei am Samstag Abend im Schanzenviertel zu einer plötzlichen, anlasslosen und brutalen Räumung des Platzes vor der Roten Flora durch die Polizei gekommen. In der folgenden Stunde liefen demnach vermummte Einheiten der Polizei auf und ab und machten gelegentlich Jagd auf Umstehende. Ein Demonstrant fasste die Übergriffe der Polizei gegenüber »graswurzel.tv« zusammen: »Keine Provokation, die haben einfach Bock.«

Was dann folgte, war ein Polizeieinsatz, der bis in die frühen Morgenstunden dauerte und bei dem immer wieder Wasserwerfer und Räumpanzer durch das sich zusehends leerende Schulterblatt fuhren. Während dieses über mehrere Stunden andauernden »Dauerkreisverkehrs« kam es laut den Zeugenberichten auch zu Abschüssen von Tränengaskartuschen von den Polizeieinheiten in Richtung der Demonstranten: »An der Kreuzung vor der Flora ist beispielsweise eine Gaskartusche explodiert, die von der unteren Straße aufwärts kam, sprich aus Richtung der Behelmten und ihrer Einsatzfahrzeuge.« Auf die Frage, ob es möglich sei, dass von den zu diesem Zeitpunkt noch anwesenden Demonstranten ein groß angelegter Gegenangriff mit Reizgas stattgefunden habe, antwortet ein Augenzeuge, der wie alle anderen seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte: »Nur ein Bruchteil der Leute war demonstrationserfahren. Es gab quasi keine Bezugsgruppen und nichts. Stattdessen: Besoffene, die sich T-Shirts in diversen Farben umgeschnallt hatten, beziehungsweise in ihren Kapuzen und Kleidungskragen Atemschutz suchten. Keiner der vermeintlichen «Demonstranten» hat sich nur ansatzweise getraut, nah genug an die Polizisten heranzutreten, um Pfefferspray überhaupt einsetzen zu können.«

Rafael Behr, Professor für Polizeiwissenschaften an der Polizeiakademie Hamburg, bemerkte schließlich gegenüber buzzfeed.com: »Mit höchster Wahrscheinlichkeit sind das Beamte, wo die Autonomen die Geschosse mit dem Reizstoff einfach wieder zurück geworfen haben.« Jedoch wird nicht einmal diese Version von den Zeugen bestätigt.

Die Pressestelle des hessischen Innenministeriums blieb trotz mehrfacher Nachfrage eine Klarstellung schuldig. Zu möglichen politischen Konsequenzen von falschen Behauptungen seitens der Innenbehörde stellt Alexis Passadakis indes fest: »Falls der hessische Innenminister bewusst Falschaussagen zu dem Verlauf der G20-Proteste lanciert, bliebe als Konsequenz nur ein Rücktritt.«

Janine Wissler, Linksfraktionschefin im hessischen Landtag, weist darüberhinaus darauf hin, dass der Minister so etwas nach Blockupy »schon so ähnlich behauptet« habe. Im übrigen sei es auch nicht plausibel, »woher solche Mengen Pfefferspray kommen sollten«.




nd, 20.07.2017 von Fabian Hillebrand

Falken klagen gegen Polizeigewahrsam beim G20-Gipfel

Mitglieder der Jugendorganisation waren auf dem Weg zur Großdemonstration in Hamburg gestoppt worden / Innensenator Andy Grote räumt Fehler ein

Mitglieder der Organisation »Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken« wollen wegen von ihnen berichtete Misshandlung durch die Polizei klagen. Das teilte der Jugendverband am Mittwoch mit. Hintergrund ist die Durchsuchung eines Busses, der Mitglieder der Falken und andere Jugendverbände zu der am 8. Juli in Hamburg stattfindenden Großdemonstration »Solidarität statt G20« bringen sollte.

Gegen 7 Uhr morgens soll der Bus nach Aussage der Falken von mehreren Polizeifahrzeugen auf eine Raststätte eskortiert worden sein. Der Bus war mit 44 jungen Menschen auf dem Weg von Nordrhein-Westfalen nach Hamburg. Von der Raststätte wurden die Jugendlichen in die Gefangenensammelstelle in Hamburg-Harburg gebracht. Laut Darstellung der Falken wurden die Betroffenen dort vier Stunden lang festgehalten. Einige der Jugendlichen mussten sich laut Falken nackt ausziehen und wurden dann intensiv abgetastet. Der Hinweis, dass sich auch Minderjährige unter den Mitfahrenden befänden, man ein Jugendverband sei und zu einer angemeldeten Demonstration wolle, wurde von der Polizei ignoriert. Auch Anrufe bei Anwälten sollen den Betroffenen nicht gewährt worden sein.

»Nach reiflicher Prüfung und Beratung haben Anna Cannavo und ich uns heute entschieden gegen die rechtswidrige Freiheitsentziehung durch die Hamburger Polizei zu klagen«, dass teilte Paul M. Erzkamp, Vorsitzender der SJD – Die Falken im Landesverband NRW, am Mittwoch mit. Zur Begründung sagte Erzkamp: »Die gesamte Maßnahme griff massiv in die Freiheitsrechte der teilweise minderjährigen Teilnehmer*Innen ein. Wir wollen eine Feststellung durch das Verwaltungsgericht, dass dies rechtswidrig war. Es muss klar gestellt werden, dass junge Menschen keine Angst vor polizeilicher Repression haben brauchen, wenn sie zu einer angemeldeten Demonstration fahren.«

Das Verwaltungsgericht muss jetzt juristisch feststellen, ob ein Fehlverhalten der Polizei vorliegt. Die beiden Klagenden gegen davon aus, dass weitere Betroffene aus dem Bus Anzeige erstatten werden.

Am Mittwochabend äußerte sich auch Innensenator Andy Grote in einer Sondersitzung des Innenausschusses der Hamburgischen Bürgerschaft zu dem G20-Wochenende. Auf Nachfrage von SPD-Fraktionschef Andreas Dressel sagte Grote, der Umgang mit den betroffenen Jugendorganisationen sei auf einen »Fehler bei der Übertragung eines Kennzeichens« zurückzuführen. Eigentlich hätte ein anderer Bus kontrolliert werden sollen. Grote meinte, die polizeiliche Maßnahme sei »ein Vorgang, für den man sich nur entschuldigen kann, da ist ein bedauerlicher Fehler passiert«. Es ist das erste Mal, dass Innensenator Andy Grote ein Fehlverhalten der Sicherheitskräfte während des G20-Gipfels einräumt.

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