Zum Vortrag von Markus Wissen am 12. März 3028 in Flensburg, Aktivitetshuset

Wissen sprach am Montag über sein Buch und seine Thesen für eine "solidarische Lebensweise". Er liegt auf einer Linie etwa mit Stephan Lessenich, dem Nachfolger von Ulrich Beck.
Prof. Dr. Markus Wissen machte klar, warum er sich zunächst auf die Un-Logik westlicher Lebensweisen kapriziert: Zusammen mit Ulrich Brand möchte er genauer analysieren, ehe er und sein Mitautor Lösungen und Alternativen entwerfen. Warum etwa werden die hochmotorisierten Diesel-SUVs (Special-Purpose-Vehicles) gekauft, warum die vielen Geschäfts- und Ferienreisen? Warum, wo doch die Belastung für Gesundheit, Umwelt und Ressourcenverbrauch bekannt sein dürften? Der Hungerlohn für die in den armen Länder herstellte Bekleidungsartikel macht nur ein Prozent des Verkaufspreises aus. Discounter und Supermärkte bieten ein Angebot an, das unabhängig von Anbaubedingungen, Saison und Transportkosten verfügbar ist. Der Transport auf Straßen, über See oder gar per Luftfracht ist alles andere als nachhaltig.
Wissen machte das am Beispiel der „SUV“-Autos fest. Es mag Menschen geben, das wurde auch in der lebhaften Diskussion geäußerst, denen die CO2-Frage, die Belastung durch Stickoxyde und die Billiglöhne schlicht egal sind. Aber die meisten denken doch auch an ihre Kinder und Enkel?
Wissen machte an Beispielen deutlich, dass subtile SUV-Werbung damit spiele, dass robuste Ausstattung und hohe Sitzposionen Sicherheit gegen die Gefahren der Straße und der Umweltkrisen (Trockenheit, Überflutung, u.ä.) bieten: Mit dem SUV den insinuierten Fluten, Stürmen und Erwärmungen trotzen...
Warum läßt die westliche Welt immer größere globale Unternehmen zu, während Genossenschaften als Organisationsform zurückgehen? [Gerade wird diskutiert, daß EDEKA, ALDI und Lidl eine übergröße Nachfrageposition über den kleiner strukturierten Lebensmittelprodutzenten einnehmen. Selbst die Oligopole der Molkereien und der Fleischindustrie können über Importe ausgehebelt werden.]
Zum „grünen Kapitalismus” grenzen sich Brand und Wissen ab: Die Idee, man könne Trends umkehren, indem man allein die Effizienz, Motoren etc. verbessert, Umwelt-freundlicher macht, den Verkehrsfluß durch Digitalisierung optimiert, intelligente Kreisläufe entwirft etc. trägt grundsätzlich nicht, so sinnvoll die Ansätze im Einzelnen sein mögen.
Wissen will nicht moralisieren. Eine genaue Analyse scheint ihm der beste Weg zu einer Umkehr zu sein. Ein neu austariertes Verhältnis zwischen Wirtschaft und Demokratie ist eine Voraussetzungen für das angestrebte Ziel: die solidarische Lebensweise.
Im Zusammenhand mit der Digitalisierung – das Thema wurde nur kurz gestreift – stellen sich alle die genannten Fragen neu. Die zunehmende Kommunikation ist ja nicht umsonst: Der Betrieb riesiger Serverparks und großer Internetknotenpukte sowie Herstellung und Betrieb der Millionen Endgeräte erfordern enormen Verbrauch an Ressourcen. In Frankfurt befinden sich fast 20 große Rechenzentren, über die die Internetkommunikation mit über 50 Ländern und insbesondere mit den USA läuft. Ähnlich wie bei der geplanten Umstellung auf Elektrofahrzeuge rechnet man dafür ein weiteres Drittel an zusätzlicher Stromerzeugung.
Gerhard Schroeder, März 2018

 

Eine Buch- und Diskussions-Empfehlung

Ulrich Brand und Markus Wissen analysieren in ihrem Buch die imperiale Lebensweise und ihre Konsequenzen. Sie beruht darauf, dass ihre zerstörerischen Folgen auf andere Regionen der Welt verlagert werden.

21.05.2017 11:28 Uhr - FR - 

Eine markante Ausdrucksform dessen, was Ulrich Brand und Markus Wissen „imperiale Lebensweise“ nennen, offenbart sich, wenn Mann oder Frau im Rohstoffe und Sprit fressenden SUV (Sports- and Utility-Vehicle) zum Biobauern fährt und zugleich ein gediegenes Umwelt- und Gesundheitsbewusstsein zeigt. Der Begriff verweist darauf, dass das alltägliche Leben in den kapitalistischen Zentren nur durch den unbegrenzten Zugriff auf die Rohstoffe, das Arbeitsvermögen und die Ökosysteme in der Peripherie ermöglicht wird – mit der Folge, dass sich dort Gewalt, Entwurzelung, Hunger, Seuchen, Epidemien, ökologische Zerstörung und politisch-gesellschaftliches Chaos ausbreiten.

Die „imperiale Lebensweise“ beruht auf einer Art gesellschaftsstabilisierendem Kompromiss zwischen den Interessen der Herrschenden und breiteren Schichten der Bevölkerung. Die sie kennzeichnende Art des Produzierens und Konsumierens ist tief in das allgemeine Bewusstsein, die alltäglichen Verhaltensweisen und die Subjektprägungen eingeschrieben. Sie beruht darauf, dass ihre zerstörerischen Folgen auf andere Regionen der Welt verlagert werden.

Diesen Zusammenhang anzusprechen ist zwar nicht ganz neu, in der politischen Debatte und im allgemeinen Bewusstsein spielt er allerdings bestenfalls eine Nebenrolle. Das Verdienst der Autoren besteht darin, die damit verbundene Problematik weit ausgreifend, theoretisch gut begründet und mit empirischem Material unterlegt aufzuzeigen.

Das beginnt mit einer Kritik der aktuellen Debatte, in der oft von der Notwendigkeit einer „großen Transformation“ die Rede ist, das zugrundeliegende Problem, nämlich die kapitalistische Vergesellschaftungsweise aber überhaupt nicht thematisiert wird. Es folgt eine ausführliche Skizze der historischen Entwicklung vom frühen Kapitalismus und Kolonialismus bis zum Fordismus in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und zur als „Globalisierung“ bezeichneten neoliberalen Offensive. Dabei setzen die Autoren die umwälzende Dynamik des Kapitalismus in Verbindung mit den sozialen Kämpfen um eine Verbesserung der Lebensbedingungen.

Einen Höhepunkt erreicht dies laut Brand und Wissen im Fordismus, der durch eine Verbindung von Massenproduktion und Massenkonsum gekennzeichnet ist und zu einer Ausbreitung der „imperialen Lebensweise“ in breitere Schichten der Bevölkerung hinein geführt habe. Dies habe zunächst kritischen sozialen Richtungen wie der Ökologiebewegung und Drittweltinitiativen Auftrieb gegeben. Im Zuge der neoliberalen Offensive gab es stattdessen eine gewisse Verallgemeinerung der „imperialen Lebensweise“ im globalen Maßstab, vor allem in einigen Schwellenländern wie etwa in Lateinamerika oder China. Damit – wegen der sich verschärfenden Konkurrenz um Rohstoffe und Externalisierungsmöglichkeiten – wuchsen zugleich die Spannungen.

Die Autoren erläutern die Dimensionen der „imperialen Lebensweise“ am Beispiel des Autos. Insbesondere das SUV gilt ihnen als hervorstechender Ausdruck neoliberaler Subjektivität, in der die imperiale Lebensweise eingeschrieben ist. Soziale Polarisierung und marktförmiger Konkurrenz in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein drücken sich hier in besonderer Weise aus. Zugleich betonen sie, dass die als Ausweg aus den zerstörerischen Folgen des Automobilverkehrs gehandelte Einführung von Elektroautos eine nur scheinbare Lösung darstellt, wenn man nicht nur den Energieverbrauch beim Fahren, sondern die Rohstoffe und Energien berücksichtigt, die zu ihrer Produktion gebraucht werden.

Bei dieser „Ökologisierung“ des Automobilverkehrs handle es sich um den Versuch, durch „selektive Modernisierung“ die imperiale Lebensweise auf Dauer zu stellen. Von einer Eindämmung des Autoverkehrs zugunsten des öffentlichen Nahverkehrs, von einer Verkürzung und Vermeidung von Verkehrswegen und entsprechenden stadt- und raumplanerischen Maßnahmen sei dabei kaum die Rede.

Ein Anfang wäre es, seine Lebensweise zu hinterfragen

Insgesamt erteilen die Autoren den Vorstellungen von einem „grünen“ Kapitalismus eine deutliche Absage, und zwar deshalb, weil dabei die kapitalistischen Dynamiken und Herrschaftsverhältnisse ausgeblendet bleiben, die Grundlage der sich vervielfachenden Krisenerscheinungen seien. Die imperiale Lebensweise werde in ihren Grundzügen überhaupt nicht in Frage gestellt. Dies gelte auch dann, wenn die Kompensation ökologischer Zerstörungen selbst zu einem Vehikel der Kapitalverwertung gemacht wird. Es handle sich dabei vielmehr um eine neue Phase der kapitalistischen Naturaneignung. Dies wird am Beispiel des „land grabbing“ erläutert, der Übernahme von Ackerflächen durch große Investoren, die z.B. zum Anbau energieliefernder Pflanzen dienen und was zur Vertreibung der dort ansässigen Bevölkerung führt.

Das „Grünen“ des Kapitalismus“ verweise darauf, dass dieser durchaus über Möglichkeiten verfüge, seine Krisen zu bearbeiten. Er habe keine notwendige Naturgrenze. Vielmehr seien es „die über eine imperiale Naturaneignung vermittelte soziale Ungleichheit, an der sich zentrale sozial-ökologische Konflikte entzünden und demokratische Alternativen entwickelt werden können“.

Was dies heißen könnte, deuten Brand und Wissen im letzten Kapitel an. Sie gehen davon aus, dass die herrschende „multiple Krise“ (sozial, ökonomisch, ökologisch und politisch) einen Wendepunkt darstellen und gesellschaftsverändernde Initiativen vorantreiben könnte. Das wachsende Unbehagen an den bestehenden Verhältnissen deute darauf hin. Es komme vor allem darauf an, die eigene Lebensweise zu hinterfragen und praktische Ansätze einer solidarischen Gesellschaftsordnung zu entwickeln. Solche seien bereits in vielen Teilen der Welt anzutreffen. Ein Ziel müsse ein grundlegender institutioneller Umbau des Staates und eine umfassende Demokratisierung sein.

Die von den Autoren vorgelegte Analyse ist überzeugend. Recht vage bleiben allerdings die Überlegungen in Bezug auf mögliche gesellschaftliche Veränderungen. Dass sich aus einer Krise heraus emanzipative Bewegungen bilden, muss nach allen Erfahrungen mit einem Fragezeichen versehen werden. Möglich ist auch eine noch aggressivere Verteidigung der herrschenden Lebensweise, verbunden mit einer Verhärtung autoritärer Herrschaftsformen. Dass dabei die Waffenproduktion als Quelle des Kapitalprofits eine zunehmende Rolle spielen könnte, zeichnet sich bereits deutlich ab. Wenig ausgeführt sind auch die Überlegungen, wie ein institutioneller Umbau des Staates konkret aussehen sollte und vor allem wie eine „solidarische Lebensweise“, d.h. eine andere Ökonomie praktisch zu regulieren wäre. Wenn es um die Veränderung von Bewusstsein und die Entwicklung einer alternativen Hegemonie gehen soll, müsste das deutlicher ausbuchstabiert werden.

Es ist den Autoren nicht vorzuwerfen, dass sie keinen Masterplan für eine ökonomisch und politisch andere Gesellschaft vorstellen. Dazu braucht es praktische Erfahrungen und ihre Reflexion ebenso wie weiter gehende theoretische Diskussionen. Dazu genügend Anlass gegeben zu haben, ist das Verdienst dieses äußerst lesenswerten Buches.

„Unsere imperiale Lebensweise muss verändert werden“

Ulrich Brand, Professor an der Universität Wien, ist seit vielen Jahren in der globalisierungskritischen Bewegung aktiv. Im Rahmen einer interdisziplinären Gruppe untersucht er in Lateinamerika „Alternativen zur Entwicklung“. Auch zum extraktivistischen Entwicklungsmodell. Mit ihm sprach Südwind-Redakteur Werner Hörtner.

Südwind-Magazin: Die Ausbeutung von Rohstoffen gilt immer noch als unentbehrliche Grundlage für die industrielle Entwicklung und den Wohlstand des globalen Nordens. Und obwohl nur ein geringer Teil der Wertschöpfung im Ursprungsland selbst bleibt, betrachten die exportierenden Staaten des Südens den Extraktivismus als Rettung für ihre Budgets. Wie kann man diesen Ländern eine post-extraktivistische Lösung schmackhaft machen?
Ulrich Brand
: Da gibt es verschiedene Ansatzpunkte, man muss aber auch sehen, wo die Hindernisse liegen. In den Extraktionsländern ist es schwer, den herrschenden Eliten eine post-extraktivistische Lösung schmackhaft zu machen, weil sie gut daran verdienen. Wenn wir über Post-Extraktivismus reden – und das ist auch der Ansatz unserer Arbeitsgruppe –, so reden wir in erster Linie über kritische politische Kräfte, über soziale Bewegungen. Also wären erst einmal die Vorschläge und Erfahrungen von alternativen Akteuren ernst zu nehmen. Etwa die der Landlosenbewegung in Brasilien hinsichtlich einer ökologischen kleinbäuerlichen Landwirtschaft oder die der indigenen Bewegungen in den Andenländern. Die Erfahrung der Bewegungen ist: Industrielle Landwirtschaft ist nicht für die lokale Bevölkerung, die Förderung von Öl macht alles kaputt, Goldabbau zerstört alles. Deren Vorschläge zu kennen, ist ein wichtiger Teil der Arbeit unserer Gruppe. Wir sehen rasch: Es gibt genügend Alternativen, von lokaler Ökonomie wie etwa  ökologischem Tourismus oder ökologischem Landbau. Das wäre einmal die lokale Ebene.

Welche anderen Auswege oder Alternativen gibt es?
Auf der nationalen Ebene steht in Lateinamerika die alte Frage nach einer Landreform auf dem Tapet. Wir können nur wegkommen vom extraktivistischen Modell, wenn es eine andere ökonomische Struktur gibt. Auf dieser Ebene geht es darum, alternative Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle voranzutreiben, also wegzukommen von dieser großen Abhängigkeit der Staatsbudgets, der damit einhergehenden Verteilungsspielräume vom Verkauf der agrarischen, mineralischen und fossilen Rohstoffe auf dem Weltmarkt. Das beinhaltet die Frage nach nachhaltigen Formen der Industrialisierung in den Ländern und ganz zentral die der Landreform, die Frage der nachhaltigen Nutzung von Ressourcen. 

Die dritte Ebene, wo wir noch nicht viele Antworten haben, ist sicherlich die internationale Ebene. Wie wird den Ländern, und zwar sowohl den Regierungen und Eliten als auch den Bevölkerungen, garantiert, dass durch ein deutliches Herunterfahren dieses gierigen, zerstörerischen Extraktivismus für sie keine großen Verluste entstehen? Da sind wir bei der Frage einer solidarischen internationalen Wirtschaftspolitik, bei der Frage der Preisregulierung, der Einschränkung der Macht der transnationalen Unternehmen. Wie wird z.B. in Ecuador Wohlstand geschaffen und werden dafür vielleicht Mittelzuflüsse von außen gesichert, wenn in zehn Jahren das Land nur mehr ein Viertel des Erdöls – verglichen mit heute – exportiert?

Sind wir in den reichen Ländern nicht auch in diese Problematik eingebunden?
Das würde ich als eine vierte Dimension bezeichnen, nämlich dass die Produktions- und Lebensweisen – unsere imperiale Lebensweise, wie ich es gemeinsam mit Markus Wissen nenne – unbedingt verändert werden muss.  Sie ist es ja, die diesen Extraktivismus erzwingt. Also die Frage nach dem Post-Extraktivismus muss auch hier bei uns, auch in Österreich gestellt werden und nicht nur in Ecuador und außereuropäischen Regionen.

Gibt es Regierungen oder Politiker im Süden, die ernsthaft einen Ausweg aus dieser Rohstofffalle suchen?
Die Politiker, die am ehesten dazu gedrängt werden und die eigentlich auf Grund ihrer Verfassung dazu verpflichtet wären, sind natürlich Correa, Morales und Chávez. Sie verpflichten sich auch in ihren Diskursen immer wieder dazu. Wir von der Arbeitsgruppe haben nun eine Studie zu diesem Thema erstellt, mit dem Ergebnis, dass dieser Versuch in allen drei Ländern misslingt. Die politischen und ökonomischen Kräfte, die eine Fortführung des Extraktivismus aufgrund der erhöhten Rohstoff-Renten wollen, sind einfach zu stark. Und die Frage einer Agrarreform wird überhaupt nicht aufgenommen. In Brasilien und Argentinien gibt es sogar einen begeisterten Pro-Extraktivismus, auch wenn die brasilianische Regierung dauernd von „grüner Ökonomie“ spricht – was in Argentinien übrigens kaum jemand macht.

Ein interessantes Phänomen gibt es in Thailand. Dort hat der König nach der Krise 1997 das Konzept einer „Suffizienz-Ökonomie“ ausgerufen, die im öffentlichen Diskurs ziemlich stark ist und die teilweise auf der lokalen Ebene auch umgesetzt wird, die aber in einem ähnlichen Dilemma steckt. Dennoch sind Thailand und noch stärker Bhutan wichtige Beiträge zum Post-Extraktivismus. Es ist ganz wichtig, in Bhutan, wo ein buddhistisches Gesellschaftsverständnis stark im Alltag verankert ist, sich anzuschauen, was bedeutet da Leben, was bedeutet Gesellschaft, soziales Verhalten. Das kann nicht eins zu eins übertragen werden. Der Horizont des Guten Lebens aus den Andenländern ja auch nicht. Und dennoch bieten diese Erfahrungen viele Anknüpfungspunkte.

Hat Ihre Arbeitsgruppe schon praktikable Modelle von „Alternativen zur Entwicklung“ gefunden?
Wir sind bald nach der Konstitutierung unserer Gruppe aufs Land im nördlichen Ecuador gefahren und haben uns Widerstände gegen Bergbauprojekte angesehen. Als eine Untersuchungsperspektive geht es uns darum, über die aktuellen Konflikte im Extraktivismus herauszubekommen, wie Alternativen entstehen, was ihr Stellenwert ist. Bis jetzt sind wir stark mit mineralischen Rohstoffen und fossilen Energieträgern befasst, weniger mit agrarischen Rohstoffen.

Wir verfolgen mit unserer Arbeit eine kritische Wissensproduktion, die in der Bewegung, aber auch in staatlichen Apparaten in den Medien eine Rolle spielt. Wir machen keine Strategiepapiere, keine Aufrufe, sondern wir wollen über Erfahrungsaustausch und Reflexion in der Analyse weiterkommen. Die soll dann unterschiedlichen Akteuren bei ihren Positionsbestimmungen und Strategieentwicklungen durchaus helfen.

Ulrich Brand studierte Tourismus mit dem Schwerpunkt Hotellerie an der Berufsakademie Ravensburg und anschließend Politikwissenschaft in Frankfurt/M., Berlin und Buenos Aires. Ab 2007 Professor für Internationale Politik an der Universität Wien, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac Deutschland und in der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO). Seine Arbeitschwerpunkte sind kritische Staats- und Gesellschaftstheorie, Ressourcen- und Umweltpolitik, Lateinamerika.

____________________________________________________

 

Bild 
Ulrich Brand/Markus Wissen: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, 224 S., 14,95 €;

 

 

I.L.A. Kollektiv: Auf Kosten anderer? Wie die imperiale Lebensweise ein gutes Leben für alle verhindert,128 S., 19,95 €, beide oekom-Verlag 2017.

 

 

 

 

 

 

Eine erste, vorläufige Bilanz der Interventionistischen Linken
Demo: Grenzenlose Solidarität
 

Sagen wir zuerst das Allerwichtigste: Hamburg befand sich nicht nur eine Woche im polizeilichen Ausnahmezustand, der uns eine Warnung sein sollte. Nein, ebenso wichtig: Zehntausende haben ihm getrotzt. Zehntausende haben keine Angst gehabt oder sind trotz ihrer Angst auf der Straße gewesen. Jede Demonstration, jedes Cornern und jedes aufgebaute Zelt stand unter der permanenten und allgegenwärtigen Drohung polizeilicher Gewalt. Niemand war vor ihr sicher. Das ist der Rahmen, in dem jede einzelne Aktion und jede Teilnehmer_innenzahl zu sehen ist. Dieser Mut und dieser Ungehorsam – von alt bis jung, von friedlich bis militant, von politisch bis kulturell – bleiben. Dieses Zeichen wird auch von unseren Freund_innen in Brasilien, Griechenland oder Südafrika verstanden werden. Egal was die Presse schreibt, egal was die Umfragen sagen. Das Kalkül, mit Repression und Diffamierung die Linke isolieren zu können, ist auf der Straße phänomenal gescheitert und hat sich ins Gegenteil verkehrt. Mit ein paar Linken wären Olaf Scholz und seine Einheiten vielleicht fertig geworden – nicht aber damit, dass sich große Teile der Bevölkerung solidarisierten. Unter Einsatz ihrer Körper. Auf der Straße. Massenhaft und ungehorsam in allen erdenklichen Formen und Farben.

Gipfel der 20, Gipfel der Vielen
Reden wir kurz über ihren Gipfel: Angela Merkel ist ihre G20-Show gründlich misslungen. Konkrete Ergebnisse des mindestens 400 Millionen teuren Gipfels, für den eine Millionenstadt über eine ganze Woche hinweg in den Ausnahmezustand versetzt wurde? Fehlanzeige! Das Versprechen vom „Festival der Demokratie“ oder dem Gipfel fast ohne Beeinträchtigungen? Gebrochen! Der Versuch, mit einem riesigen Polizeiaufmarsch und rigoroser Verbotspolitik die Proteste fern und klein zu halten? Gescheitert. Desaster ist ein oft gebrauchter Begriff der bürgerlichen Presse hierfür. Olaf Scholz und sein Innensenator sind blamiert bis auf die Knochen. Gipfeltreffen dieser Größenordnung in einer Großstadt in Westeuropa? Auf Jahre hinaus undenkbar. Die ganze Perspektivlosigkeit und Traurigkeit des globalen Kapitalismus, der keinerlei Zukunft mehr verspricht, wurde in ihrem hohlen Gipfeltheater deutlich. Es ist daher nicht nur der Riot der Freitagnacht, der Politik und Medien jetzt so aufheulen lässt, sondern auch ihre Niederlage auf der Straße. Eine Niederlage, von der sie nicht zulassen können, dass sie als unser Sieg erscheint.

Nun zu unserem Gipfel: Wir wollten das Spektakel der Macht nicht nur stören, sondern noch viel mehr. Wir wollten einen Aufstand der Hoffnung, die Alternativlosigkeit durchbrechen und zeigen, dass Widerstand und grundsätzlicher Widerspruch von links kommen. Dass sich der reale Konflikt um und in Hamburg tatsächlich als ein Widerstand gegen den Ausnahmezustand, als ein Konflikt um die Demokratie, als ein Kampf um das Recht auf die Stadt abspielen würde – das war natürlich so nicht geplant, aber es hat der Sache selbst entsprochen. Das alte Motto der Globalisierungsbewegung „Global denken, lokal handeln“ hat in Hamburg eine interessante und neue Wendung bekommen.

Eine Woche Ungehorsam
Die Woche des Aufbegehrens begann mit der Einschüchterung und der Drohung: Wir sollten nirgendwo sein. Nirgendwo schlafen, nirgendwo essen und auf 38 Quadratkilometer keine politischen Subjekte sein. Unsere Orte zum Schlafen und Versammeln wurden brutal schikaniert und geräumt. Die Polizei putschte gegen die Justiz. Ihre Besatzungsarmee militarisierte die Stadt. Doch am Ende waren die Vielen überall und sie hatten die Angst verloren.

Das ist vor allem der überwältigenden Solidarität in Hamburg zu verdanken. Menschen teilten ihre Wohnungen. In Hinterhöfen wurden Zelte aufgeschlagen. Mehrere Kirchen in St. Pauli und Altona öffneten ihre Türen und es entstanden Camps um sie herum. Das Schauspielhaus ließ G20-Gegner_innen zum Schlafen und Essen hinein, ebenso der FC St. Pauli. Sie wollten uns auseinandertreiben, uns trennen und spalten, aber das Gegenteil ist geschehen: Das Band der Freundschaft und der Solidarität zwischen ganz unterschiedlichen Menschen und Spektren wurde immer stärker – und es wird die Tage des Protests und des Widerstandes überdauern.

3 Tage wach
Die Wende von der Einschüchterung und Ohnmacht begann mit dem massenhaften Cornern am Dienstag und dem Wasserwerfer-Angriff der Polizei am Arrivati-Park. Die Leute wichen zwar kurz zurück, aber sie ließen sich nicht mehr zerstreuen. Die Angst wich langsam dem Trotz und dem Selbstbewusstsein. Die Polizei wollte die Stadt und ihre Plätze besetzen. Die starke Antwort war der Demo-Rave von Alles Allen, mehr als 20.000 strömten zusammen und tanzten gegen G20. Damit war der Damm der Ohnmacht gebrochen.

Am Donnerstag dann der maßlos brutale, unprovozierte Angriff der Polizei auf Welcome to Hell. Allen war klar, dass Senat und Polizei sich schon vorher entschlossen hatten, die genehmigte Demonstration nicht laufen zu lassen. Und trotzdem, trotz der Prügel, trotz des massiven Einsatzes von Reizgas, trotz einer Polizeibrutalität, die an dieser Stelle hätte tödlich enden können: Die Demo sammelte sich erneut, Menschen kamen hinzu, solidarisierten sich und lief dann doch. „Das ist unsere Stadt“ war eine Parole, die von nun an der Polizei immer wieder entgegenschallte.

Block G20
Die Rebellion der Hoffnung fand statt, ein solidarisches und mutiges Aufbegehren der Vielen. Dieser G20-Gipfel konnte nicht tagen, ohne dass wir einen spürbaren und wahrnehmbaren Unterschied machten. Die „Blaue Zone“ bestand nur in der Fantasie der Gipfelstrategen, praktisch hatte sie am Tag der Blockaden, dem Freitag, keine Bedeutung.

Die Aktionen von BlockG20 begannen mit der kollektiven Weigerung, die Demonstrationsverbotszone anzuerkennen. Von allen Seiten drangen wir bis auf die Protokollstrecken vor. Wir wurden angegriffen, gestoppt und geschlagen. Doch wir standen wieder auf, sammelten uns neu und machten weiter. Und es gelang tatsächlich, den Ablauf des Gipfels durcheinanderzubringen: Donald Trump kam verspätet, Melania Trump konnte das Senatsgästehaus nicht verlassen, mehrere Delegationen drehten an Blockaden um, eine Veranstaltung mit Finanzminister Schäuble wurde abgesagt, das Konzert in der Elbphilharmonie begann mit großer Verzögerung.
Entscheidend dafür war gute Planung und Vorbereitung in den Aktionstrainings ebenso wie die ungehorsame, mutige Spontanität von Vielen. Die Farben der Finger füllten die Straßen, sie flossen, fluteten und verstopften. Und sie verselbständigten sich, wurden im Laufe des Tages von einer organisierten Blockade der Route zu einer spontanen Besetzung der Stadt durch die Menge. Wir haben das Staunen wiederentdeckt, darüber wie unwiderstehlich und unaufhaltsam der Geist des Widerstandes durch die Stadt zog. Hamburger_innen, angereiste Aktivist_innen, Neu-Politisierte und allen voran die Jugend boten der Arroganz der Macht die Stirn. Jetzt erst Recht.

Grenzenlose Solidarität
Am Ende traten gezählte 76.000 Menschen gegen eine Welt der Angst ein. Sie waren dem gemeinsamen Aufruf zur Demonstration gefolgt. Die parallele Regierungsdemonstration von SPD und Grünen wurde zur peinlichen Marginalie. Die vielen Demonstrant_innen kamen, obwohl ihnen Angst gemacht werden sollte, obwohl ihnen von Medien und Inlandsgeheimdienst erzählt wurde, wie viele gefährliche Linksextremisten mitdemonstrieren würden. Sie kamen trotzdem, und sie kamen deswegen. Gemeinsam traten wir ein für Grenzenlose Solidarität, gegen die Welt der G20 und ihren Kapitalismus, für ein besseres Leben.

„Ganz Hamburg …“
Ja, zu den Bildern des Widerstands gehören auch jene, bei denen Menschen der Kragen geplatzt ist, bei denen sie sich gewehrt haben – und bei denen diese Gegenwehr umschlug in Aktionen, die sich nicht mehr gegen den Gipfel oder die Staatsmacht, sondern auch gegen Anwohner_innen und Geschäfte richtete. Es waren nicht unsere Aktionen. Die IL stand und steht für den Alternativgipfel, für Block G20 und für die Großdemonstration. Hier haben wir gesagt, was wir tun – und getan, was wir gesagt haben.

Aber wir können und wollen die Feuer der Freitagnacht nicht aus dem Ausnahmezustand lösen, in dem sie stattfanden. Wenn die Polizei über Tage hinweg Menschen drangsaliert, schlägt und verletzt, sich wie eine Besatzungsarmee aufführt, die von Deeskalation noch nie etwas gehört zu haben scheint, dann bleibt irgendwann die spontane Antwort nicht aus.
Wir haben schon vorher gesagt, dass wir uns nicht distanzieren werden und dass wir nicht vergessen werden, auf welcher Seite wir stehen. Wir stimmen nicht in den Chor derer ein, die jetzt von „Straftätern“ reden und die Mischung aus organisierten Militanten und zornigen Jugendlichen in die Nähe von Neonazis rücken. Die Unterbrechung und Zurückweisung ihrer Ordnung, die in den Aktionen lag, auch wenn wir sie in den Formen und den Zielen vielfach falsch finden, hat unser Verständnis.
Soweit die Aktionen von organisierten Gruppen ausgingen, finden wir es problematisch, dass sie dafür keine politische Verantwortung übernehmen, sondern es anderen politischen Spektren überlassen, mit, für und über sie zu reden. Über das politische Konzept des Insurrektionalismus wird kritisch zu reden sein, das zwar den Hunger nach Rebellion bedient, aber von dem eben keine Hoffnung und keine Solidarität ausgeht.

Schanze & Co
Auf unserer Seite, da stehen eben auch viele Anwohner_innen auf St. Pauli, im Schanzenviertel und in Altona. Nicht wenige von uns leben selbst dort. Ohne sie, ohne ihre praktische Solidarität, wären die Tage der Gipfelproteste nicht möglich gewesen. Wenn sie angegriffen und bedroht werden, wenn sich Aktionen plötzlich nicht mehr gegen den Gipfel, sondern auch gegen unsere Freund_innen im Stadtteil richten, stehen wir an ihrer Seite.

Wir sind weiter eine IL, die im Stadtteil lebt. Wir sind Teil dieser Stadt und dieser Viertel, Teil der Recht-Auf-Stadt-Bewegung. Wir werden den Dialog führen und zwar mit allen, die auf unserer Seite sind. Mit denjenigen, die das gut fanden und denjenigen, die darin kein politisches Handeln erkennen können. Wir wollen zuhören und lernen, da wir als Linke die sozialen Realitäten ja nicht einfach wegreden können, sondern uns in ihnen bewegen.

Die Tage danach
Und noch ein klares Wort zur Solidarität: Wir stehen gegen alle medialen Angriffe und Räumungsdrohungen fest an der Seite der Roten Flora, die das aus ihrer Sicht Notwendige zum Freitags-Riot gesagt hat. Wir sind ebenso solidarisch mit den G20-Entern-Gruppen und allen anderen, die jetzt in den Fokus der staatlichen Repression geraten. Und wir werden für alle einstehen, die noch im Knast sitzen oder von Repression betroffen sind. Ihr seid nicht alleine!

Zugleich verabscheuen wir die verlogene Doppelmoral von Teilen der bürgerlichen und politischen Klasse. Sie brauchen die Bilder brennender Autos und eingeschlagener Scheiben, um die Bilder der Ertrinkenden im Mittelmeer, der Opfer ihrer Kriege oder der Obdachlosen, die unter den Schaufensterscheiben ihrer Lieblingsgeschäfte schlafen, aus ihrem Kopf bekommen zu können. Wie dünn der zivilisatorische Lack ist, unter dem bei angeblich liberalen Menschen der Hass auf jede Infragestellung der Ordnung und polizeistaatliche Bestrafungsfantasien verborgen sind, erschreckt uns. Zu reden sein wird stattdessen über die maßlose Polizeigewalt dieser Tage, über die Legitimierung des Ausnahmezustands und darüber, wie wir hiergegen breite, solidarische Gegenwehr organisieren können.
Wir können nicht verstehen, wie in einem Land, wo 10 Jahre vergehen konnten, bis ein mordendes rechtes Terrornetzwerk überhaupt erkannt wurde und wo täglich Geflüchtete angegriffen werden, gerade einmal ein Tag vergehen muss, bis viele von linkem „Terror“ sprechen.

Wir sehen uns …
Für die Zukunft werden wir sorgfältig auswerten, welche Aktionsformen und politischen Strategien unter den Bedingungen einer polizeilichen Bürgerkriegsübung im urbanen Raum angemessen sind. Dazu und zu anderen angesprochenen grundsätzlicheren Fragen werden wir uns zu gegebener Zeit nach gründlicher Diskussion äußern.

Es bleibt der Rückblick auf eine ermutigende Gipfelwoche mit einer Vielfalt von Aktionen und Widerstandsformen, die zehntausende mobilisiert und ermutigt hat, von autonomer Szene bis zu den Gewerkschaften, die sich in der Ablehnung des G20, des Gipfeltreffens und seiner Effekte in Hamburg einig waren. Hamburg war die rebellische Stadt, die diesen Protest lebendig gemacht hat. Wir haben Mut und Vertrauen gefasst, in uns selbst und in die Bündnispartner_innen, die mit uns standen. Die Tage von Hamburg gingen tiefer als die Meinungsumfragen und medialen Stimmungshochs. Sie werden noch lebendig sein, wenn niemand mehr weiß, wer eigentlich Olaf Scholz war. Sie tragen uns in die Kämpfe, die noch vor uns liegen, bis endlich alles ganz anders wird.

_____________________________________________________

 

Die G20 Beschlüsse zu Afrika sind neo-kolonial und paternalistisch. Sie verschärfen eher die Probleme noch.

Von Robert Kappel, Helmut Reisen |

 

Die aufgewühlten Tage in Hamburg sind vorbei und es ist die Zeit zu fragen, was im Sieb bleibt. In den brisanten Diskussionen der G20 um eine geeinte Klimapolitik, einen Kompromiss in der Handelspolitik und verbesserte Maßnahmen im Kampf gegen den Terror verschwand schließlich die Agenda der G20 für einen Compact with Africa (CWA) fast vollständig. Bezeichnend für das selbst-referentielle System der G20 und deren Agenden, die sich eher um Finanzen und Handel als um die großen Herausforderungen des afrikanischen Kontinents drehen. Mal wieder eine weitgehend verpasste Chance, die so schnell nicht wieder kommen wird. Nicht zuletzt ist dies auf das vollkommen unempathische Verhalten der USA, der EU, Japans, Indiens und letztendlich auch Chinas zurückzuführen. So bleibt am Ende der Eindruck: Der Club der Reichen kümmert sich nur randständig um Unterentwicklung und Integration der afrikanischen Länder in die Weltwirtschaft.

 

Der CWA, der im Vorwege von den G20 Finanzministern abgestimmt und nach Fertigstellung auch mit einigen afrikanischen Ländern beraten wurde, fand die Zustimmung der G20. Der CWA verdient aber seinen Titel nicht wirklich. Er ist aus zwei Gründen kein Vertrag mit Afrika. Zunächst hat das einzige afrikanische G20-Mitgliedsland Südafrika die anderen afrikanischen Länder nicht vertreten, die Afrikanische Union war ein nur spät geladener Gast und an der Formulierung des CWA waren afrikanische Länder nicht beteiligt. Sie waren auf der Bühne als Statisten kaum erkennbar. Und dann: der CWA ist ein Dokument, das die Finanzierung von großen Infrastrukturprojekten mit Auslandsdirektinvestitionen verbindet, in dem die afrikanische Interessen nicht wirklich zum Ausdruck kommen.

 

Die Finanzminister der G20 dominierten. Sie fragen sich vor allem, wie sie das Kapital lockermachen können, das gebraucht wird, um Großprojekte zu finanzieren. Es geht um enorme Summen: Man schätzt, dass jährlich 100 Milliarden Dollar investiert werden müssten, und zwar zehn bis 15 Jahre lang, damit die Infrastruktur auf dem afrikanischen Kontinent ungefähr auf den Stand von Südostasien kommt. Nur um die wesentlichen Dinge auszubauen, also Elektrizität, Straßen, Wasserverbindungen, das urbane Transportsystem und den Transport auf dem Land, Häfen und Flughäfen.

 

Weil öffentliche Entwicklungszusammenarbeit das nicht stemmen kann, sucht man nun private Investoren, die ihr Geld langfristig anlegen möchten: Pensionsfonds zum Beispiel und Lebensversicherer. Diese aber werden nur in Afrika investieren, wenn sie eine bestimmte Rendite vergleichsweise sicher in Aussicht haben. In den armen Ländern können sie diese nicht erwarten, also müssen Subventionen und Absicherungen her. Die Dokumente des CWA zeigen, dass den Investoren eine Verzinsung von 4 bis 4,5 Prozent garantiert werden soll. In einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zum CWA vom Mai 2017 haben die Autoren die wesentlichen Bausteine analysiert und kritisiert. Das Ergebnis fällt nicht gerade positiv aus. Zwar ist das CWA Konzept durchaus konsistent, es argumentiert gradlinig, enthält einige wichtige Kernaussagen zur Effizienz, zu Management von Großprojekten und zu einer möglichen Verschuldung, aber letztendlich ist CWA überraschenderweise eine Neuauflage von Big Push (der „große Sprung“) – das heißt über Großinvestitionen in die Infrastruktur kann Afrika endlich den Aufstieg schaffen. Von diesem Sprung war schön öfter in Afrika die Rede. Und der CWA ist letztendlich eine Neufassung von Stabilisierungs- und Strukturanpassungsmaßnahmen. Die weitgehend belastenden Strukturanpassungsprogramme der 1990er Jahre lassen grüßen.

 

Der makroökonomische Rahmen ist vom neoliberalen Washington-Konsensus geprägt, den man bereits lange überwunden glaubte.

 

Im Mittelpunkt des CWA stehen eine Reihe von Finanzierungsinstrumenten, die privates Kapital hebeln oder zur Risikoabsicherung beitragen. Die Idee klingt gut, ist aber nicht neu. Und sie verharmlost die potenziellen Nebenwirkungen und Barrieren, die einer privaten Kofinanzierung gerade dort entgegenstehen, wo in Zukunft die Armut bleibt und der größte Migrationsdruck zu befürchten ist: in Afrikas Sahelzone und in den armen und Krisen- und Konfliktländern.

 

Die Blaupause für den Compact kam vom Währungsfonds, der Weltbank und der Afrikanischen Entwicklungsbank. Das Bundesfinanzministerium hat sein ganzes Gewicht, auch das des Ministers, hinter diese Blaupause geworfen. Da erstaunt es nicht, dass der Compact unter ideologischer Schlagseite leidet:

 

Der makroökonomische Rahmen ist vom neoliberalen Washington-Konsensus geprägt, den man bereits lange überwunden glaubte: Fiskaldisziplin, Kapitalverkehrsöffnung, Privatisierung und Deregulierung. Da ist kein Platz für differenzierte Empfehlungen, welche die spezifischen Besonderheiten Afrikas berücksichtigen. Ob Schwellenland oder konfliktgeprägtes Armutshaus, Rohstoffausfuhr-  oder  Einfuhrland; Küsten- oder Binnenstaat; West- oder Ostafrika; überschuldet oder nicht: Es werden keine Unterschiede gemacht.

 

Der CWA ist geprägt vom angelsächsischen Finanzmodell, dessen Achse Anleihen und Aktien sind. Im Gegensatz dazu finanzierten Ostasien und Kontinentaleuropa ihr erfolgreiches Entwicklungsmodell durch zurückbehaltene Unternehmensgewinne, durch Unternehmenskredite der Geschäftsbanken und für öffentliche Investitionen verwandte Steuern und Zwangsabgaben. Davon keine Spur im Compact.

 

Die Entwicklungsrolle des öffentlichen Sektors wird weitgehend ignoriert; das Heil soll von den privaten Financiers kommen. Die Bedeutung nationaler Entwicklungsbanken für den Mittelstand, staatlicher Pensionskassen und ruraler Kreditgenossenschaften zur Bekämpfung ländlicher Armut finden keine Erwähnung.

 

Das Ganze nur ist ein Stück(werk). Eine Art Schrotflinten-Ansatz. Man pumpt Geld rein, fordert Managementreformen ein und dann soll ein sich selbst entwickelnder Prozess in Gang kommen.

 

Ignoriert werden im CWA auch die Verbindungen zwischen der Entwicklung der Infrastruktur und der Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft. Hier mangelt es einem ausgearbeiteten Konzept für die industrielle Entwicklung, für die Modernisierung der Landwirtschaft und der dafür erforderlichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Es mangelt vor allem an einer Kenntnis der unterschiedlichen Entwicklungen nach Mittel- und Niedrigeinkommensländern, die von sehr unterschiedlichen Ausgangslagen der Klein- und Mittelbetriebe aus agieren müssen. Und noch etwas wird ignoriert: welche Dynamik kann Industrieentwicklung in urbanen Zentren nehmen und wie können die Verbindungen zum agrarischen Sektor organisiert werden? Das Ganze nur ist ein Stück(werk). Eine Art Schrotflinten-Ansatz. Man pumpt Geld rein, fordert Managementreformen ein und dann soll der Aufschwung durch die Infrastrukturinvestitionen wie ein sich selbst entwickelnder Prozess in Gang kommen. Welch‘ eine Illusion.

 

Ausgeklammert werden in dem CWA auch die Fragen von Standards (Arbeitsnormen, beschäftigungswirksame Investitionen, Umwelt) und die Rolle der Ausbildung, um Wirtschaftsdynamiken hervorzurufen. Gerade hier hätte die deutsche Seite eine Menge einzubringen, seien es die EZ-Organisationen und das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, das besonders viel Wert auf berufliche Bildung legt.

 

So diktierten die G20-Finanzminister die Agenda und die Bundesregierung vergab sich die Chance, die Erfahrungen der afrikanischen Länder, ihre Strategiepapiere, ihre Expertise und ihre wirtschaftspolitischen Konzepte mit in den Diskurs einzubringen. Und eine zweite Chance wurde vertan. Deutschland hätte auf dem Gipfel ein neues Kooperationsmodell mit Afrika vorstellen und aktiv dafür werben können. Das wäre durchaus leicht und von afrikanischen Staaten wünschbar gewesen. Viele afrikanische Regierungen waren in den letzten Monaten in Berlin, haben mit verschiedenen Ministerien, mit der Zivilgesellschaft, Forschungseinrichtungen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden und den Parteien im Bundestag beraten, wie ein neues Modell der Zusammenarbeit geschmiedet werden kann. Zahlreiche auf einzelne Themen zugeschnittene Foren haben Vorschläge unterbreitet. Und die verschiedenen deutschen Ministerien legten ebenfalls – leider nicht gut koordinierte – Pläne vor. Dazu gehören beispielsweise der Marshallplan mit Afrika des Bundesministeriums für Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ), auch ein Dokument, das nicht mit den afrikanischen Regierungen beraten wurde. Dennoch hätte dieser Plan eine Rolle auf dem Treffen der führenden Wirtschaftsnationen spielen können, denn er enthält zahlreiche gut durchdachte konzeptionelle Überlegungen zur Armutsbekämpfung. Auch die Überlegungen von  „Pro!Afrika“ des Bundeswirtschaftsministeriums, und schließlich noch im Juni 2017 „Wirtschaftliche Entwicklung Afrikas – Herausforderungen und Optionen“ der Bundesregierung hätten in den Verhandlungsprozess eingebracht werden können. Es gab auch genügend Vorlauf, um gemeinsam mit den afrikanischen Institutionen neue Ansätze zur Industrieentwicklung oder zur Finanzierung von Investitionen zu präsentieren. Armuts- und Klimakatastrophen hätten thematisiert und berücksichtigt werden müssen, um einer nachhaltigen und inklusiven Entwicklung in Afrika neuen Schub zu geben und damit zwischen G20 und Afrika eine Periode der post-kolonialen Kooperation in Gang zu setzen. Leider blockierten die G20 diese Öffnung und deutsche Ideen, die näher an den Problemen des afrikanischen Kontinents dran waren, kamen nicht zur Geltung. Natürlich will niemand, dass die Welt am deutschen Wesen genese, aber sich den Diktaten der Finanzminister, des IWF und der Weltbank zu unterwerfen, ist kein Ausdruck von Souveränität sondern eher von Hasenfüßigkeit.

 

Man überlasse nie den Finanzministern die Konzeption für Fragen, von denen sie in der Regel nicht viel verstehen.

 

So steht das CWA Abschlussdokument losgelöst von den brennenden Problemen Afrikas, es enthält keine Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut, der hohen Arbeitslosigkeit, der Klimakatastrophe in weiten Teilen Afrikas und der Entwicklung. Den CWA durchwehen die alten „große Sprung“-Konzepte und Finanzierungsfragen. Ein Plan für die Finanzierer und Investoren der G20 aber kein Plan für die Bewältigung der größten Probleme Afrikas. Im Gegenteil, durch den CWA werden möglicherweise zwei Effekte auftreten: die Nichtberücksichtigung der armen Länder und die weitere Marginalisierung des ländlichen und armen Afrikas. Keine guten Aussichten und ganz im Gegensatz zur Haltung der Bundesregierung. So hat die G20 einen Plan verabschiedet, der den verschiedenen Entwicklungen in Afrika nicht Rechnung trägt, die armen Länder eher noch weiter abkoppelt und aufgrund ihrer Konzeption nicht in der Lage ist, Afrikas Entwicklung zu unterstützen. Die G20 Chefs blieben, was die Kooperation mit Afrika betrifft, erstaunlich beratungsresistent und einem veralteten Modell der Steuerung der Prozesse in Afrika verhaftet, neo-kolonial und paternalistisch. Das ist eher problemverschärfend als -lösend. Dass die afrikanischen Länder dies Modell nicht länger mitmachen werden – wen wundert es.

 

So gilt es jetzt in Deutschland die Wunden zu lecken und einen Neuanfang zu wagen. Die nächste Chance bietet sich im Herbst, wenn es um die Verhandlungen zur Neuauflage des Cotonou-Abkommens geht. Hoffentlich nicht paternalistisch und mit der Schrotflinte in der Hand. Und hoffentlich pro-aktiv mit überzeugenden Ideen, wie die komplexen Handelsfragen gelöst werden können. Konsequenz: man überlasse nie den Finanzministern die Konzeption für Fragen, von denen sie in der Regel nicht viel verstehen: Entwicklung, Armutsbekämpfung, Industrialisierung, Agrarmodernisierung und Beschäftigung.

_____________________________________________________________________________

 

 

Dankenswerter Weise hat attac einen Schnellkurs in Form einer PowerPoint-Vorlage für Informationsveranstaltungen zu grundlegenden Fakten zu den G20 vorgelegt:

http://www.attac.de/fileadmin/user_upload/Kampagnen/g20-2017/Texte/Attac_G20.pdf

.... lohnt sich ...