Tomasz Konicz
Klimakiller Kapital. Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört
Mandelbaum kritik & utopie, Wien/Berlin 2020
376 Seiten, 20,00 Euro   -  ISBN: 978385476-692-6

Die zentrale Aussage des Buches von Tomasz Konicz ist schnell zusammengefasst: Wenn der
Kapitalismus nicht bald überwunden wird, werden Klimawandel und Umweltzerstörung Formen
und Geschwindigkeiten annehmen, die die Erde zu einem für Menschen nur noch sehr bedingt
lebbaren Ort machen. Die Dringlichkeit, mit der das vorgetragen wird, steht manchem in keiner
weise nach, was aus radikalen Teilen der Degroissancebewegung und mit ihr verbundenen
Wissenschaftler*innen zu hören ist. Auch aus der marxistischen Linken kommen gelegentlich
ähnliche Töne.
Dennoch lässt Konicz keinen Zweifel aufkommen, dass dies nicht seine Ansätze sind. Schon in der
Einleitung erklärt er seine Intention, „dem ökologisch motivierten Verzichtsdenken wie auch dem
simplen Klassenkampfparadigma entgegenzuwirken“; es solle vielmehr „nachgewiesen werden,
dass beide Ansätze nicht weit genug gehen, da sie in den kapitalistischen Denkformen verfangen
bleiben: Verzicht, da Bedürfnisbefriedigung in Warenform gedacht wird; Klassenkampf, da der
Fetischismus und die Formen subjektloser Herrschaft ausgeblendet werden“ (S.17). Dabei wird der
Klassenkampf nicht abgelehnt, sondern er wird verstanden als eine auf Umverteilung des
kapitalistisch produzierten Reichtums gerichtete Praxis. Eine solche kann sehr wohl nützlich sein,
wird aber nicht zum Sturz des ökonomischen Systems führen, auf dem sie beruht: „Dem
Klassenkampf … wohnt keine objektive transformatorische Potenz inne.“ (S. 54)

Wer das Buch mit Gewinn lesen will, sollte also vom „Marxismus als hippes identitäres
Modeutensil oder anachronistische orthodoxe Ideologie“ (S. 25) Abschied genommen haben und
eine gewissen Kenntnis der wertkritischen Analyse mitbringen. Konicz bezieht sich dabei stark auf
Robert Kurz und man kann sich fragen, ob (sehr seltene) Seitenhiebe auf andere wertkritische
Verständnisse erforderlich waren. Der Kapitalismus wird in dieser Tradition als Herrschaftssystem
ohne herrschendes Subjekt verstanden, das in selbsttätiger Bewegung immer mehr Wert anhäufen
muss. Das gelingt nur, indem er Lohnarbeit verwertet, die er aber gleichzeitig im Prozess der
Produktivitätssteigerung in zunehmendem Maße durch „tote Arbeit“, Maschinen, ersetzt.
„Die Instabilität, die Krisenanfälligkeit, aber auch die zerstörerische Dynamik des kapitalistischen
Systems resultiert aus der marktvermittelten Tendenz des Kapitals, den Einsatz von Lohnarbeit im
Produktionsprozess zu minimieren. Dieser 'prozessierende Widerspruch', bei dem das Kapital
konkurrenzvermittelt seine 'Entsubstantialisierung' betreibt, ist nur in einer Expansionsbewegung,
bei der Erschließung neuer Märkte, Wachstumsfelder und insbesondere Industriesektoren
aufrechtzuerhalten. Das Kapital muss expandieren – oder es zerbricht an sich selbst.“ (S.32) Auch
„die Lohnabhängigen“ können sich dem nicht entziehen, weil sie „ja tatsächlich ihre soziale
Existenz nur dadurch aufrecht erhalten (können), indem sie Lohnarbeit leisten – und dies bedeutet
gesamtwirtschaftlich nichts anders, als den objektiv gegebenen Wachstumszwang des Kapitals
subjektiv zu exekutieren“ (S. 62). Und damit ist dies „die Wahl, die der Spätkapitalismus den
Lohnabhängigen lässt … : Arbeitslosigkeit und Verelendung jetzt oder Klimakollaps später“ (S. 84).
Es liegt auf der Hand, dass aus dieser Analyse keine euphorische Einschätzung von Plänen zum
ökologischen Umbau entstehen kann. „Grüner“ Kapitalismus oder „Green New Deal“ sind letztlich
Versuche, die materielle Basis eines reformierten Kapitalismus neu zu festigen. Dafür müssten diese
Sektoren aber bei wachsender Produktion und Produktivität zunehmend Lohnarbeit ausbeuten, was
sie nicht tun. Insbesondere die „Energiewende“ wäre „technisch längst machbar, aber die
kapitalistischen Produktionsverhältnisse behindern die volle Entfaltung der ökologischen
Produktivkräfte“ (S. 96).

In den folgenden beiden Kapiteln („Kampf um das Klima“ und „Kapitalistische Selbstzerstörung“)
geht es nicht mehr so stark um die Darlegung der grundsätzlichen Kritik als um die Betrachtung
konkreter Elemente der materiellen Basis des Ganzen. Das ist stimmig und die angesprochen
Beispiele sind erhellend. Allerdings beruht der Text zu großen Teilen auf älteren Arbeiten des
Autors, was sich manchmal als irritierend erweist. Auch im ersten Teil gab es Redundanzen, die
aber insbesondere für Leser*innen ohne engen Bezug zur Wertkritik vielleicht sogar hilfreich
waren. Jetzt werden sie manchmal störend. Besonders der Blick nach Lateinamerika erscheint durch
manchen älteren Bezugstext auch arg aus der Zeit gefallen. Die (nicht nur) in diesen Kapiteln
immer wieder angesprochene Theoretisierung eines kapitalistischen „Todestriebs“, oft in enger
Verbindung mit „Faschisierung“ formuliert, ist nicht ganz unumstritten, ohne dass das erwähnt
würde. Was allerdings durch Konicz' Art der Darstellung sehr gut deutlich wird, ist eine Folge, die
sich für immer mehr Menschen ergibt: Eine immer größere Zahl wird ökonomisch überflüssig. Sie
werden nicht nur für die Verwertung des Kapitals nicht gebraucht, sondern finden auch keine
ausreichenden Sektoren für Subsistenzproduktion mehr. Und deshalb sollen sie verschwinden,
zumindest unsichtbar werden; Fluchtbewegungen (gut herausgearbeitet vom Autor), Banden-,
Drogen- und andere Formen organisierter Kriminalität (nicht direkt erwähnt) und ganz allgemein
ihre Vernutzung im „Weltordnungskrieg“ (unter Verweis auf Robert Kurz' entsprechendes Werk)
sollen gleichzeitig „auch die Krise des Kapitals … 'ausschließen'“ (S. 269).

Wer nun erwarten würde, dass die radikale Kritik, der Konicz das gesamt System unterzieht, dazu
führte, dass er in Zynismus versinkt oder besonders (verbal-)radikale Auswege propagiert, würde
enttäuscht. Wer allerdings seine Arbeiten für Telepolis, Neues Deutschland oder Konkret kennt,
weiß, dass es ihm um wirkliche Veränderungen geht. Sein Kapitel über „Wege in den
Postkapitalismus“ ist sehr reflektiert und macht eine ganze Reihe von Vorschlägen, was an einer
lebensfähigen Zukunft Interessierte heute tun können. Die muss man nicht alle gut finden, tue ich
auch nicht, aber sie sind alle so gewählt, dass sie Zeit gewinnen würden, indem sie die
Destruktivtendenzen zurückdrängten, ohne sie allerdings auszusetzen. Schon die taktische
Unterstützung eines, im Kapitalismus eigentlich nicht machbaren, ökologischen Umbaus hatte er
empfohlen, aber auch „die zuerst rein reformistische – Einführung eines bedingungslosen
Grundeinkommens“ scheint ihm „– aller binnenkapitalistischen Widersprüchlichkeit einer solchen
Maßnahme zum Trotz –“ ein Schritt, der „der Neuen Rechten ein wichtiges soziales
Massenreservoir nähme“ (S. 341).

Eines allerdings, darauf besteht Konicz, darf man nie tun: Man darf nie Illusionen darüber bestehen
lassen, dass man aus der Klima- und Ökokrise rauskäme, wenn der Kapitalismus bestehen bleibt.
Man muss „sagen, was Sache ist“ (S. 343), und das ist, dass „das Kapitalverhältnis“ ganz
grundsätzlich überwunden werden muss, und das geht „nur als globale Totalität“. Deshalb kann
auch „die Nation … nicht mehr als positiver Bezugspunkt antikapitalistischer Praxis dienen“. Neue
Anläufe müssen vielmehr mindestens „wirtschaftliche Großräume“ in den Blick nehmen und wären
auf „Schützenhilfe … vonseiten einer globalen antikapitalistischen Bewegung“ angewiesen (S.
354f).

Das Buch kann zur Entstehung einer solchen durchaus beitragen, macht es doch klar, dass da kein
von alleine irgendwann auftretendes „revolutionäre Subjekt“ existiert, sondern dass die Verbindung
der konkreten Kämpfe und ihre Zusammenfassung als antikapitalistische Transformationsbewegung
eine Aufgabe der Kämpfe selber ist.

 

Wie sollten wir mit diesem Text (und zukünftigen Texten) arbeiten? Vorschläge zur Methodik - vielleicht in Form von Rollenspielen vor- und aufbereiten...

 

A. Pro Kapitel (Fragen)

 

(hier: Argumentationslinie der Wachstumskritik, 2 - 4 Thesen als Ausgangspunkt unserer Arbeit)

 

- Welches sind die vorherrschenden (aus unserer Sicht:) falschen Überzeugungen der Menschen, an die wir anknüpfen sollten? („Wo müssen wir die Menschen abholen?“).

 

- Von welchen vom Grundwiderspruch (von Kapital und Arbeit) abgeleiteten Widersprüchen müssen wir ausgehen?

 

B. Pro Kapitel (Fragen)

 

- Welche Probleme bringt das ungezügelte Wirtschaftswachstum mit sich?

 

- Welches sind die Merkmale einer Postwachstumsgesellschaft?

 

- Wie können wir die Menschen von der Notwendigkeit und den Vorteilen einer anderen, postkapitalistischen Lebens- und Wirtschaftsweise überzeugen?

 

- Wie kann ein solches Modell (ohne die regulierende Kraft des Marktes) funktionieren?

 

("Post-Corona" ist DER argumentative Ansatz für ein Post-Wachstum!!)

 

- Welche Lehren, Erkenntnisse, Erfahrungen ziehen wir aus der Corona - Krise?

 

(Auf jeden Fall werden die für die Lebensqualität zentralen Faktoren wie gesunde Lebensbedingungen an Bedeutung gewinnen.)

 

Unsere sozial-ökologische (ökonomische) Wachstumskritik:

 

ad A - die Ausgangsthesen:

 

1. Für die meisten Menschen ist Wirtschaftswachstum ein Synonym für Fortschritt, weil ein steigendes BIP mit der Hoffnung auf ein besseres Leben verknüpft wird.

 

2. Wachstum wird als vorrangiges Ziel allgemein akzeptiert, weil es zur Verwertungslogik der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft keine Alternative zu geben scheint. Danach können nur Wettbewerb und Markt die Versorgung und Produktion regeln.

 

3. Ohne Marktwirtschaft drohen uns Verzicht und Verbote.

 

ad B - unsere Antworten:

 

1. Im Postwachstum verzichten wir auf Wachstum, weil es die Ursache vielfältiger Probleme darstellt:

 

Ausbeutung von Mensch und Natur, Kapitalakkumulation (Machtzusammenballung und Marktbeherrschung), Abbau demokratischer Strukturen, Verlust von Lebensqualität, Überfluss, Überproduktionskrisen …

 

Weiteres Wachstum im globalen Norden steigert nicht mehr die Lebensqualität, denn die hängt von anderen Faktoren ab: Zeitwohlstand, Zugewinn an Gleichheit, soziale Absicherung, demokratische Strukturen und polit. Teilhabe, Aufwertung der Sorgearbeit, Überwindung steigerungsorientierter Konsumlogiken, gesunden Lebensbedingungen. Auch wenn die Wirtschaft wächst und das BIP steigt, stagniert der allgemeine Wohlstand oder geht wie das Wohlergehen sogar zurück.

 

2. Längerfristig scheint Wachstum in den frühindustrialisierten Ländern ans Ende zu kommen:

 

Davon zeugen mannigfaltige Krisen. Frühzeitige Warnungen: “Grenzen des Wachstums“, Green New Deal. Widerstandspotential und konkrete Politikvorschläge für radikale Reformen wie beispielsweise  radikale Erwerbsarbeitsverkürzung, Grund- oder Maximaleinkommen oder Obergrenzen  für Ressourcenverbrauch.

 

 Der Markt wird seiner Aufgabe nicht mehr gerecht: Überproduktionskrisen und Armut, Plünderung des Planeten, Klimawandel, Arbeitslosigkeit, Spaltung der Gesellschaft.

 

 Das neoliberale Weltmarktprojekt ist gescheitert (attac Rundbrief 02/20)

 

3. Wir verzichten im Status quo jetzt schon in großem Stil - z. B. auf gute Luft, Platz, gesunde Lebens- und Umweltbedingungen, Sicherheit, Mobilität und nehmen verstopfte Straßen und Urlaubsorte in Kauf.

 

Kapitalistische Selbstzerstörung (Tomasz Konicz: Klimakiller Kapital).

 

Neues Paradigma: effiziente Bedürfnisbefriedigung statt Kapitalverwertung (S.313)

GG, 04.08.20 (überarbeitete Version)

 

Es reist sich besser mit leichtem Gepäck (Silbermond) „

Ich möchte einige Gedanken, Anmerkungen zur Degrowth und einer Postwachstumsgesellschaft darlegen. Das geht für mich nur, wenn man es auch mit seiner eigenen Person verknüpft.

Deshalb etwas Biografisches vorweg:

Als Jugendlicher erfolgte meine „politische Grundsozialisation“ in der Gewerkschaftsjugend .Schon damals haben wir in der Bildungsarbeit nicht nur den Gegensatz von Kapital und Arbeit analysiert, sondern auch schon konkrete Modelle einer anderen Produktion entwickelt: Mit mehr Mitbestimmung der „Arbeitnehmer“ , einer Reduzierung der Produktpalette und einem effektiven Einsatz von Energie.

Ende der 70er Jahre im Protest gegen die Atomkraft habe ich viele Wachstumskritiker wie

Schumacher und Illich gelesen und in der Erwachsenenbildung Ideen und Modelle einer „Alltagsökologie“ mit entwickelt. Dann Selbstversorgung und Gründung eines Naturkostladens.

So war ich 20 Jahre Herausgeber eines“ Kalender für den BioGarten“ (PalaVerlag) , habe mich um Direktvermarkung und ökologischen Landbau gekümmert. Und Menschen ermutigt, ein eigenständiges und „ökologisches Leben“ zu führen, Rücksicht zu nehmen auf die Natur und mit ihnen an ihren /meinen Lebensentwürfen gearbeitet . Also ein echter Degrowther, wie ihn Niko Paech auf den letzten Seiten in seinem Buch beschreibt.

Allerdings habe ich schnell die Grenzen erkannt und das der Kapitalismus neue Bedürfnisse schnell stillen kann und Ideen und Personen /Aktivisten schnell integrieren kann. Meiner gewerkschaftlichen Herkunft bedingt habe ich dieses Tun und die Alternativbewegung nicht zu einer Theorie stilisiert und damit akademische oder berufliche Lorbeeren gewonnen.

Nun zurück zum Thema : Kann eine Postwachstumsgesellschaft alle Probleme wie Ressourcenverbrauch , Ende des Klimawandels , Erhalt der Natur lösen und alle Menschen auf der Erde satt machen ?

Wenn die Produktion, die Summe an Waren und Dienstleistungen zurück geht , was bedeutet das ? Unter Corona ist dies konkret zu betrachten . Prognose ist 10 % Rückgang BIP.

Zunächst werden Arbeiter freigesetzt . z.Zt. sind 6 Mill in Kurzarbeit mit weniger Lohn , Beschäftigte im Niedriglohnsektor wie Leiharbeiter , Arbeitsmigranten, Mnijobber und Scheinselbstständige können gleich zu Hause bleibe. Corona ist ein schlimmes Beispiel , was beim Rückgang von Produktion, Arbeit und Konsum geschieht. Es ist schon zynisch , nicht human, wenn jetzt darüber beraten wird , das Kurzarbeitergeld zu streichen und somit eine riesige Reservearmee zu schaffen.

Noch ein paar einfache Wahrheiten: Wenn Wachstum reduziert wird , sinkt das Steueraufkommen. Aus den Steuern wird über die Haushalte der Länder und des Bundes die weitgehend kostenlose Bildung finanziert , werden soziale Leistungen generiert , Infrastrukturmaßnahmen wie Bahn und Straße oder auch Maßnahmen gegen den Klimawandel. Steuern können nur erhoben werden wenn gewirtschaftet wird und Konsum und Dienstleistungen stattfindet (Mehrwertsteuer). Klar- die Steuer wird ungerecht erhoben- deshalb das zähe Ziehen um eine Steuerreform, die Vermögen und Betuchte stärker belastet.

Und wenn Wachstum reduziert werden soll, wer bestimmt, wie viel und benennt die Instrumente ? Das kann nur der Staat sein. Aber ist der bürgerliche Staat neutral oder ist “er ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der Bourgeosie verwaltet" (Marx) . ??

Dann : Gute Lohnabschlüsse und damit Wohlstand für viele lassen sich in Tarifverhandlungen nur durchsetzen , wenn es diesem Wirtschaftszweig „gut geht“ –also Umsatz und Profit gemacht werden.

Ein gutes Leben für alle ist nur möglich , wenn Einfluss auf die Steuer und Haushalte genommen wird, wenn gesicherte Arbeitsverhältnisse bestehen und ein Lohn oder auch Rente gezahlt wird, mit dem man und frau leben können. Beispiele wie Griechenland oder auch jetzt Corona (im Ansatz) weisen in den Weg in eine starke soziale Spaltung und eine Verelendung.

Eine demokratische Teilhabe, sich kommunal, politisch , in der Umweltbewegung , in seinem Wohnquartier einzubringen, geht nur, wenn Miete, Essen, Kleidung , Auto oder Fahrrad bezahlt werden können und nicht immer die Hast ums Überleben besteht.

An diesen Zusammenhängen setzt linke und gewerkschaftliche Reformpolitik an. Eine langwierige und zähe Sache .

Wachstum bedeutet nicht , das keine Kriterien und Forderungen gestellt werden. An einer Einhegung und Begrenzung gearbeitet werden muss. Ein qualitatives Wachstums ist notwendig . Produktion und Dienstleistungen müssen sich ändern und der vagabundiere Finanzmarkt muss eingefangen werden.

Das geht mit vielen W-Fragen .

Was wird produziert ? Ist es systemrelevant, hat es einen Gebrauchswert, ist es langlebig

Wie wird produziert? Welche Energie, wie eintönig , welcher Arbeitsschutz , wieviel Dreck und Staub

Wer produziert ? Entscheidet der Unternehmer oder die Arbeiter ? Da beginnt die Diskussion um Mitbestimmung bis zur Arbeiterkontrolle der Produktion . Hier sind am schnellsten die Grenzen im Kapitalismus erreicht.

Wo gehen die Gewinne hin ? Werden sie neuinvestiert, wandern sie in die Taschen von Stiftungen und Fonds- oder werden sie an die Belegschaft ausgeschüttet ?

Wo wird produziert? Für den Weltmarkt oder werden regionale Kreisläufe in Gang gesetzt ?

Versucht man sie beantworten, sieht man die Grenzen : Das Kapital hat die Logik , Arbeit, Produkte auch Politik um das Streben nach Profit zu gruppieren. Nach dem einfachen Gesetz Geld-Ware –mehr Geld als vorher (G-W-G`)

Genau diese Logik und diese Machtverhältnisse negiert eine grüne Wachstumspolitik – aber die Kritik daran ist noch mal ein anderes Thema .

Zum Schluss: Ist die Postwachstumsökonomie mit Konsumverzicht und Runterfahren der Wirtschaft ein Weg für die Gesellschaft insgesamt- oder ist es eine Kulturkritik an unserer Lebensweise? Ist Degrowth moralisch und subjektiv ?

Zentrale Begriffe wie „aufgeklärtes Glück" deuten auf einen eher individuellen Weg hin:- weniger Sachen , weniger Geld ausgeben, bewusste sorgsame Mobilität , Selbermachen, keine Flugreise , Minimalismus .

Es reist sich besser mit leichtem Gepäck" - Song von Silbermond

Ausackerholz, den 26.8. 2020

 

Vorbemerkung: Wohl kaum eine Wirtschaftsjournalistin oder ein Wirtschaftsjournalist neben Ulrike Herrmann schafft es mit soviel Weitblick, auch für Laien verständlicher Schreibe und mit so präziser Argumentation wie Stefan Kaufmann die finanz-und wirtschaftspolitische Entwicklung unserer Zeit zu analysieren. Er schreibt regelmässig  für die FR und das nd. (hn)

 

Stefan Kaufmann: erstellt am 23.01.2020

 

Im globalen Geschäft sind die Zeiten rauer geworden. Das wird sichtbar schon daran, dass sich Analysen der internationalen Wirtschaft zunehmend des Vokabulars der Kriegsberichterstatter bedienen. Die Zeit sieht Deutschlands Industrie im „Duell mit China". Mit der Annahme chinesischer Investitionen werde Italien zum „Brückenkopf" Pekings in Europa, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Und die FAZ warnt davor, dass Tschechien zu „Chinas Flugzeugträger" in Europa werde.

 

Es droht - oder herrscht - Wirtschaftskrieg zwischen den großen Mächten. Die meisten liberalen Ökonomen reagieren darauf mit Unverständnis. Wenn Asien wachse, gebe es neue Möglichkeiten der Kooperation zum gegenseitigen Vorteil, argumentiert Jan Schnellenbach und fügt an: „Versteht doch mal, dass Marktwirtschaft kein Krieg ist!" Das stimmt. Aber mit Marktwirtschaft lässt sich Krieg führen.

 

Denn die neoliberale Idee des freien Spiels der Marktkräfte ist zurückgetreten. An ihre Stelle rückt eine Politik, in der die Sphären der Wirtschaft, der Finanzen, des Militärs und der Außenpolitik miteinander verschmelzen: Zur Geopolitik kommt die Geoökonomie. Europa, China und die USA schützen ihre Unternehmen vor Übernahmen durch das Ausland. Regierungen untersagen Geschäfte mit chinesischen Zulieferern wie Huawei, russischen Rohstofflieferanten wie Gazprom oder ganzen Staaten wie Iran. Sie rüsten ökonomisch auf, schaffen oder stützen nationale „Champions" und verlagern globale Wertschöpfungsketten in ihren Machtbereich. Sie finanzieren technologische Innovationen und bauen lokale Industriezweige - zum Beispiel für Batterien - auf, um vom Ausland nicht abhängig zu sein beziehungsweise um das Ausland von sich abhängig zu machen. Dies alles mit dem Argument, die nationale Souveränität zu erhalten.

 

Nun ist Gegnerschaft nichts Neues. Wirtschaft findet im Kapitalismus als Wettbewerb statt. Da das Miteinander als Gegeneinander organisiert ist, sind die Übergänge zwischen normaler Konkurrenz und „Wirtschaftskrieg" fließend. Im Geschäftsverkehr der Weltmächte sind jedoch neue Umgangsformen zu beobachten. Der eigene Misserfolg wird nicht länger als Ergebnis des Marktes wahrgenommen, sondern als Ausfluss eines bösen Willens der Konkurrenten. Die Gegenseite, so die Beschwerde, verhalte sich unfair, regelwidrig. Kooperation wird zur „Abhängigkeit", das Ausland von der Chance zur Gefahrenquelle.

 

Ziel ist, den Willen der Gegenseite zu brechen. Um dies zu erreichen, werden Maßnahmen getroffen oder angedroht, die die Kooperationspartner explizit schädigen oder schwächen sollen. Eventuelle eigene Verluste sind dabei eingeplant und akzeptiert. So hat Donald Trumps Handelspolitik die USA vergangenes Jahr per Saldo 1,4 Milliarden Dollar pro Monat gekostet, errechnen Ökonomen der Universitäten Princeton und Columbia. Doch das zählt für Trump nicht. „Spielt die EU nicht mit, werden wir sie zur Hölle besteuern", droht er. Die Gegenseite zu schädigen und selbst Schäden hinzunehmen erfolgt ohne unmittelbaren eigenen geldwerten Vorteil, sondern ist Mittel zum Zweck, den Partner zu kontrollieren. Man geht in den Konflikt. Auch wenn das oft anders beschrieben wird: Dieser Konflikt ist das Gegenteil von Abschottung.

„Wir sind nicht naiv"

Es sind neue Zeiten. Regierungen nutzen nicht mehr nur ihre Möglichkeiten, um heimischen Unternehmen per Liberalisierung den Weg freizuräumen. Vielmehr schränken sie vielfach den freien Markt ein, lassen seine Ergebnisse nicht mehr gelten und stellen sie unter politischen Vorbehalt. Der Wille ihrer Wirtschaft ist der Politik nicht mehr Befehl. Umgekehrt nutzt die Politik die heimischen Konzerne als Ressource, um ihre Nation im globalen Streben nach Dominanz zu stärken und die anderen zu schwächen. „Die Grenzlinien zwischen Kriegs- und Friedenszuständen werden immer undeutlicher", schreiben Nils Ole Oermann und Hans-Jürgen Wolff in ihrem neuen Buch Wirtschaftskriege.

 

Ökonomen müssen deshalb umdenken. Die liberale Fraktion hielt den globalen Handel stets für einen Verhinderer von Krieg. Denn wer miteinander Geschäfte mache und kooperiere, der sei vom Wohlergehen und Wohlwollen des Kontrahenten abhängig. Aber so einfach ist die Sache nicht. Das zeigt schon das Wort „Kontrahent", das den Vertragspartner wie auch den Gegner bezeichnet. In Frage gestellt wird aber auch die alte „linke" Annahme, Krieg werde nur für den Profit geführt - eine Annahme, die sich in Parolen wie „Kein Blut für Öl!" ausdrückte oder in Berechnungen, wie die Rüstungsindustrie von Kriegen profitiert. Was sich weltpolitisch derzeit abspielt - Brexit, Handelskrieg, Europas Kritik an chinesischen Investitionen -, das haben sich die Konzerne nicht bestellt, im Gegenteil: Es schadet ihnen zunächst.

 

Deutlich wird dies am Fall Huawei. Der chinesische Netzwerkausrüster verfügt über billige, gute Technologie, an welcher westliche Telekomkonzerne und Standorte Interesse haben. Dennoch sperrt Washington Huawei aus dem US-Markt aus und drängt die europäischen und asiatischen Staaten dazu, mitzutun. Damit wollen die USA Chinas Aufstieg zur Hightech-Macht unterbinden. Vizepräsident Mike Pence nannte die „technologische Vorherrschaft" der USA eine Bedingung für deren „nationale Sicherheit". Washington will verhindern, dass der chinesische Staat über Huawei Zugriff auf sensible Daten der USA oder anderer Staaten erhält. Die Möglichkeit, heimische Hightech-Firmen als Quelle für ausländische Daten zu benutzen, behält Washington sich selbst vor. Dass Peking mit Huawei das Gleiche versuchen könnte, begreift die US-Regierung als Angriff auf ihre digitale Einflusssphäre weltweit.

 

Schließlich will sie verhindern, dass Peking über die Ausrüstung ausländischer Netze ein politisches Machtmittel in die Hand bekommt, mit dem Huawei auf Anweisung der Regierung ausländische Netze gezielt stören könnte. Washington kalkuliert hier offensichtlich mit einer Eskalation. Denn „umfassende Störungen" von Netzen durch den Ausrüster sind laut der Stiftung SWP in Berlin „allenfalls im Falle massiver zwischenstaatlicher Auseinandersetzungen denkbar". Dann aber schon.

 

Die EU-Staaten wehren sich noch gegen Amerikas Huawei-Verbot, teilen aber die Bedenken gegen China. „Wir sind nicht naiv", sagt Thomas Gassilloud vom französischen Verteidigungsausschuss. Bei ihrer Entscheidung zu Huawei berücksichtige die Pariser Regierung „sowohl die Sicherheit der Netze wie auch unseren Platz im internationalen Wettbewerb". Sprich: Wettbewerbsfähigkeit allein zählt nicht mehr.

Altmaiers Nationalismus

In Deutschland klingt aus der „Nationalen Industriestrategie 2030" des deutschen Wirtschaftsministeriums ein „unverhohlen nationalistischer Ton", konstatiert der Ökonom Jeromin Zettelmeyer. Ziel der von Peter Altmaier als Wirtschaftsminister vorgelegten Strategie ist zum einen, den Anteil der Industrie in Deutschland zu erhöhen. Das ist eine Kampfansage. Denn dieses Ziel wäre nur zu erreichen, indem Deutschland den anderen Staaten Marktanteile abnimmt. Zudem sollen Wertschöpfungsketten der Unternehmen zunehmend nach Europa verlagert werden, „vermutlich weil sie dann widerstandsfähiger gegen geopolitische Störungen sind", so Zettelmeyer. Die Stärkung der Industrie soll laut Wirtschaftsministerium auch verhindern, dass Deutschland „strategische Sektoren" der Wirtschaft ans Ausland „verliert" und damit an „Souveränität" einbüßt. Um dieser Gefahr zu begegnen, sollen nationale Großkonzerne, „Champions", geschmiedet werden. Fallweise will der Staat die Übernahme deutscher Firmen durch das Ausland verhindern, auch mit dem Erwerb staatlicher Beteiligungen.

 

Gegen die deutsche Industriestrategie wenden Ökonomen ein, die politische Steuerung von Wertschöpfungsketten führe zu Effizienzverlusten. Doch für das deutsche Ministerium scheint wichtiger, dass diese Ketten unter politischer Kontrolle Deutschlands stehen. Gegen die Schaffung nationaler Großkonzerne wenden Ökonomen ein, derartige Champions seien nicht unbedingt rentabel. Für das Wirtschaftsministerium allerdings zählt hier nur eines: Sie sind deutsch.

 

Alles Ökonomische wird auf einmal zu einer Frage der Nationalität. Zwar gibt es massenweise Banken auf der Welt - doch will die Bundesregierung eine aus Deutscher Bank und Commerzbank fusionierte deutsche Großbank. Zwar ist weltweit effiziente Technologie verfügbar - doch kommt sie nicht aus Deutschland. Zwar existieren Zulieferer für die hiesigen Unternehmen - doch sind sie außerhalb der politischen Kontrolle der Bundesregierung. Zwar wollen viele Investoren sich an deutschen Unternehmen beteiligen - doch haben sie die falsche Nationalität. Das Ausland wird zum Risiko. Zur „Nationalen Industriestrategie" passt daher die Aufstockung des deutschen Militäretats und der Aufbau einer europäischen „Verteidigungsidentität".

 

Mit „Protektionismus" ist die gegenwärtige Lage nicht beschrieben. Keiner Seite geht es darum, die Konkurrenten sich selbst zu überlassen. Sondern darum, sie zu nutzen. Es ist auch keine Rückkehr des ökonomischen Nationalismus, denn der war nie weg. Den freien Welthandel betrieben die ökonomischen Großmächte nie aus Uneigennützigkeit, sondern als Mittel für ihren nationalen Wohlstand. Es scheint, als könnten sie diesen Wohlstand heute nur noch gegen den Widerstand des Auslands sichern und mehren. Die Regierungen sammeln daher ihre Potenzen, um diesen Widerstand notfalls zu brechen. Das ist kriegsträchtig.

 

Heute ringen die Weltmächte nicht mehr nur um Marktanteile und Wettbewerbsfähigkeit, also um ihre Position in der Konkurrenz. Sie kämpfen um die Gestaltung der Konkurrenz selbst, um die Regeln des globalen Geschäftsverkehrs und um ihre Machtposition. Dabei sind sie bereit, Wertschöpfung zu opfern. Um ihre Dominanz zu sichern, stellen die Regierungen der USA und anderer Mächte kurzfristige Profitinteressen zurück und nutzen ihre Wirtschaftskraft so als Waffe. So praktizieren nicht die Weltmarktverlierer, sondern die Weltmarktgewinner eine Globalisierungskritik von rechts - nicht im Namen der Klasse, sondern im Namen der Nation.

 

Von Raul Zelik in der WOZ (Schweiz) Nr. 14/2020 vom 02.04.2020

Die Pandemie bedroht das Leben und die wirtschaftliche Existenz von Millionen – und doch verweist die globale Krise auch auf die Möglichkeit einer besseren Zukunft. Über einen historischen Augenblick extremer Offenheit.

Vergangene Woche, als die Krankenhäuser in Madrid bereits kollabierten, ein Vorort von Barcelona wegen der Covid-19-Pandemie komplett abgeriegelt wurde und die ersten Bilder aus den Notkrankenhäusern in der Lombardei um die Welt gingen, eröffnete der katalanische Autor und Philosoph David Fernàndez seine regelmässige Kolumne in der Tageszeitung «Ara» mit merkwürdig utopischen Zeilen: «Das Wasser in Venedig ist klar. Der Mercat de la Boqueria verwandelt sich wieder in einen Stadtteilmarkt. Hotels in Paris öffnen ihre Pforten für Obdachlose. Das Abschiebegefängnis in der Freihandelszone von Barcelona ist geschlossen worden. Zwangsräumungen sind ausgesetzt. In den Kaufhäusern des Corte Inglés herrscht kein Gedränge. Und was normalerweise Profit erwirtschaften soll, wird – per Dekret – in den Dienst der Öffentlichkeit gestellt.»

 

Nach diesen ersten Sätzen hätte man meinen können, es handle sich um einen dieser Beiträge, die uns gerade die Lage schönzureden versuchen. Doch der Artikel verwies im direkten Anschluss daran auch auf die andere Seite: Strafen und Polizeieinsätze gegen Obdachlose, Reiche, die in ihre Ferienhäuser fliehen, der grassierende Rassismus der sozialen Netzwerke und die Wetten der Hedgefonds gegen überschuldete Staaten. Fernàndez wollte die Lage nicht beschönigen, sondern darauf aufmerksam machen, wie einzigartig die Lage ist: Völlig unvermittelt befinden wir uns in einer Situation extremer Offenheit.

 

Bei vielen Texten, die in diesen Tagen erschienen, hat man sich als LeserIn verwundert die Augen gerieben, weil die AutorInnen nur das zu wiederholen schienen, was sie eigentlich immer sagen. Giorgio Agamben sah den biopolitischen Staat am Werk, der das Instrumentarium des Ausnahmezustands an uns erproben will, Slavoj Zizek kam vom Virus auf Hegel zu sprechen, der deutsche Soziologe Heinz Bude proklamierte die Rückkehr des sozialdemokratischen Nationalstaats, und so mancheR Umweltbewegte flüchtete sich in die alte, jetzt allerdings besonders reaktionäre Floskel: «Sind nicht wir Menschen der eigentliche Virus auf der Erde?»

 

Die Pandemie als Krisenbeschleuniger

 

Aber wäre es nicht viel angemessener, sich darüber zu wundern, was sich innerhalb weniger Tage alles geändert hat? Es hat den Anschein, als würde die schon lange heraufziehende grosse ökologisch-ökonomische Krise durch die Pandemie beschleunigt und verdichtet werden. Auf der einen Seite sind die dystopischsten Szenarien auf einmal konkret. Viele Millionen Menschen sind in ihrer Existenz bedroht, weil kaputtgesparte Gesundheitssysteme sie nicht versorgen können, sie kein Geld mehr verdienen und eine Umverteilung der obszönen Privatvermögen nach wie vor undenkbar erscheint. Die Globalisierung ist abrupt ausgesetzt, die Produktionsketten sind unterbrochen, die Finanzmärkte taumeln am Abgrund. Und was eine militärische Supermacht wie die USA tun wird, wenn die Gesellschaft im Inneren aus den Fugen gerät, möchte man sich lieber nicht weiter ausmalen. In Frankreich patrouillieren Militärs auf den Strassen, und Macron kann das Wort «Krieg» gar nicht oft genug in den Mund nehmen. Im eigentlich links regierten Spanien verkündet der Oberkommandierende der Streitkräfte in einer Pressekonferenz mit den MinisterInnen, die Bevölkerung bestehe jetzt nur noch aus Soldaten, und es gebe kein Wochenende mehr (sic!).

 

All das ist real. Doch wahr ist eben auch das Gegenteil. In vielerlei Hinsicht verweist die Reaktion auf die Pandemie auch auf die Möglichkeit einer besseren Zukunft. Davon, dass sich in allen Städten spontan Solidaritätsnetzwerke gründen, um NachbarInnen zu versorgen, ist in den meisten Zeitungen schon die Rede gewesen. Wieder einmal zeigt sich, dass in Krisenmomenten der erste menschliche Reflex nicht der Hobbes’sche Bürgerkrieg aller gegen alle, sondern die Hilfsbereitschaft ist. Doch auch der staatliche Lockdown hat durchaus etwas Utopisches. Die grössten Einschränkungen des Soziallebens werden verordnet und akzeptiert, um die Schwächsten zu schützen, denn der einzige Zweck der Massnahme besteht darin, die medizinische Versorgung derjenigen zu sichern, die wegen ihres Alters und aufgrund von Vorerkrankungen auf die Intensivstation müssen. «Flatten the curve» ist eben nicht das Recht des Stärkeren, sondern Solidarität, denn in der Sprache des Marktes wären diese Risikogruppen nur ein «Kostenfaktor», und die Reichen könnten sich ihren Platz in der Privatklinik sichern. Die Tatsache, dass sich die Gesellschaft dem Markt verweigert und die Prioritäten – zumindest für ein paar Tage – anders setzt, ist keine Kleinigkeit.

 

Es ist nicht das einzige Zeichen dieser Art. Die von den europäischen Regierungen ergriffenen Notmassnahmen sollen zwar in erster Linie die Konzerne und Banken (oder ihre superreichen EigentümerInnen) retten, aber tragen doch immerhin dazu bei, den neoliberal  domestizierten Vorstellungshorizont wieder zu öffnen. Ideen, die zuvor als sozialistisches Teufelszeug galten, werden unter dem Applaus der Medien innerhalb von 48 Stunden durch die Parlamente gepeitscht. BörsenexpertInnen plädieren für die Verstaatlichung von Unternehmen, um sie vor feindlichen, sprich ausländischen Übernahmen zu schützen. Finanzminister setzen entschlossen die verfassungsrechtlich verankerte Austeritätsdoktrin ausser Kraft. In der EU-Kommission halten viele die europäischen Staatsanleihen, die den vermeintlichen «Verschwenderstaaten» des Südens bisher immer verweigert wurden, auf einmal doch für eine mögliche Option. In den USA wird «Helikoptergeld» verteilt – was die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens in ganz anderem Licht erscheinen lässt. In Frankreich werden notleidenden KleinunternehmerInnen per Präsidialdekret Mieten, Strom- und Wasserzahlungen erlassen, was schon allein deshalb erstaunlich ist, weil die Politik doch angeblich gar keine Handhabe bei Privatverträgen hat, und Grossunternehmen und HackerInnen kooperieren bei Experimenten der Industriekonversion: Automobilzulieferer sollen auf die Fertigung von Medizingeräten umstellen, weil die Beatmungsgeräte nicht ausreichen. Zumindest für einen Augenblick ist die bedürfnisorientierte, demokratische Planung der Wirtschaft, die den Kern jedes sozialistischen Projekts ausmacht, eine reale Option.

 

Plötzlich werden die Klimazeile erreicht

 

Auch vieles von dem, was aus klimapolitischen Gründen zwingend notwendig wäre und seit langem gefordert wird, ist plötzlich Realität. Flugzeugflotten bleiben auf dem Boden, Kreuzfahrtschiffe dürfen nicht mehr ablegen, der völlig überdrehte Massentourismus, der Millionen Menschen zum Biertrinken an Orte befördert, an denen es dank der Tourismusindustrie genauso aussieht wie zu Hause, kommt zum Erliegen. Satellitenbilder zeigen, dass die Luftverschmutzung nicht nur in China, sondern auch in Norditalien innerhalb weniger Tage dramatisch zurückgegangen ist. Und in Deutschland werden die klimapolitischen Ziele für 2020 – eine Verringerung der Treibhausgasemissionen um vierzig Prozent gegenüber dem Jahr 1990 – jetzt mit Sicherheit erreicht.

 

Das alles sind natürlich trotzdem keine guten Nachrichten, denn die Covid-19-Pandemie bringt Millionen Menschen fürchterliches Leid. In Teilen Südeuropas ist es schon jetzt so, dass Menschen über 65 auf den Intensivstationen nicht mehr versorgt werden. Die Alten sterben allein und verlassen. Und auch wenn die Pandemie global ist, unterscheidet sie sehr genau zwischen Nationen und Klassen: In Deutschland stehen umgerechnet auf die Bevölkerung vier mal so viele Plätze auf der Intensivstation zur Verfügung wie in Spanien, das im internationalen Vergleich immer noch unvergleichlich viel besser dasteht als die Länder des Globalen Südens. Wer in einer Villa in Hamburg-Blankenese oder Wollerau wohnt, kann Homeoffice im Garten machen und die Entschleunigung geniessen, während die in Wohncontainer eingesperrten Geflüchteten oder die alleinerziehende Mutter mit dem Kind in der dunklen Eineinhalbzimmerwohnung wahrscheinlich gerade durchdrehen.

 

Nichts ist gut, und doch sollten wir erkennen, in welchem Moment wir uns befinden: Die kapitalistische Globalisierung ist für einen Moment ausgesetzt. Es ist, als hätte jemand abrupt die Bremse gezogen, und unweigerlich fällt einem der düstere Satz Walter Benjamins ein: «Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders, vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.» Dass dieser Moment des Stillstands schön oder heiter sein würde, hat niemand behauptet. Aber immerhin zwingt er uns, darüber nachzudenken, was wir eigentlich machen, und zumindest drei Dinge könnten wir erkennen: Erstens, dass das Hamsterrad, in dem wir eingesperrt sind, sehr wohl angehalten werden kann. Was jetzt gefährdet ist, ist nicht die Grundversorgung mit dem Lebensnotwendigen – Wohnung, Strom, Medikamenten, Nahrungsmitteln und so weiter –, die offenbar auch dann noch relativ stabil weiterläuft, wenn grosse Teile der Wirtschaft zum Erliegen gekommen sind. Wer am Rand des Abgrunds taumelt und uns mit hinabzureissen droht, sind die Konzerne, Fonds und Banken, die unablässig ihren Wert vermehren müssen. Das, was gemeinhin als «die Wirtschaft» bezeichnet wird, hat also offenbar gar nicht so viel mit Bedarfen und Bedürfnissen zu tun. Wir leisten uns eine Ökonomie, die sich nicht an den Grundlagen des Lebens, sondern an der Wertschöpfung orientiert.

 

Zweitens erleben wir parallel zur Renaissance von Grenzschliessung und Nationalismus die reale Verbindung unter uns Menschen. Ein Virus, das sich von Körper zu Körper reproduziert, hat sich innerhalb weniger Wochen durch Körper auf dem ganzen Planeten gearbeitet. Das ist unsere reale Distanz zu einer Fabrikarbeiterin in Wuhan: Jene Sequenz Ribonukleinsäure, gegen die ihr Körper noch vor drei Wochen kämpfte, hat nun uns erreicht – nur ein paar Handschläge und Umarmungen weiter.

 

Das dritte allerdings scheint mir das Wichtigste: Schlagartig wird uns bewusst, dass es am Ende immer nur um das Leben geht und jede gesellschaftliche und ökonomische Ordnung eingebettet bleibt in ein «Netz des Lebens», wie es der marxistische Umweltökonom Jason W. Moore genannt hat. Für dieses Netz, das wir niemals völlig kontrollieren werden, tragen wir Sorge – weil es die Grundlage unseres Daseins ist. Wie wäre es, wenn wir unsere Gesellschaft auch dementsprechend organisierten?

 

Die entscheidenden Fragen

 

Es gibt unzählige Gründe, sich Sorgen zu machen. Die Schliessung der Grenzen wird die Konkurrenz befeuern, die Unterbrechung der transnationalen Wertschöpfungsketten die Herausbildung von Regionalblöcken verstärken, die dann schon bald auch militärisch um Rohstoffe kämpfen dürften, und es droht die grösste Wirtschaftskrise der Geschichte. In unserer Nachbarschaft erleben wir, wie Menschen Psychosen entwickeln. Wir beobachten Hamsterkäufe, die – wenn sich der drollige Klopapierfetischismus einmal gelegt hat – schon bald schlimme Konsequenzen haben können. Aber da ist eben auch das Gegenteil: GesundheitsarbeiterInnen, die alles geben, obwohl sie Gefahr  laufen, sich selbst anzustecken und zu sterben; Menschen, die sich zum Spielen und Musizieren auf dem Balkon verabreden; bürgerliche PolitikerInnen, die auf einmal die Verteidigung einer öffentlichen und unentgeltlichen Grundversorgung als Priorität für sich entdecken. Eine ganze Gesellschaft scheint für ein paar Tage den Feminismus und die Sorge umeinander für sich entdeckt zu haben.

 

Wenn es einen Lichtblick gibt, dann sind es die von der Pandemie aufgeworfenen Fragen: Wenn öffentliche Infrastrukturen wie das Gesundheitswesen offenbar die Grundlage unseres Lebens herstellen, warum stehen sie dann nicht im Mittelpunkt jeder ökonomischen Theorie? Wenn Krankenpflegerinnen, Kassierer und TransportarbeiterInnen «systemrelevant» sind, weshalb werden sie dann nicht entsprechend bezahlt? Weshalb halten wir Marktgesellschaften für etwas Gutes, wenn doch der Markt in jeder schwierigen Situation Panikkäufe und Warenknappheit produziert? Warum werden die Börsen, die sich auch diesmal wieder einmal als tickende Zeitbomben erwiesen haben, nicht endlich geschlossen oder zumindest radikal reglementiert? Weshalb ist es normal, dass wir mit Milliarden Euro Steuergeldern Grosskonzerne retten, aber undenkbar, dass wir dann auch demokratisch darüber entscheiden, was, wo und unter welchen Bedingungen diese Unternehmen produzieren? Und warum treiben wir in einer Zeit, in der sich immer mehr Krisen nur global lösen lassen – für den Klimawandel gilt das ja genauso wie für Pandemien –, nicht viel entschlossener den Aufbau globaler Strukturen voran?

 

Die Krise wirft zentrale Fragen auf und lässt die notwendigen Lösungen aufblitzen. Eine Maschine, die nicht der Bewahrung des Lebens, sondern der unbegrenzten Vermehrung des Werts verpflichtet ist, ist zum Stehen gekommen, und nur solidarisch und uns umeinander sorgend werden wir die Situation überstehen.

 

Die Philosophin Marina Garcés, ebenfalls aus Barcelona, weigerte sich im katalanischen Fernsehen dieser Tage, die ganz grossen Fragen zu stellen und zu beantworten. Aber auf die Frage des Moderators, ob wir uns jetzt nicht unserer menschlichen Verletzlichkeit bewusst würden, antwortete sie, die Situation führe uns weniger die menschliche Fragilität als die des Systems vor Augen. Die prekär Beschäftigten, Alleinerziehenden, Kranken und Alten seien sich ihrer Verletzlichkeit eigentlich immer bewusst, doch normalerweise seien das individuelle Probleme. Jetzt hingegen würden wir diese Erfahrung kollektiv und gleichzeitig teilen.

 

Die Pandemie ist ein Scheideweg – entweder wir entscheiden uns für ein Projekt des Lebens und der Sorge umeinander oder für eines der beschleunigten gesellschaftlichen Zerstörung.