Ein paar Nachgedanken zum Workshop und zu unserer Sitzung am 05.03.2019

Nach zweistündigem Gedankenaustausch fahre ich wie wahrscheinlich jede/r von uns zumeist nachdenklich nach Hause. Anders als in unserer TTIP/ CETA – Anfangszeit sind un­sere Treffen in den vergangenen Monaten bestimmt von sehr unterschiedlichen Mein­ungsäußerungen und teils auch gegensätzlichen Positionen zu einer manchmal schwer zu überblickenden Vielzahl von Themen. Unterwegs denke ich dann: Phhhh, wieder haben die Diskussionen in mir Gedanken geweckt, die ich gar nicht loswerden konnte. Und jetzt - aber eben leider erst im Nachhinein - sehe ich auch vieles klarer. Was natürlich eine Täuschung sein mag... doch wie auch immer, Täuschung hin oder her, sie brachte mich dazu, tags darauf während einer langen Zugfahrt (einmal Berlin und retour) ein paar dieser Nachgedanken aufzuschreiben.

 

Das System und die Nische

Da ist also diese bittere Erkenntnis, uns allen nicht ganz neu, doch von Gert bei unserem let­zten Treffen (zu Recht!) noch einmal mit Nachdruck vorgetragen: ES, das System (kapitalis­tisch, neoliberal, mit basaler Konstante Entfremdung) hält uns gefangen.

Dagegen ist das, was sich in Nischen der Gesellschaft ausbildet wie z.B. auch in diversen Versuchen, Elemente einer solidarischen Lebensweise zu realisieren, wohl im Einzelnen zu begrüßen, aufs Ganze gesehen aber ohnmächtig.

Und nicht nur das: In vergangenen Sitzungen wurde mehrfach auf die Gefahr verwiesen, dass in solchen Initiativen über dem Engagement für das konkrete Handlungsziel der bestim­mende sozioökonomische Hintergrund aus dem Blick gerät. Stichwort: “Alles schön und gut, aber ohne Systemwechsel geht es nicht.” Wird das vergessen und stattdessen nur mehr oder minder blauäugig das jeweilige Nischenprojekt verfolgt, dann bleiben trotz aller Anstrengung am Ende das kapitalistische Wirtschaftssystem und mit ihm die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse unberührt.

Belege hierfür bot, so hieß es, der nur wenige Tage zurückliegende Workshop, in dem es um mögliche Wege von der imperialen zur solidarischen Lebensweise ging. Junge .... TeilnehmerInnen hätten zum Teil trotz offensichtlich vorhandener Bereitschaft zu gesellschaft­skritischem Engagement erhebliche Wissensdefizite (“ Industrie 4.0... - Was ist das denn?”) und auch ein beträchtliches Maß an Realitätsferne offenbart (“Am besten gleich alle Autos ab­schaffen!”).

Auch mir fallt es nicht schwer, die angesprochene Gefahr zu erkennen. Mit einem Engage­ment, das nur in einem kleinen Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit nach Veränderung strebt, kann eine Verkennung der Realitäten leicht einhergehen – nicht zuletzt auch über der Hitzigkeit des Engagements. Aber kennen wir alle nicht ebenso viele Beispiele, wo das nicht der Fall ist? Und müssen wir unseren Blick nicht primär hierauf richten? Mir fällt zuerst, die große unteilbar-Demo in Berlin vom Oktober letzten Jahres ein. Etwa eine Viertelmillion Men­schen, aktiv in denkbar unterschiedlichsten Initiativen und Vereinen, haben für eine soli­darische Gesellschaft demonstriert - sind aus ihren “Nischen” hervorgekommen und haben gemeinsam agiert.

Vielleicht müssen wir in diesem Zusammenhang auch selbstkritisch einräumen, dass unsere Fähigkeit, die aktuell herrschende gesellschaftspolitische Situation zu analysieren und kritisch zu beleuchten, stark ausgeprägt ist, wogegen unsere Neigung und Bereitschaft zum en­gagierten Handeln dem ein wenig hinterherhinkt. Das um den Tisch versammelte vielhun­dertjährige Lebensalter spielt dabei wohl eine nicht geringe Rolle. Umso wünschenswerter finde ich deshalb, dass es schon bald zu dem während des Workshops angesprochenen Aus­tausch mit der Initiativgruppe des Studiengangs Transformationsstudien kommt.

 

Meine Frontlines

Im Workshop ging es um mögliche Wege von der imperialen zur solidarischen Lebensweise. Dabei vernahmen wir, ein erster Schritt auf diesem Wege könne die Bestimmung der je eige­nen Frontlines sein.

Zur Erklärung für die, die nicht dabei waren und bei denen das dem Workshop zugrun­deliegende Buch “Das gute Leben für alle” nicht im Regal steht (Infobox, S. 81):

Meine Frontlines liegen dort, wo mein unmittelbares Umfeld und ich selbst negativ von der im­perialen Lebensweise betroffen bin. An diese Bestimmung meiner Frontline schließen sich im besten Fall zwei weitere Schritte an: Wo und wie kann ich mich politisch organisieren, um an dem erkannten Missstand etwas zu verändern? Und (raus aus der Nische!): Wie können wir uns mit anderen Frontlines zusammenschließen, um die sozial-ökologische Transformation voranzutreiben?

Bevor ich darangehe, mir meine Frontlines zu vergegenwärtigen, erinnere ich noch einmal an Jörns Einwurf in unserer letzten Sitzung. Er bekannte, auch und gerade nach seiner Teil­nahme am Workshop sei ihm noch einmal deutlich geworden, das von so vielen Seiten ge­priesene Konzept der imperialen Lebensweise bringe für ihn im Grunde nichts Neues. Es wiederhole, so habe ich Jörns Kritik verstanden, doch nur die inzwischen sattsam bekannte Kritik eines neoliberalen Kapitalismus und seiner desaströsen Folgen (Jörn, vielleicht kannst Du Deinen grundsätzlichen Einwand, falls ich ihn hier allzu verkürzt wiedergebe, beim näch­sten Treffen noch einmal detaillierter begründen!?). - Angeregt durch Jörns Einwand habe ich mich jedenfalls gefragt, worin für mich das Neue liegt, wodurch das Erklärungsmodell der im­perialen Lebensweise mich überzeugt.

Es ist die enge, offenbar unauflösliche Verzahnung des Allgemeinen mit dem Besonderen, wie Brand/ Wissen sie in ihrer Analyse beschreiben. Auf der einen Seite das System (s. oben), dessen Strukturen durchweg darauf abzielen, die mit den imperialen Lebens- und Pro­duktionsbedingungen einhergehenden Macht- und Eigentumsverhältnisse zu stabilisieren, auf der anderen Seite das Individuum, also ich, in dessen Körper und Verstand sich die imperiale Lebensweise tief eingeschrieben hat (Brand/Wissen, S.169). - Was bedeutet das konkret? Ich lerne, den globalen Zusammenhang der Herrschaft und Ausbeutung von Natur und Mensch besser zu verstehen, und kann mich entsprechend politisch engagieren. Zugleich erkenne ich, wie sehr ich selbst mit meiner alltäglichen Lebenspraxis in diesen Gesamtzusammen­hang einbezogen bin. Ich trage Mitschuld und entsprechende Verantwortung dafür, in meinem Verhalten und in meinem Lebensumfeld etwas zu verändern. Naiv und letztlich verlogen ist die verbreitete Behauptung, primär müsse der Einzelne sein Verhalten ändern, denn nur durch diese Veränderung im Kleinen könne man auf die ersehnte Umkehr im globalen Maßstab hoffen.

Aber - und das ist es, worauf es mir ankommt - und was sich m. E. aus der Analyse der impe­rialen Lebensweise ableiten lasst: Jeder und jede Einzelne von uns trägt Verantwortung für sein/ ihr Verhalten; kein Verweis auf die Dominanz und die Unausweichlichkeit des Systems kann mich von dieser Verantwortung befreien. Gewiss, meine Verhaltensänderung wird weder die Weltrevolution bewirken noch die Rettung des Klimas, aber sie ist trotzdem unverzicht­bar.

Zurück zu den Frontlines: Es gibt zwei, die mir auf den Nägeln brennen, beide sind verbun­den mit der in unserer modernen Gesellschaft so zentralen Größe Mobilität. Als Fahrradfahrer in Flensburg liegt mir meine erste Frontline tagtäglich vor Augen und in Gestalt von desolaten Fahrradwegen, Unmengen von Auspuffgasen, etc. bekomme ich sie auch gesamtkörperlich zu spüren. Der imperiale Charakter von Automobilität, dessen “Nichtthematisierung im Alltag” Brand/ Wissen beklagen (S. 131), ist wie beinahe allerorten so auch in Flensburg überdeut­lich wahrnehmbar – jedenfalls für Fußgänger und Radfahrer (automobile Subjektivitäten, wie Brand/ Wissen sie nennen, sind demgegenüber in ihrer Wahrnehmung wie auch in ihrer dies­bezüglichen Denkfähigkeit unvermeidlich stark eingeschränkt).

 

Falls jemand von Euch eine ähnliche Frontline für sich ausmacht, hier noch ein aktueller Hin­weis auf einen möglichen zweiten Schritt nach Entdeckung derselben:

Am Freitag, den 05. April um 18.30 Uhr findet die nächste Critical Mass Flensburg statt, Tre­ffpunkt ist an der Hafenspitze; nähere Infos unter

http://criticalmassflensburg.blogsport.de/

Fotos von vorhergehenden critical-mass-Fahrten in Flensburg unter:

https://www.flickr.com/photos/89858966@N00/

 

Schließlich meine zweite Frontline, die ich nur deshalb noch anführe, weil mir scheint, an ihrem Verlauf zeigt sich das Verhältnis von übermächtigem System in Gestalt einer geradezu wahnsinnig ausgebauten Infrastruktur und dem in der Relation scheinbar bedeutungslosen Verhalten des Einzelnen besonders eindringlich. Diese Frontlinie zieht sich über unsere Köpfe und hat zur Folge, dass es über Flensburg keinen blauen Himmel mehr gibt. An einem schö­nen Sommermorgen zählte ich im letzten Jahr gleichzeitig 15 Kondensstreifen, die in unter­schiedlichen Stadien der Auflösung begriffen waren. Einige noch dünn und trügerisch schön, manche breit auseinander gezogen und wieder andere schon übergegangen in die Gestalt von (künstlichen) Cirrus-Wolken – am Ende jedenfalls bleibt kein Himmelsblau mehr, sondern nur noch ein milchiges Blauweiß. Ein Schau- oder Trauerspiel, das täglich beinahe stündlich stattfindet, aber nur bei (weitgehend) wolkenlosem Himmel und entsprechender Lichtein­strahlung zu beobachten ist.

(Wer Genaueres wissen will über die Entstehung künstlicher Wolken aus Kondensstreifen und warum diese Streifen das Klima noch stärker erwärmen als das von Flugzeugen aus­gestoßene Treibhausgas CO2, kann es hier nachlesen:

https://weather.com/de-DE/wissen/wetterlexikon/news/kondensstreifen-so-entstehen-die-kunstlichen-wolken )

Flug- und Autoverkehr, beide sind zentral für Durchsetzung und Stabilisierung der imperialen Lebensweise. Symptomatisch ist, dass dabei dem Fliegen die weitaus bedeutenderen Wachstumsraten prognostiziert werden: Von 2016 bis 2035 wird sich nach Voraussagen der Internationalen Luftverkehrsvereinigung der weltweite Flugverkehr ungefähr verdoppeln. Eine Prognose, der man Glauben schenken darf, wenn man weiß, dass aktuell auf unserem Plan­eten 400 neue Flughäfen im Bau sind sowie über 300 neue Pisten oder Pistenerweiterungen (Zahlen n. Becker, Siemons und Tobias Kalt und Jonas Lage/ unsere beiden Workshopleiter, Einfach mal am Boden bleiben? - in analyse und kritik, zeitung für linke Debatte und Praxis, 11.12.2018).

Das Fliegen ist heute für viele Menschen zum Inbegriff des modernen (“weltoffenen”) Lebens geworden. Dass das so ist, liegt gewiss im Interesse einer Vielzahl mächtiger Indus­triekonzerne, die denn auch viel dafür tun, diesen Nimbus des eleganten, bequemen und su­perschnellen Reisens zumindest in Teilen noch zu erhalten. Tatsächlich haben natürlich die Billigflieger längst die Oberhand gewonnen. Mit ihnen wurden Flugreisen auf breitester Front vor allem eines: skandalös billig.

Meine Frage wiederum mit Blick auf das Verhältnis zwischen dem weltumspannenden Sys­tem und dem kleinen Mikroteilchen, das ich bin, ist also: Was bringt der bewusste Verzicht auf Flugreisen? Auch hier gilt: Individuelle Verhaltensänderungen können keine gesellschaftlichen Probleme lösen, ABER sie sind, wie ich finde, eine unerlässliche Voraussetzung dafür, dass die existentielle Bedeutung des Problems sichtbar wird. In Skandinavien scheint es eine zarte Bewegung hin zu einer solchen Bewusstwerdung zu geben, doch ich frage mich, wie viele Jahre es noch dauern wird, bis das Wort “Flugscham” nach schwedischem Beispiel auch Ein­gang findet in den deutschen Duden.

Unsere Autoren vom I.L.A. Kollektiv bringen die Zweischneidigkeit so auf den Punkt:

Aber die Skandalisierung des Fliegens kann die gesellschaftliche Normalität einer hypermo­bilen Lebensweise infrage stellen und ihre imperialen Voraussetzungen sichtbar machen. Dies darf allerdings nicht auf individueller Ebene verhaftet bleiben, sondern sollte zur Poli­tisierung beitragen und einen Einstiegspunkt darstellen, die Infrastrukturen und die Institutio­nen des imperialen Fliegens zu verändern.” (s. oben “Einfach mal am Boden bleiben?”)

 

Apropos Politisierung:

Am Freitag dieser Woche um 10.00 Uhr wiederum an der Hafenspitze:

FridaysForFuture!

An diesem Tag der erste, man kann mit Recht sagen, weltweite Schulstreik der Geschichte. Kinder und Jugendliche in 80 Ländern sind dabei, in Deutschland an mehr als 200 Orten. Auch ich werde mit Überzeugung und Neugier hingehen, denn Frontlines verbinden Generationen…

 

Günter, 13.03.19

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