Um das Eigentum endlich wieder dem Gemeinwohl zu verpflichten, brauchen wir neue, klare Regeln. Ideen dafür gibt es genug. 

FR, 27.07.2016 - Der Gastbeitrag.

Von Christian Felber

 

Bis zu 15 Milliarden US-Dollar für Manipulation und Betrug. Es wäre auch billiger gegangen, wenn Volkswagen Ehrlichkeit, Transparenz, Nachhaltigkeit und andere Werte konsequent zum Unternehmensziel gemacht hätte. Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein für börsennotierte Firmen,und prinzipiell für alle juristischen Personen: Sie verdanken ihre Existenz dem demokratischen Rechtsstaat und sollten deshalb ethische Ziele verfolgen müssen.

 

„Eigentum verpflichtet“, steht im Grundgesetz, und „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen“. Jedes Unternehmen ist gemeint, egal ob in privatem, öffentlichem oder kollektivem Eigentum. Doch wie wird dieser grundgesetzliche Wille überprüft und wie, je nach Erfüllungsgrad, positiv oder negativ sanktioniert?

 

Was liegt näher, als dass Unternehmen neben der Finanzbilanz, die den Mittel-Erfolg misst, eine Gemeinwohl-Bilanz erstellen, die den Ziel- und Werte-Erfolg misst? „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl“, steht zum Beispiel in der bayerischen Verfassung. Das Ziel ist klar, doch wie wird seine Erreichung gemessen, um zu wissen, wie erfolgreich ein Unternehmen tatsächlich ist?

 

Die Gemeinwohl-Bilanz wird seit fünf Jahren entwickelt und wurde bisher von 400 Unternehmen freiwillig angewandt. Sie misst, in welchem Grad ein Unternehmen die Verfassungswerte Menschenwürde, Gerechtigkeit, Solidarität, Nachhaltigkeit, Transparenz und Mitentscheidung lebt. Je höher das Punkteergebnis (maximal 1000 Gemeinwohl-Punkte), desto niedriger, so die Idee, sollen Gewinnsteuern, Zölle und Kreditzinsen sein, und die vorbildlichen Unternehmen sollen Vorrang beim öffentlichen Einkauf oder bei Forschungsprojekten erhalten.

 

In der Folge würden ethische Unternehmen ihre Produkte und Dienstleistungen preisgünstiger anbieten können als die unehrlichere, unkooperativere, unnachhaltigere und verantwortungslosere Konkurrenz. Täuschen, Manipulieren, Tricksen, Übervorteilen, Attackieren und Fressen würde unrentabel. Biolandbau würde sich gegen Agroindustrie durchsetzen, erneuerbare Energieträger gegen fossile und nukleare Technologien, ethische Banken gegen Finanzcasino und nachhaltige Mobilitätsanbieter gegen SUV-Hersteller. Aus der kapitalistischen Marktwirtschaft, in der Kostendrücker und Profitmaximierer einen Wettbewerbsvorteil haben, würde eine ethische Marktwirtschaft, in der Unternehmen nur noch dann erfolgreich sein können, wenn sie gleichzeitig die Gesellschaft reicher machen – materiell und immateriell.

 

Bisher überwog bei Regierungen und Parlamenten die Ansicht, dass „ethisches Verhalten“ eine Sache der Freiwilligkeit sei oder nicht definiert werden könne – als würde nicht jedes einzelne Gesetz einen Wert schützen und somit ethisch wirken. Doch die bisherigen Nachhaltigkeitsberichte haben den Kapitalismus nicht einhegen können, oft verkamen sie zu Instrumenten des Greenwashings und Windowdressings. Auch deshalb beschlossen das Europäische Parlament und der Europäische Rat im Dezember 2014 eine Richtlinie über „nichtfinanzielle Berichterstattung“, die bis Ende dieses Jahres in nationales Recht umgesetzt werden muss.

 

Die nationalen Parlamente haben nun drei große Chancen, das Gemeinwohl in der Wirtschaft zu fördern, denn das Bilanzrecht liegt in ihrer Kompetenz. Sie können entscheiden, ob a) die nichtfinanziellen Berichte in den Geschäftsbericht aufgenommen werden müssen, ob sie b) von den Wirtschaftsprüfern oder anderen Zertifizierern geprüft werden müssen und c) ob sie Rechtsfolgen haben.

 

Der juristische Elfmeter für das Gemeinwohl ist aufgelegt. Doch die Lobbies versuchen, die Richtlinie im maximalen Ausmaß zu verwässern. Sie wollen erreichen, dass nur sehr große Unternehmen ab 500 Beschäftigten – warum nicht alle finanzbilanzpflichtigen Unternehmen? – einen Nachhaltigkeitsbericht verfassen und über soziale und ökologische Praktiken, Diversitäts- und Antikorruptionsmaßnahmen informieren müssen. Das ist mehr als nichts. Doch wenn diese Berichte ohne Bezug zum gesetzlichen Geschäftsbericht stehen, nicht geprüft werden und folgenlos bleiben, dann bringt die EU-Richtlinie keinen bedeutenden Fortschritt.

 

Noch besteht die Möglichkeit, sie mit Leben und Wirkung zu füllen. Der Gesetzgeber könnte entscheiden, dass die Berichte messbar und vergleichbar sein müssen und das Ethik-Bilanzergebnis auf allen Produkten, Eingangstüren, Katalogen und Webseiten aufscheinen muss. So könnten zum einen die Konsumentinnen und Konsumenten die gesamte ethische Information abrufen, zum Beispiel via QR-Code. Zum anderen könnte der Bundestag hohe ethische Leistungen mit rechtlichen Anreizen belohnen. Wenn bei der Kreditvergabe, in der öffentlichen Beschaffung und bei der Auswahl der Zulieferbetriebe stets zuerst die Frage nach der Gemeinwohl-Bilanz und deren Ergebnis gestellt wird, nimmt die Marktwirtschaft als Ganze Kurs aufs Gemeinwohl.

 

Das sich abzeichnende Scheitern der TTIP-Verhandlungen bietet eine weitere Chance: Die Erstellung einer Gemeinwohl-Bilanz könnte zur Eintrittskarte für den Ethischen EU-Binnenmarkt erklärt werden, ganz gleich, aus welchem Land die Unternehmen stammen, die Marktzugang wünschen. Je besser das Ergebnis, desto leichter der Zugang. Das wäre das Ende des globalen Lohn-, Sozial-, Umwelt- und Steuerdumpings. Aus einer solchen EU würde vermutlich niemand mehr austreten.

 

Christian Felber unterrichtet an der Wirtschaftsuniversität Wien und ist Initiator des Projekts Gemeinwohl-Ökonomie, von ihm stammt das Buch "Ethischer Welthandel. Alternativen zu TTIP, WTO & Co"  Deuticke Verlag, 224 Seiten, 18 Euro.